Auf der Brücke

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monti

Mitglied
Auf der Brücke

Nur wenige Menschen kamen auf die Brücke. Sie führte über Eisenbahngleise in einen Wald. Jeden Sonntagabend, wenn niemand mehr kam, stand ich dort und sah die Züge vorbeifahren. Schon als Kind liebte ich es, Zügen, aber auch Schiffen und Flugzeugen nachzublicken. An ihnen haftete der Hauch glücklicher Ferne. Ich beugte mich übers Geländer und schaute hinunter. Wenn die rotglühende Sonne hinter den Bergen versank, glänzten auf dunklem Schotter die Schienen, zwei Linien, die sich näher kamen, je weiter sie sich entfernten. Sobald ein Zug zu hören war, wurde ich unruhig. Die Augen aufreißend, lehnte ich mich weit vor. Dann sah ich die Lokomotive, wie sie heranbrauste, kraftvoll, stur, überlegen, und ich spürte den Wunsch, im Zug zu sitzen, beneidete all jene, die da mitfahren durften, wohin auch immer. Das Blut hämmerte in den Schläfen, und gleichzeitig machte sich ein schmerzhaftes Ziehen in der Herzgegend bemerkbar. Gebannt verfolgte ich, wie die Lokomotive mit Gebrüll unter der Brücke verschwand und die Waggons mit tosendem Geratter und Geklapper folgten. Danach rannte ich auf die andere Seite der Brücke und sah den zwei roten Schlusslichtern nach, bis sie hinter der Biegung verschwunden waren. Es fuhren viele Züge auf dieser einspurigen Strecke, Personen- und Güterzüge. Manchmal zählte ich die Waggons, um das Fernweh zu lindern. Bis Mitternacht blieb ich auf der Brücke. Dann trottete ich heimwärts. Meine Stimmung sank. Wenn ich in der kleinen Dachkammer, in der ich seit dem Tode meiner Mutter lebte, im Bett lag, war ich untröstlich. Ich wusste, es tat mir nicht gut, den Zügen nachzublicken; aber ich wusste auch, am Sonntagabend würde ich es wieder tun.
Eines Tages erschien ein Fremder auf der Brücke, blieb stehen und schaute hinunter, allerdings auf der anderen Seite, dort, wo der Zug herauskommen würde. Zu meinem Erstaunen kletterte er übers Geländer und stand, sich rücklings mit den Händen daran haltend, nur noch mit den Hacken auf der Brücke, bereit zum Sprung.
Die rote Sonne, die mir vorkam wie ein Auge, das sich von der Welt abwendet, war zur Hälfte hinter den Bergen verschwunden. In der Ferne hörte ich einen Zug heranrollen, das Geräusch deutete auf einen Güterzug mit flachen Waggons, auf denen vermutlich Baumstämme lagen. Würde der Mann springen? Ich lehnte mich mit dem Rücken ans Geländer und wartete. Während der Zug ratternd unter der Brücke hindurchbrauste, ließ ich den Mann nicht aus den Augen. Er war groß, dünn, hatte einen kantigen Schädel und graues Haar, das über der Stirn bürstenartig in die Luft stach. Er trug dunkle Hosen und ein verstaubtes schwarzes Jackett. Der Zug verschwand hinter der Biegung. Nun war es zu spät zum Springen; der Fremde kletterte zurück auf die sichere Seite des Geländers.
Ich rührte mich nicht. Er warf einen Blick in meine Richtung, verharrte einen Moment reglos, dann wandte er sich ab und ging mit ausgreifenden Schritten fort. Mir fiel auf, dass ihm das Jackett zu eng war. Eigentlich hatte ich das Bedürfnis, ihn zu fragen, warum er sich umbringen wolle. Aber war das nicht egal? Es würden die üblichen Gründe sein, weswegen man sich umbringt. Das ging mich nichts an.
Ich wünschte, er wäre gesprungen.
