Auf den Spuren meiner Jugend

werman

Mitglied
„Wenn wir dann alle mal erwachsen sind und Kinder haben, werden wir immer noch genau hier sitzen, alle zusammen und daneben werden unsere Kinder spielen“. Alle stimmten lächelnd zu, das war das Leben, das sie anstrebten, doch ich wusste schon immer, dass mir das nicht reichen würde. Ich wollte mehr von der Welt sehen als mein zehntausend Einwohner zählendes Heimatdorf, in dem jeder jeden kannte. Und obwohl ich die Leute liebte, mit denen ich aufwuchs, musste ich weg. Und das tat ich auch.

Ich ließ meine Gedanken schweifen, als ich über den fünfspurigen Highway hinwegglitt. Ich liebte es, nachts zu fahren, wenn die von tausenden Lichtern erleuchtete Stadt hinter den Autofenstern verschwamm. Das Schild vor mir auf der Straße war mit einem Flugzeug-Symbol versehen, ich würde morgen das erste Mal nach Hause zurückkehren, seit ich eines Tages meine Koffer gepackt hatte und einfach gegangen war. Ich hatte keinen Grund meine Entscheidung zu bereuen, denn das Schicksal meinte es gut mit dem ausgeflogenen Vogel, der es nicht mehr in seinem Nest aushielt. Der Traum des freien Lebens als kreativ Schaffender hatte sich weitgehend erfüllt, ich veröffentlichte bereits zwei Bücher und begann nun langsam auch ins Filmbusiness einzusteigen. Doch war ich in dieser Zeit noch derselbe geblieben, der einfache Junge aus dem zehntausend Einwohner zählenden Dorf, in dem jeder jeden kannte? Mit einem mulmigen Gefühl betrat ich das Flugzeug und begann die Reise auf den Spuren meiner Jugend oder gar auf den Spuren meiner selbst.

„Wie geht es dir? Wir haben dich so vermisst! Ist es dir nicht zu kalt nur in deinem T-Shirt? Wir sind hier nicht mehr in Kalifornien.“ Meine Eltern begrüßten mich überschwänglich, als sie mich am Flughafen abholten. Ich freute mich sehr sie zu sehen, alles war wie früher und ich hatte ein gutes Gefühl, als wir nach Hause fuhren. Als wir auf dem Parkplatz vor dem Haus anhielten und ausstiegen, erspähte ich eine bekannte Gestalt, die da die Straße hinunterging, in der einen Hand eine Zigarette und mit der anderen den Kinderwagen stoßend. Erfreut näherte ich mich ihr, doch sie schien mich gar nicht zu bemerken, geschweige denn zu erkennen und lief wortlos an mir vorbei. Ich ging ihr nach und tippte auf ihre Schulter. „Hey Timon, wie geht’s?“, sagte ich lächelnd. Jetzt schien er endlich zu begreifen und sein Gesicht erhellte sich allmählich. „Was machst du denn hier, dich habe ich ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen!“ Wir machten ein bisschen Small Talk und er lud mich ein, etwas zu unternehmen am Abend. „Heute Abend sind wir alle beim alten Schulhaus und machen uns einen schönen Abend, kommst du auch?“ Ich stimmte zu und fragte ihn, ob denn noch alle im Dorf wohnten. „Jeder Einzelne, du bist der Einzige, der uns im Stich ließ, du Verräter“, sagte er breit grinsend.

