Amalia Goldbach
Mitglied
?Für immer
Bleischwer lag sie auf diesem kalten, glatten Betonklotz. Arme und Beine sahen aus, als hätte sie jemand ganz zufällig neben ihrem Körper abgelegt. Anna war gerne hier. Hier war sie so sicher und vollständig wie an keinem anderen Ort. Ohne einen einzigen Gedanken in ihrem Kopf, ohne Aufforderung, ohne Ermutigung sich zu bewegen. Still, regungslos, ganz ruhig vertraute sie dem festen, harten Untergrund. Sie konzentrierte sich einzig und allein darauf zu atmen. Gleichmäßig ein- und ausatmen. Die Gleichmäßigkeit ihrer Atemzüge hielt sie auf dem Boden in Sicherheit. Die einzige Aufgabe, die das Leben an sie stellte. Ein- und Ausatmen. Nichts weiter. Das reichte in diesem Moment. „Kann ich etwas für Sie tun? Suchen sie etwas Bestimmtes?“ Die Frage kam unvermutet von links. Sie war noch nicht vorbereitet. Einen Atemzug zu früh, schon sehr nah. Nur nicht erschrecken, keine unüberlegten Bewegungen, ganz ruhig bleiben. Die andere hatte nichts bemerkt, hatte Anna nicht liegen sehen auf diesem kalten Stein, dessen Liegefläche sich langsam von ihrem Körper erwärmte. „Nein. Nein, vielen Dank. Ich schaue mich nur ein bisschen um. Wenn ich Hilfe benötige, dann melde ich mich.“ Annas Stimme kam von weit her. Als sie sich endlich hörte, war die Verkäuferin schon mit einer anderen Kundin im Gespräch. Lachen. Lautes, beinahe schrilles Lachen. So einfach ist das, wenn man sich bewegen kann.
Für einen Augenblick hielt sie sich an dem Bügel in ihrer Hand fest. Als sie sicher war, die Situation wieder im Griff zu haben, kehrte sie zu den Kleidern und der Idee für heute Abend etwas Neues zu kaufen zurück. Vor einiger Zeit hatte sie die Umlaufbahn ihres Lebens ruckartig verlassen müssen und war auf dem Betonklotz notgelandet. Unter Menschen fühlten sich ihre Glieder immer noch unbeweglich und steif an. Jeder Schritt ein neuer Versuch. Nicht mehr ganz so wacklig wie am Anfang stand sie heute in einem Laden unter fremden Menschen, die jederzeit näher kommen konnten, und suchte nach einem Kleidungsstück, das zu ihr passte. Zu Beginn waren es kleine Zuckungen mit Händen, Armen, Beinen und Füßen. Dann ein Tasten und Suchen bis sie irgendwann aufstand. Eine ganz normale Geschichte tausendmal von vielen Menschen erlebt. Aus zwei Leben wird eins und irgendwann ist dieses eine Leben zu klein für einen gemeinsamen Alltag, eigene Träume und geteilte Pläne. Bis einer die Richtung wechselt und der andere orientierungslos auf einem Betonklotz Halt sucht. Der erste eigene Schritt braucht einen guten Grund. Anna hatte gleich zwei; drei und fünf Jahre alt und sie hatten jedes Recht dieser Welt glücklich zu sein. Unbehelligt und glücklich. Und genau das war der eine Gedanke, den sie fest hielt, damit er ihr half wieder aufzustehen und weiter zu gehen. Kleine Hände in großer Hand. Das Versprechen auf ein unbeschwertes Leben einlösen. Eine geplante Hoffnung. Erst streichholzgroß, dann ein fertiger Mensch. Eine Liebe so unerschütterlich wie der Betonklotz. Augen, die suchen, Hände, die finden.
Langsam schob sie die Bügel von links nach rechts und begutachtete, was darauf angeboten wurde. Sie hatte keine Vorstellung von dem was sie suchte. In ihrer Erinnerung fehlten die Momente, in denen sie das Richtige gefunden hatte. Die Neugier auf das eigene Bild im Spiegel. Manchmal fehlte ihr einfach der Mut hinzusehen ohne die Worte der anderen zu denken. Sie hatte ihre innere Stimme verloren und fand nur noch das Echo alter Sätze. Deswegen konnte Sie am besten unter Wasser atmen. Außerhalb ihres kleinen Familienaquariums blieb ihr immer noch die Luft weg.
Das Leben ist eine Kette von Ereignissen, die passieren, damit wir uns selber entdecken. So einfach war damals Tims Sicht auf die Dinge. Es war weder ein Abschied, noch eine Erklärung. Er hatte nicht auf der Couch neben ihr noch am Tisch ihr gegenüber gesessen. Das wäre zu verbindlich gewesen, zu konkret geworden. Ein Plädoyer für den Freispruch von Pflicht und Verantwortung für etwas, das nicht zu ihm gepasst hatte, gehalten beim Packen einer einzigen Tasche, die ausgereicht hatte, um den Fahrzeugbrief des Sportwagens und ein paar persönliche Dinge mit zunehmen. Mehr hatte er nicht gewollt. Er konnte das Versprechen auf ein unbeschwertes Leben nicht einlösen. Wie hätte er wissen sollen, dass sie ihm Angst machten. Angst jemand anderes zu werden. Angst weniger geliebt zu werden. Angst seine Zeit zu verlieren. Ein Plädoyer für den Mut, Freiheit mittendrin neu zu definieren. Also sammelte Tim seine Zeit so schnell ein, dass kein weiteres Wort dazwischen passte und nahm alle Stunden, Minuten und Sekunden mit an einen anderen Ort. Anna fuhr ans Meer mit der Hoffnung, eine eigene Gegenwart zu finden. Doch als sie dort ankam, lagen vor ihr die Möglichkeiten der Zukunft und hinter ihr stand die Vergangenheit. Beides wollte in diesem Moment Ausschließlichkeit und ließ der Gegenwart keinen Platz. Kleine Hände in großer Hand, das war die Gegenwart. Und sie schuf einen Ort für die Gegenwart ihres neuen Lebens. Ein hocheffizientes Trio verbunden durch eine Liebe, die noch nichts davon ahnte, wie leicht und schwer es sein würde neu zu beginnen.