Zweimal noch begegnete ich dem Fremden am Sonntagabend auf der Brücke. Beide Male dasselbe Bild. Er wollte springen und tat es am Ende doch nicht. Hatte ich mich bei der ersten und zweiten Begegnung noch zurückgehalten, so machte ich bei der nächsten, da er wieder nicht gesprungen war, den Versuch, ein Wort mit ihm zu reden. Den Blick nach unten gerichtet, blieb er vor mir stehen, sah dann irritiert auf, noch immer schweigend. Sein gebräuntes, runzeliges Gesicht verriet mir, daß er einige Jahre älter war als ich, so um die fünfzig. Er trug eine altmodische Nickelbrille, seine Augen waren graublau und weit aufgerissen wie die von Eulen in der Nacht. Das aufgerichtete Haarbüschel über der Stirn wirkte auf mich komisch, reizte zum Lachen.
Warum springen Sie nicht, fragte ich ihn.
Der Fremde spuckte grimmig aus und schoss an mir vorbei. Seltsamer Mensch, dachte ich nur.
Bei unserer nächsten Begegnung war er schon auf der Brücke, als ich kam. Ich kam deswegen später als sonst, weil ich auf dem nahegelegenen Friedhof das Grab meiner Mutter hatte neu bepflanzen müssen. Eine flüchtige Kopfdrehung des Fremden zeigte mir, dass er mich bemerkt hatte. Ich blieb in einiger Entfernung stehen und beobachtete, wie er sprungbereit auf den Zug wartete. Es dämmerte. Über den Bergen leuchteten rote Wolken im Strahlenkranz der versunkenen Sonne. Dann kam der Zug, mit Lichterpaaren, die den kalten Augen eines gefräßigen Reptils glichen. Unruhe packte mich. Der Zug war jetzt ganz nahe; ohne hinzuschauen, konnte ich am Geräusch erkennen, dass es ein Güterzug mit flachen Waggons war, vermutlich hatte er Baumstämme geladen. Der Mann rührte sich nicht. Aber schon im nächsten Moment war er nicht mehr da, ich sah nur noch den Kopf mit dem Haarbüschel verschwinden. Es geschah lautlos, ich hörte im Getöse nicht, wie er aufschlug. Er muss sofort tot gewesen sein. So sehr ich mich anstrengte, ich konnte seinen Körper in der Dunkelheit nicht entdecken. Am nächsten Tag würde man sicherlich auf die blutigen Überreste stoßen.
Aufgewühlt ging ich nach Hause und legte mich in meiner Dachkammer ins Bett. Grübelnd. Immer wieder sah ich den Fremden in seiner zu engen Jacke am Geländer stehen, und dann seinen Kopf, wie er verschwand; er hatte nicht einmal geschrien.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war alles anders. Das Licht, die Luft, sogar der Tee. Ich wusste, dass ich mein Leben nicht mehr weiterführen konnte wie bisher. So verließ ich meine Dachkammer für immer und zog in einen anderen Ort, um neu anzufangen.
 
K

Kasoma

Gast
Hallo Monti,

ganz, ganz toll! Ich mag Deinen Stil sehr. Der Mann ist eindrucksvoll beschrieben. Ja, Du kannst erzählen, schreib Bücher, ich kauf sie mir...

Nur die rhetorische Frage, ob er diesmal springt, würde ich weglassen (vor der letzten Szene), denn sie verdirbt das Folgende ein wenig!

Lieber Gruß von Kasoma
 

knychen

Mitglied
ich seh die geschichte so, daß jemand seine vergangenheit auf die person des unbekannten mannes projiziert und sie durch den sprung an einem seit der kindheit vertrauten platz zurück läßt.
diese assoziation ergab sich allerdings erst durch die letzten sätze und den kurzen hinweis auf das grab der mutter. wenn einen nichts mehr hält, kann man gehen.
gute geschichte.
gruß knychen
 



 
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