Aufbruch (neu eingestellt)

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Gabriele

Mitglied
Aufbrechen - 1.Kapitel


Irgendwann hat der CD-Player zu spielen aufgehört. Ich habe es nicht bemerkt. Vor mir auf dem Wohnzimmertisch sehe ich eine Ansammlung von Dingen, die nichts mit mir zu tun haben – oder doch? Da ist ein leeres Weinglas, die Zeitung von gestern, das Aufgabenheft meiner Tochter, ein überfüllter Aschenbecher, meine Armbanduhr.
Die ist allerdings interessant. Die Art, wie der Sekundenzeiger seine Runden über das blaue Ziffernblatt dreht, hat etwas Gnadenlos-Endgültiges.

Im Vorzimmer sind Schritte zu hören, kurz darauf das Rauschen von Wasser in der Küche. Silvia ist wohl noch einmal aufgestanden, um sich ein Glas Wasser zu holen.
Nun steht sie in der Wohnzimmertür. Ich spüre ihren Blick auf mir, habe aber keine Lust, mich zu ihr umzudrehen, wieder ihren leicht angewiderten, leidenden Gesichtsausdruck zu sehen.
„Was tust du denn noch? Komm ins Bett!“
Immer dieser besorgte und gleichzeitig vorwurfsvolle Unterton in ihrer Stimme!
„Gleich.“
Nach einem kurzen Moment des Wartens verlässt Silvia endlich mit einem Seufzen den Raum. Wie fast an jedem Abend werde ich noch hier sitzen bleiben, bis sie eingeschlafen ist.

Aus der Küche ist das leise, stetige Tropfen des Wasserhahnes zu hören. Der Sekundenzeiger meiner Uhr rückt im selben Rhythmus wie das „Plopp! Plopp!“ der Wassertropfen voran.
Soll ich mir noch ein Glas Wein holen? Nein, es ist zu mühsam.
Ich fühle mich wie gelähmt. Die Zeit verrinnt, und es geschieht nichts.
Natürlich geschieht ständig etwas: Gestern habe ich in der Firma einen wichtigen Auftrag an Land gezogen. Vor drei Tagen war ich mit Silvia in der Oper. Morgen werde ich mit meiner Tochter für die Englischarbeit üben.
Doch all diese Dinge geschehen außerhalb von mir; ich sehe mir selbst dabei zu.
Wie lange ist es her, dass ich mich zum letzten Mal wirklich über etwas geärgert habe? Wann habe ich das letzte Mal aufrichtige Freude, Rührung oder Mitleid empfunden? Oder gar etwas, das den Namen Liebe verdient?
Dabei war ich früher ein impulsiver Mensch, habe mich manchmal fast zu sehr meinen intensiven Gefühlen hingegeben. Wenn ich mich nur an diese unbeschreibliche Freude beim ersten Anblick meiner kleinen Tochter erinnere! Ganz unmännlich habe ich damals vor der Hebamme und den Schwestern geweint. Oder diese tiefe Trauer beim Begräbnis meiner Mutter. Die unermessliche Wut angesichts der Mobbingmethoden meines ehemaligen Vorgesetzten einem jungen Kollegen gegenüber. Das schöne Gefühl stiller Vertrautheit und Dankbarkeit, das ich oft empfand, nachdem ich mit Silvia geschlafen hatte - wann ging es verloren?
Heute berührt mich alles nur noch an der Oberfläche: Scherze mit Freunden, geschäftliche Verhandlungen, Umarmungen meiner Tochter, Sex mit meiner Frau. Nicht einmal die Musik vermag den unsichtbaren Panzer, der mein Inneres umgibt, noch zu durchdringen...
Irgendetwas muss geschehen, damit ich diese Distanz zu meinen eigenen Handlungen, zu den Menschen, die mich umgeben, und letzten Endes zu mir selbst überwinden kann. Irgendwie muss ich wieder lernen, mich lebendig zu fühlen.
Ich will sie wieder spüren, all diese Gefühle, genauso tief wie früher.
Vielleicht sollte ich mir einen Psychotherapeuten suchen. Oder eine Geliebte?
Jedenfalls hole ich mir nun doch noch ein Glas Wein aus der Küche und drehe auch endlich den Wasserhahn ordentlich zu.
Im Vorzimmer begegne ich meiner Tochter, die schlaftrunken Richtung WC schlurft.
„Hallo Kerstin!“
„Hallo Papa. Trinkst du wieder Wein?“
Ich erwidere nichts; ein wenig schäme ich mich wegen des Wortes „wieder“ in Kerstins Satz.