Anna würde sich später mit Freunden im Theater zu der Vorstellung des jährlichen Tanzfestivals treffen. Wie immer war es ihre Idee den gemeinsamen Abend im Theater zu beginnen. Zuschauen war das was übrig geblieben war, von ihrer Freude an der Verbindung zwischen Musik und Bewegung. Sie ging ins Theater, um sich zu erinnern wie es war, einen Raum zu betreten, der nur mit Musik eingerichtet ist und darauf wartet, dass ihn jemand mit seiner Geschichte füllt. Schwerelose Körper, die sich auf, unter und neben der Musik nieder lassen. Tanzen, ein Dialog zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Das alles ließ Anna wach werden und sie verstand, dass man es selber in der Hand hatte, zwischen Wirklichkeit und Traum eine Verbindung herzustellen. Alltägliche Dinge wie geschwänzte Schulstunden, die Organisation des nächsten Auslandstermins und leere Kühlschränke schrumpften auf das Gegenständliche ihrer Bedeutung zusammen. Alles Überflüssige und Banale löste sich auf, verschwand und überließ den Platz der getanzten Botschaft. Mit einem Mal bewegten sich die Menschen langsamer, bewusster. Anna beobachtete so oft nach einer Vorstellung, wie sie ihre Mäntel abholten und es schien ihr, als ob sie ihre eigenen Bewegungen neu entdeckten. Genau an dieser Stelle passierte es dann: Anna ließ die anderen in ihren Gedanken zurück und holte sie erst wieder ein, wenn der zweite Teil des Abends in dem vereinbarten Lokal begann. Der lebendige, reale Lebensmoment. Der ihnen gemeinsame Geschichten hinterließ. Geteilte Erinnerungen, die für immer blieben.
„Das sieht wirklich gut aus. Du kannst so gehen.“ Sammy wartete nicht auf die Antwort ihrer Mutter. Die Beratung war hiermit beendet. Mit fünfzehn ist der Maßstab für schön oder hässlich das Innenleben des eigenen Kleiderschranks. Und da dieser nichts mit ihrer Mutter zu tun hatte, war dies ein ausreichend klärender Beitrag. Anna und Sammy waren keine Freundinnen. Anna war das wichtig. Sie wollte versorgen, beschützen, zurückholen und das ganz selbstverständlich. Irgendwann waren die kleinen Hände größer geworden und hatten los gelassen. Anna blieb, um ihnen zu helfen, dem Leben die Tür zu öffnen. Auch wenn ein Sturm sie mal zugeschlagen hatte. Sie wollte, dass sich ihre Kinder sicher fühlten. Sicher, weil sie wussten, dass sie sich auf sie verlassen konnten. Sammy hatte wirklich keine Zeit, sich Gedanken um das Aussehen ihrer Mutter zu machen. Sie hatte genug damit zu tun, ihre beste Freundin davor zu bewahren ihr Herz als Sonderposten zu verschleudern. Außerdem ging Anna nur mit Freunden ins Theater. Die meisten waren auch Sammys Freunde. Dunja und Marcel zum Beispiel. Dunja, die moderne Fassung einer Johanna von Orléans. Die heute mit Mann, vier Pferden, drei Hunden, einer Katze und zahlreichen Maulwürfen mitten auf dem Land in einer turbulenten Wohngemeinschaft lebte, in der die Vierbeiner mehr Entscheidungen trafen als die Menschen. Die Tür des großen Landhauses stand immer und für jeden offen. Sammy liebte Dunjas Geschichten aus ihrer Jugend. Eine „Punk-Prinzessin“, kompromisslos auf der Suche nach Wahrheiten jenseits der sicheren Bürgerlichkeit ihres Elternhauses. Und obwohl sie früh gelernt hatte zu fliegen, war Dunja heute tief verwurzelt in ihrem Leben auf dem Land, in das sie mit großem Herzen viele Menschen einlud. Sie hatte ihre Wahrheit gefunden. Ein Leben nicht zum Zeitvertreib, sondern zum Teilen. Sie waren fester Bestandteil ihrer kleinen Welt. Hatten aus dem Dreierteam oft eine große Familie gemacht.
Vielleicht war das der Grund warum Sammy nie nach fremden Bildern gesucht hatte. Manchmal kamen ihr das Leben und die Menschen zu nah und sie kehrte beidem den Rücken zu. Warum also schon Theater vor dem Theater? Sie verzog sich in ihr Zimmer und schloss die Tür. Ein sicheres Zeichen für den Rückzug in die Welt eines Teenagers, umhüllt von einem Schutzwall aus lauter Musik. Das Leben vor dieser Tür aktuell eine Folge von Ereignissen, die sie nichts angingen. Und wann immer sie wollte, konnte sie sich dem Fluss der Dinge in den Weg stellen. Jetzt wollte sie absolut nicht. Sie fing an ein Bild zu malen. Irgendwann würde es den Titel „Emptiness“ tragen.
Sie hatten sich im Foyer des Theaters verabredet. Es war ein kleines Gebäude und obwohl das Architektengremium ein klassisches Arenatheater modern gedacht hatte, schien es ihr immer wieder als lege sich das Gebäude stilistisch nicht eindeutig fest. Für moderne Klarheit war mit zu viel Plüsch und organischen Formen gearbeitet worden, für barocke Schwere mangelte es an royalen Insignien bezogen auf Architektur und Ausstattung. Allerdings verliehen die schwebenden Freitreppen und dünnen Rundstützen dem Gebäude eine beinahe schüchterne Eleganz, die sich nur schwer gegen den imposanten elliptischen Bühnenturm durchsetzen konnte. Und es gab einen Innenhof, der in den Pausen für nikotinbegeisterte Gäste geöffnet wurde. Zwei alte Buchen umrahmt von Steinskulpturen bildeten den Mittelpunkt und es schien, als würden sie mächtig und erhaben über die Kunst wachen. Hier hatten Annas Träume ein Zuhause. Marcel und Dunja waren die ersten und hielten bereits ein Glas Sekt in der Hand. Korruptions- und Besänftigungsmittel für Marcel, der sein Mitkommen immer wieder gerne als reinen Liebesdienst auswies und bei der letzten Tanzveranstaltung nach einem langen Arbeitstag friedlich und - seiner bilderbuchmäßigen Nasenanatomie sei Dank - geräuschlos den größten Teil der Vorstellung verschlafen hatte. Da die zweite Hälfte des Abends aus spontan gewählten Bars und Kneipen bestehen würde, war er trotzdem wieder mitgekommen. Der Einfachheit halber. In Wirklichkeit hatte er nur Angst hinterher nicht angemessen mit lästern zu können.
