Auferstanden von den Toten

Morales

Mitglied
Eva hatte genug. Zelko und Boris führten sie aus der schäbigen »Klinik« des Pfuschers, der ihr gerade das letzte Schöne in diesem Leben geraubt hatte. Ihr Kind gehen zu sehen, abgesaugt wie Dreck auf dem Boden, hatte sie zerschmettert. Sie war in Tränen ausgebrochen. Auch wenn sein Vater ein verabscheuungswürdiges Ekel war, wäre es doch ihr Kind gewesen. Als sie nun in den dunklen Hinterhof traten, der in eine schmuddelige, gepflasterte Gasse Richtung Altstadt führte, fühlte sie gar nichts mehr. Die Nacht war so düster wie ihr Gemütszustand. Ihr Kopf war leer. Bis auf einen Gedanken, der wie Feuer brannte. Sie wusste, dass sie es nicht länger aushielt.
Sie stieß Zelko ihren Ellenbogen in den dicken Bauch und schlug Boris mit ihrer Handtasche ins Gesicht. Und dann rannte sie. Sie trug Stiefel mit hohen Absätzen und hatte Mühe, Abstand zu halten. Bei jedem Schritt hatte sie stechende Schmerzen als Folge des Eingriffs, doch sie biss die Zähne zusammen und lief so schnell es ihre Stiefel auf dem unebenen Weg zuließen. Boris und Zelko rannten ihr schnaufend hinterher. Die beiden waren zwar stark, aber nicht besonders schnell. Sie hatte eine Chance. Sie sah das Ende der Gasse, das Licht der befahrenen Straße. Dort würden Passanten sein. Vor denen würden die beiden Schläger nicht wagen, sie anzufassen. Hoffte sie. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter. Der Abstand war größer geworden, sie ließ die beiden hinter sich. Ein leichtes Lächeln bildete sich in ihrem schmerzverzerrten Gesicht. Die letzten Meter lagen vor ihr.
Und dann stolperte sie.
Sie fiel direkt auf ihre Knie. Noch mehr Schmerzen durchfuhren sie. Ihr Absatz steckte noch zwischen den zwei Pflastersteinen. Auf dem Bauch liegend, sah sie Boris und Zelko herannahen. Sie versuchte aufzustehen, doch es war zu spät. Boris packte sie an den Haaren und schlug ihr mit voller Kraft ins Gesicht. Ihr Kopf fiel auf den harten Boden, doch sie spürte nur den Schlag. Ihre linke Wange lag auf dem nassen Straßenpflaster, ihr rechtes Auge begann schon zuzuschwellen. Sie versuchte zu blinzeln, doch bekam das Auge nicht auf. So sah sie nur die Füße ihrer Peiniger.
»Du Idiot. Nicht ins Gesicht. Sie muss doch noch arbeiten«, sagte Zelko auf Rumänisch.
»Fick dich und fick sie. Der Doktor hat gesagt, sie kann eh erst mal nicht arbeiten«, antwortete Boris ebenfalls auf Rumänisch. »Sie wollte abhauen. Wir müssen ihr eine Lektion erteilen. Sonst kommen die anderen Mädchen noch auf die Idee, es ihr nachzumachen.« Boris kniete sich wieder zu Eva hin und blickte ihr tief ins Gesicht. »Du rennst so schnell nicht mehr weg, wenn ich mit dir fertig bin, Schlampe.« Dann stand er auf und trat ihr in die Magengrube. Die Luft blieb ihr weg und sie dachte, sie müsse sich übergeben.
»Scheiß drauf. Zeigen wir's der Hure«, drang Zelkos Stimme von irgendwoher dumpf an ihr Ohr. Sie sah nur seine Füße auf sie zukommen.
Eine weitere Stimme, ruhig und doch durchdringend, hallte durch die Gasse. An ihrem Ende stand eine Gestalt, das Licht der Straße im Rücken, sein Gesicht in Schatten gehüllt. »Ihr werdet sie in Ruhe lassen.« Der Mann sprach auch Rumänisch, doch mit einem Dialekt, den Eva noch nie zuvor gehört hatte.