Im Wohnzimmer stelle ich mich mit dem Weinglas ans Fenster und schaue zum gegenüberliegenden Wohnblock hinüber. Nur noch in einem der vielen Fenster brennt Licht. Es ist ja auch schon nach eins. Langsam sollte ich wohl auch... immerhin muss ich um halb sieben aufstehen. Silvia schläft sicher schon längst.
Wer schreit denn da unten? Vor unserem Haus läuft eine Frau hin und her. Muss wohl betrunken sein. Erkennen kann ich sie vom siebten Stock aus nicht. Aber – da liegt doch auch etwas vor dem Haus! Ein Körper? Ist die Frau deshalb so aufgeregt? Hat da etwa jemand...?
Schrecklich!
Soll ich hinunterlaufen?
Aber ich kann ja ohnehin nichts tun. Die schreiende Frau wird sich schon beruhigen und die Rettung rufen. Vielleicht habe ich mich ja auch geirrt.

Ich trinke mein Glas mit einem Zug leer. Ab ins Badezimmer und dann ins Bett!
Morgen frage ich meinen Kollegen nach der Telefonnummer dieser Frau Doktor – hab den Namen seiner Therapeutin vergessen.
Leise öffne ich die Schlafzimmertür und nähere mich dem Bett. Seltsam, Silvia hat heute die Rolläden gar nicht heruntergelassen!
Im Halbdunkel erkenne ich, dass das Doppelbett auch auf Silvias Seite leer ist.
Erst jetzt fällt mir auf, dass das Fenster weit geöffnet ist.
Der kalte Luftzug, der hereindringt, lässt mich frösteln.
 

Cora Horn

Mitglied
Es kommt spät aber es kommt noch

Hallo

die überarbeitung gefällt mir besser; besonders, dass die Tochter auch noch mit ins Spiel kommt, die das Erzählen des Mannes unterbricht und ein frisches Bild in den Text einbringt, der ja gerade durch dieses Erzählen mit wenig "lebendigen" Bildern gefüllt ist.

"Nach einem kurzen Moment des Wartens verlässt Silvia endlich mit einem Seufzen den Raum. Wie fast an jedem Abend werde ich noch hier sitzen bleiben, bis sie eingeschlafen ist". -> gut "rausgemogelt"; der Satz ist jetzt kompakter und bildet einen guten Abschluss des Absatzes - obwohl ich das Ritual nach wie vor gut finde, weil es die Eintönigkeit seines Lebens unterstreicht, das ihn so müde macht.

"Vielleicht sollte ich mir einen Psychotherapeuten suchen. Oder eine Geliebte?" hat doch irgendwie etwas satirisches/sarkastisches, find ich persönlich sehr erquickend.

"Morgen frage ich meinen Kollegen, der nach seiner Scheidung eine Therapie gemacht hat, nach der Telefonnummer dieser Frau Doktor – ich hab den Namen vergessen." -> "der nach seiner Scheidung eine Therapie gemacht hat", und "ich hab den Namen vergessen" könnte ruhig ausgespart werden denk ich. Die Formulierung "diese Frau Doktor" sagt dem Leser schon, dass er den Namen nicht kennt. dass und warum der Kollege auch schon eine Therapie gemacht hat, ist für die Ausage des Satzes und für den Text redundant, da nur eine "Zweck-Nebenfigur", die das Problem löst, dass er einen Psychologen braucht. wichtig ist nur, dass er sie von seinem Kollegen bekommen kann.

sorry, wurde etwas später! Aber noch viel Spaß

Cora
 

Gabriele

Mitglied
Re: Es kommt spät aber es kommt noch

Hallo Cora,
danke fürs Lesen und Kommentieren! Schön, dass Dich der Text nun mehr anspricht - mir selbst gefällt er auch besser als die Erstfassung :).
Deinen Vorschlag bezüglich der Psychotherapeutin habe ich - leicht abgewandelt - übernommen.
Einen schönen Tag wünscht Dir
Gabi
 

Gabriele

Mitglied
Aufbrechen


Irgendwann hat der CD-Player zu spielen aufgehört. Ich habe es nicht bemerkt. Vor mir auf dem Wohnzimmertisch sehe ich eine Ansammlung von Dingen, die nichts mit mir zu tun haben – oder doch? Da ist ein leeres Weinglas, die Zeitung von gestern, das Aufgabenheft meiner Tochter, ein überfüllter Aschenbecher, meine Armbanduhr.
Die ist allerdings interessant. Die Art, wie der Sekundenzeiger seine Runden über das blaue Ziffernblatt dreht, hat etwas Gnadenlos-Endgültiges.

Im Vorzimmer sind Schritte zu hören, kurz darauf das Rauschen von Wasser in der Küche. Silvia ist wohl noch einmal aufgestanden, um sich ein Glas Wasser zu holen.
Nun steht sie in der Wohnzimmertür. Ich spüre ihren Blick auf mir, habe aber keine Lust, mich zu ihr umzudrehen, wieder ihren leicht angewiderten, leidenden Gesichtsausdruck zu sehen.
„Was tust du denn noch? Komm ins Bett!“
Immer dieser besorgte und gleichzeitig vorwurfsvolle Unterton in ihrer Stimme!
„Gleich.“
Nach einem kurzen Moment des Wartens verlässt Silvia endlich mit einem Seufzen den Raum. Wie fast an jedem Abend werde ich noch hier sitzen bleiben, bis sie eingeschlafen ist.