Nach und nach vervollständigte sich der Trupp, bis sie endlich zu siebt die Treppe ins Parkett hoch stiegen und ihre Plätze fanden. Normalerweise ging Anna nicht mit, wenn wirklich alle als Duo auftraten. Sie konnte es immer noch nicht leiden. Ein gesellschaftlicher Makel entworfen von einer Welt, die alles kommentiert, ohne zu wissen. Doch Judith und Selma hatten gar nicht erst gefragt, sondern die Karten besorgt und ihre Bedenken mit dem Terminvermerk an die Pinwand in der Küche geheftet. Anna war nervös. Es war einer jener Momente, in denen sie über Wasser atmen konnte.
Sie hatte nichts erwartet. War gekommen, um zu zuschauen. Plötzlich war sie mittendrin. Ganz ohne Vorankündigung. Zwei Tänzer, ein Mann und eine Frau verfingen sich miteinander in der Musik. Ein unsichtbares Netz aus Wut, Angst und Versprechen. Sie konnte die Musik sehen und in ihrem Körper spüren. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr verweigerte Annas linkes Ohr die Übertragung von Tönen. An einem Freitag war sie zu spät nach Hause gekommen. Es waren die letzten Proben vor ihrem ersten Auftritt im Theater gewesen. Ihre Ballettlehrerin hatte mit Anna noch einen Sprung geübt. Sie wollte fliegen, so leicht und frei mit der Musik schweben. Vor lauter Freude hatten sie vollkommen die Zeit vergessen und sich am Ende beide schrecklich beeilen müssen. Die eine, weil Zuhause ein Kind auf sie wartete, die andere weil Regeln wichtig waren und sie nun das Abendessen verpasste. Als Anna nach Hause kam, war das Essen vorbei und die Familienrunde aufgelöst. Ihre Mutter beseitigte die letzten Spuren in der Küche, ihr Vater saß vor dem Kamin und las. Beide Geschwister hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Anna hatte den Schlag nicht vermutet und ihn darum ungebremst mit voller Wucht aufgefangen. Sicher platziert auf das linke Ohr. Weder sie noch das Ohr hatten sich gewehrt. Dem Schmerz folgte die Taubheit und blieb für immer. Sie hatten gedacht, sie würde das Tanzen aufgeben, doch Anna lernte schnell die Musik zu spüren. Am Ende war es ihre Lehrerin die dem Schlag seine Macht nahm. „Wenn du es wirklich willst, kannst du die Musik sehen.“ Natürlich konnte man es als eine Art Unfall betrachten. Ihr Vater hatte das nicht gewollt und es war ihm für den Rest ihrer gemeinsamen Zeit unangenehm, dass er nicht kontrollierter gehandelt hatte. Ein Zwischenfall, der nicht passiert wäre, hätte Anna die Regeln befolgt. Anna lernte trotzdem nicht, dass das Einhalten von Regeln wichtiger ist als die Liebe und das Glück. Aber sie lernte Angst zu haben. Angst vor Dingen, die man nicht sieht.
Jetzt sah sie die Musik in den Bewegungen des Tänzers. Er nahm sie mit auf seine Reise durch die Musik. Schritte, Drehungen und Sprünge wühlten in ihrem Inneren. Seine Bewegungen schienen nicht mal technisch brillant, er stand nicht sekundenlang in der Luft oder verblüffte mit Drehungen, die endlos schienen. Technische Perfektion, die sich selbst wichtig nimmt, hielt Anna auf Distanz. Sie wollte zu offensichtlich Bewunderung und Anerkennung. Nein, es war das Verweilen in seinen Bewegungen, das Eins sein mit dem was Hände, Arme, Beine, Kopf taten, ein Fließen von Emotionen durch die Musik hindurch bis zum Teilen mit dem Partner. Das Publikum eine Zufallsbegegnung. Ein Dialog der Seelen in der Sprache der Körper. Ganz tief in ihr sprang etwas auf, das frei sein wollte. Sie schwitzte, ihre Beine waren angespannt und sie hatte das Gefühl zu viel Luft in ihre Lungen gepumpt zu haben. Was es auch war, sie saß hier in einem kleinen Theater bei einer Tanzaufführung und fühlte. Etwas Großartiges wütete in ihrer Seele, etwas von dem Anna noch keine Ahnung hatte.
„Und wo gehen wir jetzt hin? Ich habe Hunger.“ Marjorie machte als erstes den Mund auf und kam Marcel schnell zuvor. Bei ihr war Anna nicht so streng und sah ihr den schnellen Themenwechsel nach. Keine Unterstellung, dass sie genug hatte von hüpfenden und springenden Menschen. Sie würden noch ein paar lobende Worte über das eine oder andere Stück austauschen und sich dann diesem Nachtleben zuwenden. Anna hatte keinen Hunger, weder auf spanische Vorspeisen noch auf nächtliche Zerstreuung. Bis zur Enttäuschung ihrer Freunde würde sie heute nicht bleiben. Sie wollte gar nicht bleiben, sondern nach Hause, sich beruhigen. Ein- und Ausatmen bis zu gewohnten Ruhe. Der Ärger über ihr frühzeitiges Aussteigen aus diesem Abend, blieb in der Luft hängen. Ihre Freunde waren nicht sehr erfreut, extra ihretwegen diese Veranstaltung besucht zu haben. Und das sollte dann alles für heute gewesen sein. Irgendwo zwischen Besorgnis und Unverständnis würde der Ärger verschwinden. Und spätestens beim ersten Bier oder Wein verflogen sein. Auch ohne sie. Anna ging mit dem kleinen Spalt in ihrer Seele, hinter dem es noch immer tobte und wirbelte, nach Hause und leistete sich etwas sehr Persönliches. Zumindest wurde es das, als sie entdeckt wurde. Sie räumte die Möbel zur Seite und schuf in ihrem Wohnzimmer eine große freie Fläche, fand eine Musik und ignorierte die Hilflosigkeit ihres Körpers. Hände und Arme funktionierten gut und alles andere blieb unbemerkt zwischen der Erinnerung an gestern und dem Erkennen von heute. Sie spürte dem Gefühl nach, das die Darbietung des Tänzers in ihr ausgelöst hatte. Ein paar von den Tönen konnte sie immer noch sehen.