Zelko blieb stehen. »Du verpisst dich besser. Das hier geht dich nichts an.«
Der Mann schlenderte ruhig auf sie zu. Er war groß und bleich, hatte langes, schwarzes Haar und einen Vollbart. Er trug nur schwarz. Sein langer Mantel flatterte bei jedem Schritt. Wieder sprach er mit dieser Stimme, die obgleich leise, ja fast schon geflüstert war, die Luft zu durchschneiden schien. »Lasst die Frau gehen.« Es war keine Bitte, sondern ein Befehl.
»Du weißt wohl nicht, wer wir sind.« Boris ging jetzt auf den Fremden zu. Zelko folgte ihm. Sie trugen beide ihre Kutten und Boris deutete auf das Emblem auf seiner Brust, das auch auf seinem Rücken prangte, nur größer: einen Totenschädel mit Wikingerhelm und langem Bart über gekreuzten Streitäxten. Das Logo der Vikings, Motorradgang und Zuhälterbande.
Der Mann war jetzt von den breiten Rücken der beiden muskulösen Männer verdeckt. Eva machte sich Sorgen. Der Mann konnte es niemals mit Boris und Zelko aufnehmen. Er war zwar groß, aber schmächtig, und die beiden anderen hatten schon an hunderten Straßenkämpfen teilgenommen. Das Aufnahmeritual der Vikings war es, ein verfeindetes Gangmitglied mit einer Axt zu erschlagen.
»Siegel haben schon lange keine Bedeutung mehr für mich«, sagte der Fremde.
Er war die ganze Zeit weitergeschlendert. In ein paar Momenten würden sie aufeinandertreffen, und Boris zog sein Butterfly aus der hinteren Hosentasche. Doch dann blieben die zwei Zuhälter stehen. Eva sah nicht warum. Doch Boris ließ das Messer fallen und wich zurück. Zelko tat es ihm gleich. Sie gingen rückwärts und erhoben die Hände. »V-v-vergessen wir das Ganze. Du kannst sie haben. Nimm sie. Nimm nicht uns. Nimm sie!« Zelkos Schrei wurde erstickt. Eva sah nicht, was passierte, außer das Zelkos Beine über dem Boden baumelten. Sie hob den Kopf ein Stück, doch bei dem Versuch schoss ein starker Schmerz durch ihren Schädel und sie wurde sofort benommen. Sie ließ ihn wieder zurück auf den kühlen Boden sinken. Sie hörte ein Schmatzen und ein Saugen. Boris stand neben den beiden anderen, zappelte, aber schien nicht fortzukommen. Es sah aus, als versuchte er, sich von irgendetwas loszureißen. Zelko hingegen hatte aufgehört zu zucken. Seine Beine hingen schlaff herunter.
»Aaaaah! Aaaaaah! Aaaaaaah!« Boris schrie wie verrückt. Er schien sich in die Hose gemacht zu haben.
Zelko plumpste hart auf den Boden, den Rücken zu Eva gewandt. Er bewegte sich nicht. Der Totenschädel auf seiner Kutte grinste sie hämisch an. Boris schrie immer noch wie wahnsinnig, bis er ebenfalls nach oben gezogen wurde. Nein, nicht gezogen, gehoben. Der Fremde stand neben Boris, sah sie jetzt, und hob ihn wohl hoch. Und dann hörte sie ein Geräusch, das ihr einen kalten Schauer die Wirbelsäule hinunterjagte. Wie ein wildgewordener Wolf, der in seine Beute biss, hörte es sich an. Das Reißen von Muskeln und Sehnen und das Brechen von kleinen Knöchelchen erstickte Boris' Geschrei. Er war verstummt. Was passierte hier? Blut tropfte von seinem Körper auf die Pflastersteine und vermischte sich mit seinem Urin. Dann fiel er selbst in diese Lache. Seine Augen glotzten sie an, weit aufgerissen, glasig und lebensleer.
Evas erster Instinkt war zu schreien, doch als sie den toten Mann sah, fühlte sie keine Angst, sondern Befriedigung. Sie versuchte wieder hochzublicken. Der Fremde wischte sich mit seinem Ärmel übers Gesicht. Als er bemerkte, dass sie ihn sah, kam er auf sie zugeschlendert und beugte sich zu ihr hinunter.