Aus der Küche ist das leise, stetige Tropfen des Wasserhahnes zu hören. Der Sekundenzeiger meiner Uhr rückt im selben Rhythmus wie das „Plopp! Plopp!“ der Wassertropfen voran.
Soll ich mir noch ein Glas Wein holen? Nein, es ist zu mühsam.
Ich fühle mich wie gelähmt. Die Zeit verrinnt, und es geschieht nichts.
Natürlich geschieht ständig etwas: Gestern habe ich in der Firma einen wichtigen Auftrag an Land gezogen. Vor drei Tagen war ich mit Silvia in der Oper. Morgen werde ich mit meiner Tochter für die Englischarbeit üben.
Doch all diese Dinge geschehen außerhalb von mir; ich sehe mir selbst dabei zu.
Wie lange ist es her, dass ich mich zum letzten Mal wirklich über etwas geärgert habe? Wann habe ich das letzte Mal aufrichtige Freude, Rührung oder Mitleid empfunden? Oder gar etwas, das den Namen Liebe verdient?
Dabei war ich früher ein impulsiver Mensch, habe mich manchmal fast zu sehr meinen intensiven Gefühlen hingegeben. Wenn ich mich nur an diese unbeschreibliche Freude beim ersten Anblick meiner kleinen Tochter erinnere! Ganz unmännlich habe ich damals vor der Hebamme und den Schwestern geweint. Oder diese tiefe Trauer beim Begräbnis meiner Mutter. Die unermessliche Wut angesichts der Mobbingmethoden meines ehemaligen Vorgesetzten einem jungen Kollegen gegenüber. Das schöne Gefühl stiller Vertrautheit und Dankbarkeit, das ich oft empfand, nachdem ich mit Silvia geschlafen hatte - wann ging es verloren?
Heute berührt mich alles nur noch an der Oberfläche: Scherze mit Freunden, geschäftliche Verhandlungen, Umarmungen meiner Tochter, Sex mit meiner Frau. Nicht einmal die Musik vermag den unsichtbaren Panzer, der mein Inneres umgibt, noch zu durchdringen...
Irgendetwas muss geschehen, damit ich diese Distanz zu meinen eigenen Handlungen, zu den Menschen, die mich umgeben, und letzten Endes zu mir selbst überwinden kann. Irgendwie muss ich wieder lernen, mich lebendig zu fühlen.
Ich will sie wieder spüren, all diese Gefühle, genauso tief wie früher.
Vielleicht sollte ich mir einen Psychotherapeuten suchen. Oder eine Geliebte?
Jedenfalls hole ich mir nun doch noch ein Glas Wein aus der Küche und drehe auch endlich den Wasserhahn ordentlich zu.
Im Vorzimmer begegne ich meiner Tochter, die schlaftrunken Richtung WC schlurft.
„Hallo Kerstin!“
„Hallo Papa. Trinkst du wieder Wein?“
Ich erwidere nichts; ein wenig schäme ich mich wegen des Wortes „wieder“ in Kerstins Satz.

Im Wohnzimmer stelle ich mich mit dem Weinglas ans Fenster und schaue zum gegenüberliegenden Wohnblock hinüber. Nur noch in einem der vielen Fenster brennt Licht. Es ist ja auch schon nach eins. Langsam sollte ich wohl auch... immerhin muss ich um halb sieben aufstehen. Silvia schläft sicher schon längst.
Wer schreit denn da unten? Vor unserem Haus läuft eine Frau hin und her. Muss wohl betrunken sein. Erkennen kann ich sie vom siebten Stock aus nicht. Aber – da liegt doch auch etwas vor dem Haus! Ein Körper? Ist die Frau deshalb so aufgeregt? Hat da etwa jemand...?
Schrecklich!
Soll ich hinunterlaufen?
Aber ich kann ja ohnehin nichts tun. Die schreiende Frau wird sich schon beruhigen und die Rettung rufen. Vielleicht habe ich mich ja auch geirrt.

Ich trinke mein Glas mit einem Zug leer. Ab ins Badezimmer und dann ins Bett!
Morgen frage ich meinen Kollegen nach der Telefonnummer dieser Frau Doktor – hab den Namen seiner Therapeutin vergessen.
Leise öffne ich die Schlafzimmertür und nähere mich dem Bett. Seltsam, Silvia hat heute die Rolläden gar nicht heruntergelassen!
Im Halbdunkel erkenne ich, dass das Doppelbett auch auf Silvias Seite leer ist.
Erst jetzt fällt mir auf, dass das Fenster weit geöffnet ist.
Der kalte Luftzug, der hereindringt, lässt mich frösteln.
 



 
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