„Mama? Was machst du da?“ Sammy stand im Türrahmen und hatte weder eine Idee noch Verständnis für das was da gerade in ihrem verwüsteten Wohnzimmer passierte. „Wieso bist du schon Zuhause?“ Anna erschreckte, als die beiden Welten einander begegneten. Sie beugte sich gerade mit dem Oberkörper weit nach vorne und bemerkte mit einem Mal wie albern diese Haltung wohl auf Sammy wirken musste. Schließlich konnte sie nicht sehen was Anna in ihrer Vorstellung sah und im Takt der Musik fühlte. Doch dieser wieder entdeckte Teil war mutig. „Ich hatte keine Lust mehr. Es ist etwas passiert. Aber das ist noch Privatsache.“ Sammy ging ohne zu fragen und ohne zu lachen und ließ es einfach das sein, was es war: die Sache ihrer Mutter.
Die Sache blieb für Anna wichtig und bekam von Tag zu Tag mehr Anteile und Gewicht. Nichts veränderte sich, sie stand morgens auf, tat dieselben Dinge, die sie immer schon getan hatte und doch schien es ihr als hätten sich die Bilder des Alltags verändert. Drei Wochen nach dem Abend im Theater informierte sie sich im Internet über Ballettschulten in ihrer Stadt. Sie öffnete die jeweilige Website und studierte das Kursangebot für Anfänger. Für Anfänger im fortgeschrittenen Alter ohne Zeit gab es kein Angebot. Und als sie sich dann tatsächlich für einen Anfänger Kurs anmeldete, blieb es erst mal eine Sache zwischen ihr und dem Computer. Sie würde Sammy nach der Probestunde davon erzählen. Nach dem Zwischenfall im Wohnzimmer hatte sie ihr nur kurz von ihrem Traum Tänzerin zu werden erzählt. Ihr Wunsch noch einmal anzufangen, machte überhaupt keinen Sinn. Sie war schon so alt und es war so unendlich lange her. Doch es ging gar nicht darum einen verpassten Moment nachzuholen, sondern einen neuen zu schaffen. Einen, der in diese Zeit passte. Nur einmal die Woche, das müsste irgendwie schon gehen.
„Auch Dinge haben Tränen“, dachte Anna, als sie ihre alten Trikots aus der hintersten Ecke des Kleiderschranks fischte. Doch sie erlaubte sich keine alten Bilder, keine Erinnerung an das Gefühl die Musik in ihren Körper zu lassen und sie mit Bewegungen zu füllen. Sie hatte auch so schon genug Angst. Sie stopfte alles wieder zurück und machte sich in einer formlosen Jogginghose und einem T-Shirt auf den Weg. Eine unsichtbare Gestalt, die nicht zu erkennen gab, was sie vorhatte. Vielleicht, weil sie es selbst noch nicht wusste.
Anna war sehr nervös. Sie hatte alle Termine für diesen ersten Nachmittag abgesagt, obwohl zahlreiche Aufträge auf ihrem Schreibtisch lagen. Sie wollte unauffällig sein. Das setzte voraus, dass sie pünktlich war. Auf dem Weg dorthin versuchte sie eine ganz normal Haltung zu entwickeln. Sie wollte endlich nach vielen Jahren in denen kein Platz gewesen war für eigene Dinge, einem Hobby nachgehen. Das Wort Hobby funktionierte nur in ihrem Kopf, der Rest von ihr verweigerte einen realistischen Blick auf das, was sie zu tun im Begriff war. Und so ließ sie es zu, dass die Illusion in ihren Gedanken eine Gestalt annahm und der Traum vergangener Tage ein Ausrufezeichen in die Gegenwart setzte. Und neben diesem Ausrufezeichen stand plötzlich jemand, der die Geschichte in sich trug. Anna lächelte und hielt es keine einzige Minute für einen Zufall.
Es war der Tänzer aus dem Theater, der die Mauer um ihre Seele mit seiner Darbietung einen Spalt breit geöffnet hatte, so weit dass die Musik und seine Bewegungen hatten hindurch schlüpfen können. Und wenn die Wahrheit noch einen Schubs gebraucht hatte, dann war es genau dieser Moment. Dieser Augenblick, in dem sie nicht weg lief, um sich auf einem Betonklotz in Sicherheit zu bringen. Sie bot den unsichtbaren Dämonen die Stirn und blieb. Diesmal tauchte sie auf, holte tief Luft und bewegte sich mühelos. Leicht und sicher ging sie auf ihn zu. Ihn, den sie nicht verpassen wollte. Anna sah in die Augen dieses Fremden und fand eine Antwort auf die Frage, warum? Es vergingen viele Wochen bis sie endgültig aufbrach. Sie zogen in eine andere Wohnung, räumten Schränke aus und Kisten ein. Sie lachten und manches blieb in den Kisten und verschwand. Sammy und Anna mussten einander nichts erklären. Anna musste niemandem etwas erklären. Das Leben fügte sich selbst hinzu. Sie folgte weiterhin Woche für Woche seinen Schritten und hatte längst erkannt, dass dieser Teil von ihr im Laufe der Zeit verloren gegangen war. Doch das war nicht mehr wichtig. Sie hatte wieder laufen gelernt und so groß das Chaos in ihr auch noch war, sie war frei.
Jahre später als Anna schon lange in einer anderen Stadt lebte, erzählte sie ihm, der ihr ein wichtiger Freund geworden war, von diesem Moment und davon, dass sie ihn damals liebte, ohne Absicht und ohne Geschichte. Eine Liebe, die nichts wollte und doch so wichtig gewesen war, dass sie tagelang nichts hatte essen können. Eine Liebe, die sie dazu gebracht hatte, ihrem Leben eine neue Form zugeben. Erst war es nur die Form der Schritte, die sie jeden Tag übte, weil sie wollte, dass die Musik seine Spuren in ihr hinterlässt. Dann als sie ganz sicher war, sortierte Anna aus was alt und vergangen war und schuf Platz für Neues. Eine Liebe, die einen verschollenen Teil von ihr wieder ins Leben geholt hatte. Vielleicht war genau dies der Schlüssel gewesen. Weil das, was sie fühlte, sich nie hatte erklären musste, weil es kein Ziel suchte.
Nachdem Sie ihm das alles erzählt hatte, tanzte er eine kleine Schrittfolge als wäre sie ein großes Publikum, verbeugte sich mit großartiger Geste und blieb für immer.