»Es tut mir leid, dass du das miterleben musstest.« Er streckte seine Hand aus und legte sie sanft auf ihr geschwollenes Auge. Sie war kalt.
»Was - was hast du mit Boris und Zelko gemacht?«
»Das waren also ihre Namen ... Boris und Zelko.« Es wirkte, als würde er sich die Namen auf der Zunge zergehen lassen. »Die beiden sind keine Bedrohung mehr für dich. Wie ist dein Name?«
»Eva«, antwortete sie verunsichert.
»Eva. Ein schöner Name. So rein.«
Eva wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte. Sie hatte sich schon lange nicht mehr rein gefühlt.
»Ich nehme an, du warst in dem Etablissement dieser beiden untergebracht.« Er deutete mit einer Kopfbewegung hinter sich, zu den zwei Toten. Eva nickte. »Ich bringe dich an einen Ort, an dem du keine Angst mehr haben musst. Schließ einfach die Augen.« Eva wollte die Augen nicht schließen. Was, wenn sie sie nie wieder öffnen würde? Doch als der Mann mit seiner bleichen Hand sacht über ihre Lider fuhr, fiel sie in einen tiefen Schlaf.

Eva wachte in einem großen, weichen Bett auf. Der Raum, in dem sie sich befand, schien sehr groß zu sein, soweit sie es erkennen konnte. Die Rollläden waren heruntergelassen und das Zimmer in Dunkelheit getaucht.
»Schön. Du bist wach. Geht es dir besser?« Die Stimme des Fremden drang aus einer Ecke. Er trat aus dem Schatten und setzte sich zu ihr auf die Bettkante.
»Was bist du?«, fragte Eva.
»Das ist ziemlich unhöflich, findest du nicht? ›Was bist du?‹« Der bleiche Mann klang empört und drehte sich zu ihr. »›Wer bist du?‹ wäre doch wohl angebrachter.«
»Du - du hast Boris und Zelko gefressen.« Eva wich vor ihm zurück und zog die Decke an ihr Kinn. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nicht ihre Klamotten trug. Sie hob die Decke und sah, dass sie einen Pyjama anhatte. »Wem gehört der? Wo bin ich? Wer bist du?«
Der Mann atmete tief durch. »Sooo viele Fragen. Aber ich verstehe deine Verwirrung. Zunächst einmal: ich habe diese zwei Schandflecke nicht gefressen. Ich habe sie nur um ein paar Liter Blut erleichtert.«
Eva bekreuzigte sich und begann das »Vater unser« zu sprechen.
»Ach, lass das doch bitte. Das weckt schlechte Erinnerungen. Und du bist nicht in Gefahr. Ich werde dir nichts tun.« Er nahm ihre Hand in die seine, und Eva wurde ruhig. »So, und nun weiter. Du befindest dich zur Zeit in einer Villa auf dem Trillerberg. Der Pyjama ist ein Geschenk der Besitzer. Sie haben mir ihr Domizil fürs Erste überlassen. Und mein Name ist Lazar.«
»Bist du Rumäne?«
»Noch mehr Fragen ...« Lazar rollte mit den Augen. »Man kann sagen, ich komme aus Rumänien. Auch wenn der Landstrich, aus dem ich stamme, einen anderen Namen trug, als ich ihn verließ. Ich bezeichne mich aber lieber als Weltenbürger. Ein schönes, modernes Wort, das ganz gut auf mich zutrifft. Ich bin nie allzu lange am selben Ort.«
»Was machst du in Sturmhav?«
»Ich glaube, jetzt bin ich mal dran mit fragen. Was machst du in Sturmhav? Und dazu noch in so schlechter Begleitung.«
Eva blickte beschämt auf ihre Decke. Dann, sie wusste nicht warum, erzählte sie ihm alles.

Eines Tages waren ein paar Männer in ihr Heimatdorf gekommen und hatten ihr und ihrer Familie erzählt, dass in Deutschland das Paradies auf Erden auf sie warte. Anständige Arbeit, die gut bezahlt würde. Genug, um sogar ihre Familie zu unterstützen. Wie konnte ein armes Bauernmädchen aus einem abgelegenen Dorf ohne Arbeit zu diesem magischen Ort der Völlerei und des Wohlstands Nein sagen. Die große, weite Welt zu sehen, ein Abenteuer zu erleben, das klang so verlockend.
