Auf in die unbekannte Welt

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leave

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Da stand ich nun, vor mir eine schier unendliche Tiefe, der, wie mir schien, nichts mehr Vergnügen bereiten würde, als mich in sie hinabzuziehen und nie wieder loszulassen. Hinter mir hörte ich das leise, hämische Wispern und Getuschel, das mich nur umso mehr vor dem zittern ließ, was mir bevorstand und gegen das sich alles in mir bis aufs Äußerste sträubte. Gelähmt vor Furcht blickte ich mit klopfendem Herzen und einem vor Angst vollkommen ausgetrockneten Hals geradeaus und versuchte nicht an das zu denken, was für jemanden wie mich vollkommen natürlich sein und dem ich mit freudiger Erwartung entgegen fiebern sollte; bei mir dagegen löste allerdings allein schon der Gedanke daran Schwindelgefühle und Übelkeit aus. Schweißperlen standen mir auf der Stirn und der Kloß in meinem Hals erschwerte mir das Schlucken.
Hinter mir wurde es immer unruhiger, die Stimmen wurden lauter und Genugtuung war im abfälligen Lachen meiner Geschwister zu hören. Schon von Anfang war ich ihr Zielscheibe für Hänseleien gewesen, schwach und wehrlos; nie hatte ich mich mit den anderen gemessen, wie es sonst für diejenigen meiner Art üblich war. Nein, ich war immer still in einer Ecke gesessen und war meinen Gedanken nachgehangen, vor mich hingeträumt, versunken den Himmel betrachtet, den Blättern zugesehen, wie sie im Wind Fangen spielten, und dem regen Treiben um mich herum und unter mir im Wald gelauscht. Während die anderen sich allerlei ausdachten, um sich die Zeit zu vertreiben, im Nest herumtollten und sich spielerische Kämpfe lieferten, beobachtete ich sie dabei lediglich. Eine Melodie vor mich hinsummend hörte ich dem Flüstern des Windes zu und fragte mich währenddessen, wie das Leben der anderen Tiere wohl sein mochte, von deren Existenz ich zwar wusste, aber von denen ich noch kaum je eines tatsächlich zu Gesicht bekommen hatte. Oft malte ich mir auch aus, wie es an den fremden Ort wohl aussehen mochte, von denen mir der Wind, der ständig auf Reisen war, erzählte. Wie lange man wohl brauchte um sie zu erreichen? Sah es dort genauso aus wie hier? Welche Tiere mochten dort wohl leben? Und gab es an diesen Orten auch Vögel so wie wir es waren?
In meinen Fantasien waren es geheimnisvolle Orte mit exotischen, seltsam anmutenden Pflanzen, die nicht immer ungefährlich waren; die Luft war durchdrungen von den eigenartigen Lauten der Tiere, die dort zuhause waren und nur entfernt Ähnlichkeit mit denjenigen besaßen, die im Wald, in dem ich lebte, zu finden waren: wilde Raubkatzen, gefährliche Reptilien und kreischende pelzige Tierchen, die verspielt von Ast zu Ast und Baum zu Baum hüpften und sich so durchs Dickicht bewegten. Überall war Leben, wohin man auch sah raschelte es und allerlei trieb sich zwischen den riesigen Blättern, die den gesamten Waldboden bedeckten, umher oder suchte sich seinen Weg hoch oben in den Wipfeln der mächtigen Bäume. Auch das Flattern und Schlagen von Flügeln war allseits zu hören und in meiner Vorstellung leuchteten die Federn der Vögel, die dort lebten, in den prächtigsten Farben: sattem Grün, strahlendem Blau, intensivem Rot und lachendem Gelb. Anmutig und elegant segelten sie durch die Lüfte und wachsam, stolz und unnahbar schienen sie jedem, der ihnen begegnete.
Obgleich ich nicht wusste, ob es sie denn wirklich gab und ob ihre Erscheinung den majestätischen Gestalten meiner Tagträume glich, so wollte ich doch all diese Orte finden und erforschen und zusammen mit diesen faszinierenden, graziösen Wesen über dem dichten Blätterwerk dieser fremden Welten dahingleiten. Ich wollte mich dort vom selben Wind tragen lassen, der mir hier schon so lange von den Wundern und Schönheiten dieser Orte zuflüsterte; von Orten, zu denen die Reise zwar weit und nicht ohne Hindernisse war, doch am Ziel angelangt würde allein schon der Anblick dort einen verzaubern, den Atem nehmen und jeden augenblicklich jede Mühe und jede Strapaze vergessen lassen.
In eben diesem Moment, in dem ich all dies in meinem inneren Auge vor mir erblickte, spürte ich, wie sich der Wind hob und mir durchs Gefieder fuhr; ich hörte, wie er mir sanft Mut zusprach und mir Kraft gab; ich fühlte, wie sich mein Herzschlag immer mehr beruhigte und lauschte weiter dem Wind, der mir fortwährend aufmunternde Worte vorsang. Zögerlich und langsam, wie in Zeitlupe, begannen sich meine Flügel aus ihrer Starre zu lösen und auszubreiten, bis sie fast waagrecht waren; ich spreizte meine Federn und der Wind fuhr mir noch einmal, diesmal auffordernder, doch trotzdem behutsam durch sie hindurch, und jetzt sprach er mir keine Worte des Mutes mehr zu. Nein, nun erzählte er mir wieder von den fremden Orten, an denen ich mir mehr als alles andere auf der Welt zu sein wünschte, von deren vielfältiger Pracht, und versprach, mir den Weg dorthin zu weisen; ich müsste nur das Vertrauen in mich selbst finden und den Schritt wagen, der mich diesen Welten entgegenbrächte. Ich dachte an diese weit entfernten, wunderschönen und fremden Orte mit den wilden, unbekannten Tieren, die darauf warteten, von mir entdeckt zu werden. Dann an meine Geschwister, die allesamt hinter mir standen, tuschelten, schadenfroh lachten und in deren Augen ich mich gleich vor allen aufs höchste blamieren würde. Ich blickte noch einmal auf die Bäume, Äste und Blätter um mich herum und den Waldboden tief unter mir, der mir eben noch so viel Angst gemacht hatte; Angst, die jetzt von mir abfiel bis nichts mehr von ihr übrig war. Schließlich holte ich tief Luft, schloss fest die Augen und ließ mich in die Arme des Windes gleiten.
 



 
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