Bleischwer lag sie auf diesem kalten, glatten Betonklotz. Arme und Beine sahen aus, als hätte sie jemand ganz zufällig neben ihrem Körper abgelegt. Anna war gerne hier. Hier war sie so sicher und vollständig wie an keinem anderen Ort. Ohne einen einzigen Gedanken in ihrem Kopf, ohne Aufforderung, ohne Ermutigung sich zu bewegen. Still, regungslos, ganz ruhig vertraute sie dem festen, harten Untergrund. Sie konzentrierte sich einzig und allein darauf zu atmen. Gleichmäßig ein- und ausatmen. Die Gleichmäßigkeit ihrer Atemzüge hielt sie auf dem Boden in Sicherheit. Die einzige Aufgabe, die das Leben an sie stellte. Ein- und Ausatmen. Nichts weiter. Das reichte in diesem Moment. „Kann ich etwas für Sie tun? Suchen sie etwas Bestimmtes?“ Die Frage kam unvermutet von links. Sie war noch nicht vorbereitet. Einen Atemzug zu früh, schon sehr nah. Nur nicht erschrecken, keine unüberlegten Bewegungen, ganz ruhig bleiben. Die andere hatte nichts bemerkt, hatte Anna nicht liegen sehen auf diesem kalten Stein, dessen Liegefläche sich langsam von ihrem Körper erwärmte. „Nein. Nein, vielen Dank. Ich schaue mich nur ein bisschen um. Wenn ich Hilfe benötige, dann melde ich mich.“ Annas Stimme kam von weit her. Als sie sich endlich hörte, war die Verkäuferin schon mit einer anderen Kundin im Gespräch. Lachen. Lautes, beinahe schrilles Lachen. So einfach ist das, wenn man sich bewegen kann.
Für einen Augenblick hielt sie sich an dem Bügel in ihrer Hand fest. Als sie sicher war, die Situation wieder im Griff zu haben, kehrte sie zu den Kleidern und der Idee für heute Abend etwas Neues zu kaufen zurück. Vor einiger Zeit hatte sie die Umlaufbahn ihres Lebens ruckartig verlassen müssen und war auf dem Betonklotz notgelandet. Unter Menschen fühlten sich ihre Glieder immer noch unbeweglich und steif an. Jeder Schritt ein neuer Versuch. Nicht mehr ganz so wacklig wie am Anfang stand sie heute in einem Laden unter fremden Menschen, die jederzeit näher kommen konnten, und suchte nach einem Kleidungsstück, das zu ihr passte. Zu Beginn waren es kleine Zuckungen mit Händen, Armen, Beinen und Füßen. Dann ein Tasten und Suchen bis sie irgendwann aufstand. Eine ganz normale Geschichte tausendmal von vielen Menschen erlebt. Aus zwei Leben wird eins und irgendwann ist dieses eine Leben zu klein für einen gemeinsamen Alltag, eigene Träume und geteilte Pläne. Bis einer die Richtung wechselt und der andere orientierungslos auf einem Betonklotz Halt sucht. Der erste eigene Schritt braucht einen guten Grund. Anna hatte gleich zwei; drei und fünf Jahre alt und sie hatten jedes Recht dieser Welt glücklich zu sein. Unbehelligt und glücklich. Und genau das war der eine Gedanke, den sie fest hielt, damit er ihr half wieder aufzustehen und weiter zu gehen. Kleine Hände in großer Hand. Das Versprechen auf ein unbeschwertes Leben einlösen. Eine geplante Hoffnung. Erst streichholzgroß, dann ein fertiger Mensch. Eine Liebe so unerschütterlich wie der Betonklotz. Augen, die suchen, Hände, die finden.
Langsam schob sie die Bügel von links nach rechts und begutachtete, was darauf angeboten wurde. Sie hatte keine Vorstellung von dem was sie suchte. In ihrer Erinnerung fehlten die Momente, in denen sie das Richtige gefunden hatte. Die Neugier auf das eigene Bild im Spiegel. Manchmal fehlte ihr einfach der Mut hinzusehen ohne die Worte der anderen zu denken. Sie hatte ihre innere Stimme verloren und fand nur noch das Echo alter Sätze. Deswegen konnte Sie am besten unter Wasser atmen. Außerhalb ihres kleinen Familienaquariums blieb ihr immer noch die Luft weg.
Das Leben ist eine Kette von Ereignissen, die passieren, damit wir uns selber entdecken. So einfach war damals Tims Sicht auf die Dinge. Es war weder ein Abschied, noch eine Erklärung. Er hatte nicht auf der Couch neben ihr noch am Tisch ihr gegenüber gesessen. Das wäre zu verbindlich gewesen, zu konkret geworden. Ein Plädoyer für den Freispruch von Pflicht und Verantwortung für etwas, das nicht zu ihm gepasst hatte, gehalten beim Packen einer einzigen Tasche, die ausgereicht hatte, um den Fahrzeugbrief des Sportwagens und ein paar persönliche Dinge mit zunehmen. Mehr hatte er nicht gewollt. Er konnte das Versprechen auf ein unbeschwertes Leben nicht einlösen. Wie hätte er wissen sollen, dass sie ihm Angst machten. Angst jemand anderes zu werden. Angst weniger geliebt zu werden. Angst seine Zeit zu verlieren. Ein Plädoyer für den Mut, Freiheit mittendrin neu zu definieren. Also sammelte Tim seine Zeit so schnell ein, dass kein weiteres Wort dazwischen passte und nahm alle Stunden, Minuten und Sekunden mit an einen anderen Ort. Anna fuhr ans Meer mit der Hoffnung, eine eigene Gegenwart zu finden. Doch als sie dort ankam, lagen vor ihr die Möglichkeiten der Zukunft und hinter ihr stand die Vergangenheit. Beides wollte in diesem Moment Ausschließlichkeit und ließ der Gegenwart keinen Platz. Kleine Hände in großer Hand, das war die Gegenwart. Und sie schuf einen Ort für die Gegenwart ihres neuen Lebens. Ein hocheffizientes Trio verbunden durch eine Liebe, die noch nichts davon ahnte, wie leicht und schwer es sein würde neu zu beginnen.