Doch als sie im kalten Sturmhav ankam und ihr der Wind ins Gesicht peitschte, kamen ihr die ersten Zweifel, die schnell wuchsen. Die Stadt hatte schöne Teile wie das reiche Ilsbüttel oder den Trillerberg mit seinen Villen, in einer von denen sie sich jetzt anscheinend befanden. Doch dort landete sie nicht. Sie wurde in einem kleinen Raum in der Altstadt Sturmhavs eingesperrt, dem Vergnügungsviertel nahe dem Hafen und den noch schlimmeren Vierteln Gladsheim und Kreuzschlag. Das Vergnügen hatten jedoch nur andere.
Die Männer, die sie mit süßen Worten gelockt hatten, nahmen ihr den Reisepass und all ihre sonstigen Habseligkeiten weg, schlugen und vergewaltigten sie mehrere Tage lang. Doch selbst als ihr Körper genauso vernarbt war wie ihre Seele, verlor sie nicht ihren Kampfgeist. Sie kratzte und biss jeden, der sich ihr näherte, spuckte und fluchte. Doch wenn ein Mann nicht stark genug war, ihrer Herr zu werden, kamen ihm die anderen zu Hilfe. Jeden Abend weinte sie sich in den Schlaf, um am Morgen wieder zu kämpfen. Doch als sie damit drohten, ihre kleine Schwester auch nach Deutschland zu holen, ihr das Gleiche anzutun und ihre Familie zu töten, gab sie klein bei und fügte sich in ihr Schicksal. Von da an musste sie ihren Körper für Geld feilbieten. Zunächst für die Freunde ihrer Geiselnehmer, dann, als sie wussten, dass Eva nicht weglaufen würde, in einem Laufhaus für die ganze Welt.
Sie verließ nie das winzige, nach billigem Parfüm, Gleitmittel und Körperflüssigkeiten stinkende Zimmer, in das sie sie gesperrt hatten. Wenn sie beim Sex weinte oder der Kunde unzufrieden war, wurde sie geschlagen. Nie ins Gesicht, da das schlecht fürs Geschäft war, dafür in den Magen oder die Nieren. Eva dache oft über Flucht nach, doch wohin hätte sie gehen sollen? Ohne Pass kam sie nicht weit, sie kannte niemanden und die Sprache beherrschte sie nicht. Und im Hinterkopf hatte sie immer die Drohung, was die Männer ihrer Familie antun würden, sollte sie fliehen.
Zumindest die Sprache lernte Eva schnell. Sie war nicht dumm, mit Hilfe von ins Bordell geschmuggelten Wörterbüchern brachte sie sich sogar selbst das Lesen bei. Und auch über das Land, in dem sie jetzt lebte, erfuhr sie viel durch Gespräche mit den Freiern. Sie zwang sich freundlich zu sein, denn sie wusste, was ihr sonst blühte. Und da sie sowieso keine andere Wahl hatte, versuchte sie diesen Umstand wenigstens zu ihrem Vorteil zu nutzen. Die Männer dachten dann immer, sie wären besonders tolle Hengste und Eva hätte Spaß daran, wenn ihre verschwitzten, stinkenden Körper über den ihren rieben und ohne Rücksicht ihre erbärmlichen Würste in ihre wunden Löcher hämmerten. Sie hasste sie alle.
Sie hatte oft über Selbstmord nachgedacht. Und über ihre kleine Schwester, die in ein paar Jahren die Aufmerksamkeit dieser Monster erregen würde. Sie zwangen Eva, ihrer Familie Briefe zu schreiben, in denen sie davon schwärmte, wie gut es ihr hier doch ginge. Dazu durfte sie immer einen lächerlich kleinen Anteil ihres Verdienstes legen. Doch sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass wenigstens das bisschen Geld ihrer Familie zugutekam. Diese Briefe waren die einzigen Lichtblicke in ihrem Leben, doch selbst sie waren immer von der Angst überschattet, dass sie irgendwann ihre Schwester hierher einladen sollte. Adriana war schon ganz begierig, ihrer großen Schwester in das Land aus Milch und Honig, das sie ihr versprach, zu folgen. Sie hätte sich umgebracht, um das zu verhindern. Sie sah sowieso nicht mehr viel Sinn im Leben. Doch sie wusste, dass das nichts ändern würde. Und lebendig hatte sie wenigstens noch die Hoffnung, es vielleicht doch irgendwie verhindern zu können. Jeden Tag dachte sie über einen Weg nach, zu entkommen, und ihre Familie zu retten. Und jeden Tag ging sie zu Bett ohne eine Idee, wie das zu schaffen sei.