Ich freute mich, sie alle wiederzusehen und war um Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt als ich mich auf den Weg machte, den Weg, den ich früher so oft gegangen war. Als ich näher kam und die Musik hörte und das Cannabis roch, wusste ich, dass sich nichts verändert hatte, seit ich weg war. Wir begrüßten uns lachend und herzlich und ich gesellte mich in die Runde. „Ihr seid also immer noch alle am kiffen?“, fragte ich verschmitzt. „Natürlich, was hast denn du gedacht?“’, war die einstimmige Antwort, die ich bekam. Als ich jetzt so aus der Nähe ihre Gesichter betrachtete, merkte ich, dass sich doch etwas verändert hatte. Der jugendliche Übermut war aus den Gesichtern gewichen und hatte einem weitaus ernsteren Gesichtsausdruck Platz gemacht. „Und wie läuft es so bei euch, was macht ihr so im Leben?“, fragte ich ehrlich interessiert. „Ach, du weißt schon, ein bisschen arbeiten, ein bisschen kiffen, einfach ein bisschen Spaß haben“, erwiderte Timon. Im Verlauf des Gesprächs erfuhr ich, dass einige von ihnen die Schule abgebrochen hatten und nun einer eher einfacheren Tätigkeit nachgingen. Einige waren wie Timon bereits Väter geworden. Für alle hatte der Ernst des Lebens in einem gewissen Maße begonnen.

„Komm, rauche einen mit uns!“ Ich kiffte eigentlich nicht mehr, doch der Nostalgie ergeben, ließ ich mich hinreißen. Wir kifften und redeten wie früher, doch als sich das Gespräch meinem Leben zuwandte, wurde die Stimmung angespannter. „Verdienst du dir eine goldene Nase dort drüben?“, fragte einer. Ich könne mich nicht beklagen, sagte ich knapp. „Ich habe eines deiner Bücher gelesen“, meinte ein anderer, „du schreibst ja über uns“. Ich erwiderte, dass ich einfach aus meinem Leben schrieb und sie nun einmal ein Teil dieses wären. Doch damit gaben sie sich nicht zufrieden. „Du fühlst dich doch als etwas Besseres, schreibst über uns, als ob wir Abschaum wären und wirst damit auch noch reich“, fauchte Timon. „Wie kannst du so etwas sagen, wir sind doch Freunde“, versuchte ich die Situation noch zu retten, doch es war vergebens. „Kommst zurück, rauchst von unserem Gras, was denkst du eigentlich, wer du bist?“

Der erste Schlag überrumpelte mich komplett. Er traf mich voll auf den Wangenknochen und ich ging zu Boden. Ich versuchte benommen aufzustehen, doch es hatte erst begonnen. Von allen Seiten prasselten Schläge und Tritte auf mich ein und ich lag wehrlos da. Als ich wieder zu mir kam, waren alle weg. Wie ein Häufchen Elend lag ich da in der finsteren Nacht. In der Spiegelung der gläsernen Schulhaustür sah ich, dass sie mir etwas auf die Stirn geschrieben hatten. „JUDAS“ stand da fett und schwarz geschrieben.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo werman, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Dem Judas-Motiv könntest Du noch mehr Raum widmen!


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 
E

eisblume

Gast
Hallo werman,

mir geht das mit dem Umschwung zu schnell. Klar kann eine Stimmung schnell kippen, da reicht oft ein einziges Wort. Aber hier ist es mir zu wenig motiviert.

Timon nennt ihn zwar bei ihrem ersten Treffen einen Verräter, aber das breite Grinsen und die Stimmung in diesem Moment lassen nicht darauf schließen, dass er das wirklich ernst meint. Später begrüßen sich alle herzlich und freuen sich und zack wird der Prota zusammengeschlagen. Es ist schon nachvollziehbar, sollte aber deutlicher herausgearbeitet werden. So geschieht es (mir zu sehr) aus heiterem Himmel.

Ich kann mir gut vorstellen, dass sich das Ganze für dich absolut logisch erschließt, weil du deine Geschichte und deinen Prota kennst. Mir als unbeteiligte Leserin fehlt da aber etwas.

herzlichst
eisblume
 

werman

Mitglied
Hallo eisblume,
Danke für die konstruktive und völlig gerechtfertigte Kritik. Da der Text ursprünglich in der Schule unter Zeitdruck entstand, ist er nicht wirklich ausgereift.
LG werman
 



 
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