Anna würde sich später mit Freunden im Theater zu der Vorstellung des jährlichen Tanzfestivals treffen. Wie immer war es ihre Idee den gemeinsamen Abend im Theater zu beginnen. Zuschauen war das was übrig geblieben war, von ihrer Freude an der Verbindung zwischen Musik und Bewegung. Sie ging ins Theater, um sich zu erinnern wie es war, einen Raum zu betreten, der nur mit Musik eingerichtet ist und darauf wartet, dass ihn jemand mit seiner Geschichte füllt. Schwerelose Körper, die sich auf, unter und neben der Musik nieder lassen. Tanzen, ein Dialog zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Das alles ließ Anna wach werden und sie verstand, dass man es selber in der Hand hatte, zwischen Wirklichkeit und Traum eine Verbindung herzustellen. Alltägliche Dinge wie geschwänzte Schulstunden, die Organisation des nächsten Auslandstermins und leere Kühlschränke schrumpften auf das Gegenständliche ihrer Bedeutung zusammen. Alles Überflüssige und Banale löste sich auf, verschwand und überließ den Platz der getanzten Botschaft. Mit einem Mal bewegten sich die Menschen langsamer, bewusster. Anna beobachtete so oft nach einer Vorstellung, wie sie ihre Mäntel abholten und es schien ihr, als ob sie ihre eigenen Bewegungen neu entdeckten. Genau an dieser Stelle passierte es dann: Anna ließ die anderen in ihren Gedanken zurück und holte sie erst wieder ein, wenn der zweite Teil des Abends in dem vereinbarten Lokal begann. Der lebendige, reale Lebensmoment. Der ihnen gemeinsame Geschichten hinterließ. Geteilte Erinnerungen, die für immer blieben.
„Das sieht wirklich gut aus. Du kannst so gehen.“ Sammy wartete nicht auf die Antwort ihrer Mutter. Die Beratung war hiermit beendet. Mit fünfzehn ist der Maßstab für schön oder hässlich das Innenleben des eigenen Kleiderschranks. Und da dieser nichts mit ihrer Mutter zu tun hatte, war dies ein ausreichend klärender Beitrag. Anna und Sammy waren keine Freundinnen. Anna war das wichtig. Sie wollte versorgen, beschützen, zurückholen und das ganz selbstverständlich. Irgendwann waren die kleinen Hände größer geworden und hatten los gelassen. Anna blieb, um ihnen zu helfen, dem Leben die Tür zu öffnen. Auch wenn ein Sturm sie mal zugeschlagen hatte. Sie wollte, dass sich ihre Kinder sicher fühlten. Sicher, weil sie wussten, dass sie sich auf sie verlassen konnten. Sammy hatte wirklich keine Zeit, sich Gedanken um das Aussehen ihrer Mutter zu machen. Sie hatte genug damit zu tun, ihre beste Freundin davor zu bewahren ihr Herz als Sonderposten zu verschleudern. Außerdem ging Anna nur mit Freunden ins Theater. Die meisten waren auch Sammys Freunde. Dunja und Marcel zum Beispiel. Dunja, die moderne Fassung einer Johanna von Orléans. Die heute mit Mann, vier Pferden, drei Hunden, einer Katze und zahlreichen Maulwürfen mitten auf dem Land in einer turbulenten Wohngemeinschaft lebte, in der die Vierbeiner mehr Entscheidungen trafen als die Menschen. Die Tür des großen Landhauses stand immer und für jeden offen. Sammy liebte Dunjas Geschichten aus ihrer Jugend. Eine „Punk-Prinzessin“, kompromisslos auf der Suche nach Wahrheiten jenseits der sicheren Bürgerlichkeit ihres Elternhauses. Und obwohl sie früh gelernt hatte zu fliegen, war Dunja heute tief verwurzelt in ihrem Leben auf dem Land, in das sie mit großem Herzen viele Menschen einlud. Sie hatte ihre Wahrheit gefunden. Ein Leben nicht zum Zeitvertreib, sondern zum Teilen. Sie waren fester Bestandteil ihrer kleinen Welt. Hatten aus dem Dreierteam oft eine große Familie gemacht.
Vielleicht war das der Grund warum Sammy nie nach fremden Bildern gesucht hatte. Manchmal kamen ihr das Leben und die Menschen zu nah und sie kehrte beidem den Rücken zu. Warum also schon Theater vor dem Theater? Sie verzog sich in ihr Zimmer und schloss die Tür. Ein sicheres Zeichen für den Rückzug in die Welt eines Teenagers, umhüllt von einem Schutzwall aus lauter Musik. Das Leben vor dieser Tür aktuell eine Folge von Ereignissen, die sie nichts angingen. Und wann immer sie wollte, konnte sie sich dem Fluss der Dinge in den Weg stellen. Jetzt wollte sie absolut nicht. Sie fing an ein Bild zu malen. Irgendwann würde es den Titel „Emptiness“ tragen.
Sie hatten sich im Foyer des Theaters verabredet. Es war ein kleines Gebäude und obwohl das Architektengremium ein klassisches Arenatheater modern gedacht hatte, schien es ihr immer wieder als lege sich das Gebäude stilistisch nicht eindeutig fest. Für moderne Klarheit war mit zu viel Plüsch und organischen Formen gearbeitet worden, für barocke Schwere mangelte es an royalen Insignien bezogen auf Architektur und Ausstattung. Allerdings verliehen die schwebenden Freitreppen und dünnen Rundstützen dem Gebäude eine beinahe schüchterne Eleganz, die sich nur schwer gegen den imposanten elliptischen Bühnenturm durchsetzen konnte. Und es gab einen Innenhof, der in den Pausen für nikotinbegeisterte Gäste geöffnet wurde. Zwei alte Buchen umrahmt von Steinskulpturen bildeten den Mittelpunkt und es schien, als würden sie mächtig und erhaben über die Kunst wachen. Hier hatten Annas Träume ein Zuhause. Marcel und Dunja waren die ersten und hielten bereits ein Glas Sekt in der Hand. Korruptions- und Besänftigungsmittel für Marcel, der sein Mitkommen immer wieder gerne als reinen Liebesdienst auswies und bei der letzten Tanzveranstaltung nach einem langen Arbeitstag friedlich und - seiner bilderbuchmäßigen Nasenanatomie sei Dank - geräuschlos den größten Teil der Vorstellung verschlafen hatte. Da die zweite Hälfte des Abends aus spontan gewählten Bars und Kneipen bestehen würde, war er trotzdem wieder mitgekommen. Der Einfachheit halber. In Wirklichkeit hatte er nur Angst hinterher nicht angemessen mit lästern zu können.
Nach und nach vervollständigte sich der Trupp, bis sie endlich zu siebt die Treppe ins Parkett hoch stiegen und ihre Plätze fanden. Normalerweise ging Anna nicht mit, wenn wirklich alle als Duo auftraten. Sie konnte es immer noch nicht leiden. Ein gesellschaftlicher Makel entworfen von einer Welt, die alles kommentiert, ohne zu wissen. Doch Judith und Selma hatten gar nicht erst gefragt, sondern die Karten besorgt und ihre Bedenken mit dem Terminvermerk an die Pinwand in der Küche geheftet. Anna war nervös. Es war einer jener Momente, in denen sie über Wasser atmen konnte.
Sie hatte nichts erwartet. War gekommen, um zu zuschauen. Plötzlich war sie mittendrin. Ganz ohne Vorankündigung. Zwei Tänzer, ein Mann und eine Frau verfingen sich miteinander in der Musik. Ein unsichtbares Netz aus Wut, Angst und Versprechen. Sie konnte die Musik sehen und in ihrem Körper spüren. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr verweigerte Annas linkes Ohr die Übertragung von Tönen. An einem Freitag war sie zu spät nach Hause gekommen. Es waren die letzten Proben vor ihrem ersten Auftritt im Theater gewesen. Ihre Ballettlehrerin hatte mit Anna noch einen Sprung geübt. Sie wollte fliegen, so leicht und frei mit der Musik schweben. Vor lauter Freude hatten sie vollkommen die Zeit vergessen und sich am Ende beide schrecklich beeilen müssen. Die eine, weil Zuhause ein Kind auf sie wartete, die andere weil Regeln wichtig waren und sie nun das Abendessen verpasste. Als Anna nach Hause kam, war das Essen vorbei und die Familienrunde aufgelöst. Ihre Mutter beseitigte die letzten Spuren in der Küche, ihr Vater saß vor dem Kamin und las. Beide Geschwister hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Anna hatte den Schlag nicht vermutet und ihn darum ungebremst mit voller Wucht aufgefangen. Sicher platziert auf das linke Ohr. Weder sie noch das Ohr hatten sich gewehrt. Dem Schmerz folgte die Taubheit und blieb für immer. Sie hatten gedacht, sie würde das Tanzen aufgeben, doch Anna lernte schnell die Musik zu spüren. Am Ende war es ihre Lehrerin die dem Schlag seine Macht nahm. „Wenn du es wirklich willst, kannst du die Musik sehen.“ Natürlich konnte man es als eine Art Unfall betrachten. Ihr Vater hatte das nicht gewollt und es war ihm für den Rest ihrer gemeinsamen Zeit unangenehm, dass er nicht kontrollierter gehandelt hatte. Ein Zwischenfall, der nicht passiert wäre, hätte Anna die Regeln befolgt. Anna lernte trotzdem nicht, dass das Einhalten von Regeln wichtiger ist als die Liebe und das Glück. Aber sie lernte Angst zu haben. Angst vor Dingen, die man nicht sieht.
Jetzt sah sie die Musik in den Bewegungen des Tänzers. Er nahm sie mit auf seine Reise durch die Musik. Schritte, Drehungen und Sprünge wühlten in ihrem Inneren. Seine Bewegungen schienen nicht mal technisch brillant, er stand nicht sekundenlang in der Luft oder verblüffte mit Drehungen, die endlos schienen. Technische Perfektion, die sich selbst wichtig nimmt, hielt Anna auf Distanz. Sie wollte zu offensichtlich Bewunderung und Anerkennung. Nein, es war das Verweilen in seinen Bewegungen, das Eins sein mit dem was Hände, Arme, Beine, Kopf taten, ein Fließen von Emotionen durch die Musik hindurch bis zum Teilen mit dem Partner. Das Publikum eine Zufallsbegegnung. Ein Dialog der Seelen in der Sprache der Körper. Ganz tief in ihr sprang etwas auf, das frei sein wollte. Sie schwitzte, ihre Beine waren angespannt und sie hatte das Gefühl zu viel Luft in ihre Lungen gepumpt zu haben. Was es auch war, sie saß hier in einem kleinen Theater bei einer Tanzaufführung und fühlte. Etwas Großartiges wütete in ihrer Seele, etwas von dem Anna noch keine Ahnung hatte.
„Und wo gehen wir jetzt hin? Ich habe Hunger.“ Marjorie machte als erstes den Mund auf und kam Marcel schnell zuvor. Bei ihr war Anna nicht so streng und sah ihr den schnellen Themenwechsel nach. Keine Unterstellung, dass sie genug hatte von hüpfenden und springenden Menschen. Sie würden noch ein paar lobende Worte über das eine oder andere Stück austauschen und sich dann diesem Nachtleben zuwenden. Anna hatte keinen Hunger, weder auf spanische Vorspeisen noch auf nächtliche Zerstreuung. Bis zur Enttäuschung ihrer Freunde würde sie heute nicht bleiben. Sie wollte gar nicht bleiben, sondern nach Hause, sich beruhigen. Ein- und Ausatmen bis zu gewohnten Ruhe. Der Ärger über ihr frühzeitiges Aussteigen aus diesem Abend, blieb in der Luft hängen. Ihre Freunde waren nicht sehr erfreut, extra ihretwegen diese Veranstaltung besucht zu haben. Und das sollte dann alles für heute gewesen sein. Irgendwo zwischen Besorgnis und Unverständnis würde der Ärger verschwinden. Und spätestens beim ersten Bier oder Wein verflogen sein. Auch ohne sie. Anna ging mit dem kleinen Spalt in ihrer Seele, hinter dem es noch immer tobte und wirbelte, nach Hause und leistete sich etwas sehr Persönliches. Zumindest wurde es das, als sie entdeckt wurde. Sie räumte die Möbel zur Seite und schuf in ihrem Wohnzimmer eine große freie Fläche, fand eine Musik und ignorierte die Hilflosigkeit ihres Körpers. Hände und Arme funktionierten gut und alles andere blieb unbemerkt zwischen der Erinnerung an gestern und dem Erkennen von heute. Sie spürte dem Gefühl nach, das die Darbietung des Tänzers in ihr ausgelöst hatte. Ein paar von den Tönen konnte sie immer noch sehen.
„Mama? Was machst du da?“ Sammy stand im Türrahmen und hatte weder eine Idee noch Verständnis für das was da gerade in ihrem verwüsteten Wohnzimmer passierte. „Wieso bist du schon Zuhause?“ Anna erschreckte, als die beiden Welten einander begegneten. Sie beugte sich gerade mit dem Oberkörper weit nach vorne und bemerkte mit einem Mal wie albern diese Haltung wohl auf Sammy wirken musste. Schließlich konnte sie nicht sehen was Anna in ihrer Vorstellung sah und im Takt der Musik fühlte. Doch dieser wieder entdeckte Teil war mutig. „Ich hatte keine Lust mehr. Es ist etwas passiert. Aber das ist noch Privatsache.“ Sammy ging ohne zu fragen und ohne zu lachen und ließ es einfach das sein, was es war: die Sache ihrer Mutter.
Die Sache blieb für Anna wichtig und bekam von Tag zu Tag mehr Anteile und Gewicht. Nichts veränderte sich, sie stand morgens auf, tat dieselben Dinge, die sie immer schon getan hatte und doch schien es ihr als hätten sich die Bilder des Alltags verändert. Drei Wochen nach dem Abend im Theater informierte sie sich im Internet über Ballettschulten in ihrer Stadt. Sie öffnete die jeweilige Website und studierte das Kursangebot für Anfänger. Für Anfänger im fortgeschrittenen Alter ohne Zeit gab es kein Angebot. Und als sie sich dann tatsächlich für einen Anfänger Kurs anmeldete, blieb es erst mal eine Sache zwischen ihr und dem Computer. Sie würde Sammy nach der Probestunde davon erzählen. Nach dem Zwischenfall im Wohnzimmer hatte sie ihr nur kurz von ihrem Traum Tänzerin zu werden erzählt. Ihr Wunsch noch einmal anzufangen, machte überhaupt keinen Sinn. Sie war schon so alt und es war so unendlich lange her. Doch es ging gar nicht darum einen verpassten Moment nachzuholen, sondern einen neuen zu schaffen. Einen, der in diese Zeit passte. Nur einmal die Woche, das müsste irgendwie schon gehen.
„Auch Dinge haben Tränen“, dachte Anna, als sie ihre alten Trikots aus der hintersten Ecke des Kleiderschranks fischte. Doch sie erlaubte sich keine alten Bilder, keine Erinnerung an das Gefühl die Musik in ihren Körper zu lassen und sie mit Bewegungen zu füllen. Sie hatte auch so schon genug Angst. Sie stopfte alles wieder zurück und machte sich in einer formlosen Jogginghose und einem T-Shirt auf den Weg. Eine unsichtbare Gestalt, die nicht zu erkennen gab, was sie vorhatte. Vielleicht, weil sie es selbst noch nicht wusste.
Anna war sehr nervös. Sie hatte alle Termine für diesen ersten Nachmittag abgesagt, obwohl zahlreiche Aufträge auf ihrem Schreibtisch lagen. Sie wollte unauffällig sein. Das setzte voraus, dass sie pünktlich war. Auf dem Weg dorthin versuchte sie eine ganz normal Haltung zu entwickeln. Sie wollte endlich nach vielen Jahren in denen kein Platz gewesen war für eigene Dinge, einem Hobby nachgehen. Das Wort Hobby funktionierte nur in ihrem Kopf, der Rest von ihr verweigerte einen realistischen Blick auf das, was sie zu tun im Begriff war. Und so ließ sie es zu, dass die Illusion in ihren Gedanken eine Gestalt annahm und der Traum vergangener Tage ein Ausrufezeichen in die Gegenwart setzte. Und neben diesem Ausrufezeichen stand plötzlich jemand, der die Geschichte in sich trug. Anna lächelte und hielt es keine einzige Minute für einen Zufall.
Es war der Tänzer aus dem Theater, der die Mauer um ihre Seele mit seiner Darbietung einen Spalt breit geöffnet hatte, so weit dass die Musik und seine Bewegungen hatten hindurch schlüpfen können. Und wenn die Wahrheit noch einen Schubs gebraucht hatte, dann war es genau dieser Moment. Dieser Augenblick, in dem sie nicht weg lief, um sich auf einem Betonklotz in Sicherheit zu bringen. Sie bot den unsichtbaren Dämonen die Stirn und blieb. Diesmal tauchte sie auf, holte tief Luft und bewegte sich mühelos. Leicht und sicher ging sie auf ihn zu. Ihn, den sie nicht verpassen wollte. Anna sah in die Augen dieses Fremden und fand eine Antwort auf die Frage, warum? Es vergingen viele Wochen bis sie endgültig aufbrach. Sie zogen in eine andere Wohnung, räumten Schränke aus und Kisten ein. Sie lachten und manches blieb in den Kisten und verschwand. Sammy und Anna mussten einander nichts erklären. Anna musste niemandem etwas erklären. Das Leben fügte sich selbst hinzu. Sie folgte weiterhin Woche für Woche seinen Schritten und hatte längst erkannt, dass dieser Teil von ihr im Laufe der Zeit verloren gegangen war. Doch das war nicht mehr wichtig. Sie hatte wieder laufen gelernt und so groß das Chaos in ihr auch noch war, sie war frei.
Jahre später als Anna schon lange in einer anderen Stadt lebte, erzählte sie ihm, der ihr ein wichtiger Freund geworden war, von diesem Moment und davon, dass sie ihn damals liebte, ohne Absicht und ohne Geschichte. Eine Liebe, die nichts wollte und doch so wichtig gewesen war, dass sie tagelang nichts hatte essen können. Eine Liebe, die sie dazu gebracht hatte, ihrem Leben eine neue Form zugeben. Erst war es nur die Form der Schritte, die sie jeden Tag übte, weil sie wollte, dass die Musik seine Spuren in ihr hinterlässt. Dann als sie ganz sicher war, sortierte Anna aus was alt und vergangen war und schuf Platz für Neues. Eine Liebe, die einen verschollenen Teil von ihr wieder ins Leben geholt hatte. Vielleicht war genau dies der Schlüssel gewesen. Weil das, was sie fühlte, sich nie hatte erklären musste, weil es kein Ziel suchte.
Nachdem Sie ihm das alles erzählt hatte, tanzte er eine kleine Schrittfolge als wäre sie ein großes Publikum, verbeugte sich mit großartiger Geste und blieb für immer.