Als sie dann schwanger wurde, änderte sich alles. Sie hatte es lange nicht bemerkt. Sie wusste auch nicht, wie es passiert war, geschweige denn, von wem das Kind stammte. Doch sie wusste, dass sie es liebte. Endlich war wieder etwas Schönes in ihr Leben getreten. Also versuchte sie, es geheim zu halten. Sie schob die Gewichtszunahme auf das Essen und ließ sich nie etwas zuschulden kommen, um ja keine Schläge zu riskieren. Doch es dauerte nicht lange bis Dano, der Chef des Laufhauses, sie durchschaute. Als er davon erfuhr, fiel seine Entscheidung schnell. Das Kind musste weg.
Eva bettelte und flehte, versprach, dass sie nie wieder aufbegehren werde, Danos bestes Mädchen werde, solange sie nur das Kind behalten durfte. Doch Danos Willen war eisern und sein Herz kalt. Also beauftragte er eines Abends seine Untergebenen Boris und Zelko, die sture Nutte zu Doktor Meißner zu bringen. Der ehemalige Gynäkologe hatte ein Alkoholproblem und er hatte seine Approbation verloren, als ans Licht kam, dass er Patientinnen unter Narkose befummelt und fotografiert hatte. Jetzt betrieb er eine schmuddelige Hinterhofklinik, in der er Abtreibungen und Behandlungen von Geschlechtskrankheiten für die vielen Mädchen der Vikings vornahm, da diese ja nicht in Deutschland registriert waren und ein Zusammentreffen mit den Behörden nicht in der Absicht der Zuhälter lag.
Als der Arzt mit einem Rülpser verkündet hatte, dass alles draußen wäre, war Eva zusammengebrochen. Doch Boris und Zelko kannten kein Mitleid, und als sie die Klinik verließen, hatte Eva es nicht mehr ausgehalten und war weggerannt.

Eva wischte sich die Tränen weg. »Und jetzt bin ich hier.«
»Und jetzt bist du hier ...« Lazar sah sie nachdenklich an. »Ich will, dass du mir alles über das Haus erzählst, in dem du festgehalten wurdest: wo es genau liegt; wie groß es ist; wie viele Stockwerke und Zimmer es hat; wie viele Mädchen dort arbeiten; was das für Männer sind, die euch dort festgehalten haben; ob sie bewaffnet sind; was für Waffen sie besitzen; was sie essen; was ihre Gewohnheiten sind. Ich muss einfach alles über sie wissen.«
»Wozu brauchst du diese Informationen?«
»Nun, kleine, unschuldige Eva, du hast mir deine Geschichte erzählt. Jetzt lass mich dir ein paar Dinge über mich erzählen.«
Eva fragte sich, ob sie diese Dinge überhaupt wissen wollte, doch dann sagte sie: »In Ordnung.«
»Wie du vielleicht schon bemerkt hast, bin ich etwas stärker als es zunächst den Anschein hat. Und mein Teint stammt auch nicht gerade von Strandspaziergängen. Aber das ist noch nicht alles. Ich habe dir vorhin schon gesagt, dass ich das Blut deiner zwei Wächter getrunken habe, was du erstaunlich ruhig aufgenommen hast.«
»Ich weiß nicht wieso, aber in deiner Gegenwart fühle ich mich sicher.«
Lazar schmunzelte. »Von mir droht dir keine Gefahr. Ich habe schon vor sehr langer Zeit beschlossen, dass ich unschuldiges Leben nicht zerstören werde. Und du, Eva, bist unschuldig. Egal, was irgendjemand anderes behauptet.«
Eva errötete ein wenig.
»Du hast mich vorhin gefragt, was ich bin. Ich mag diese Frage wirklich nicht, doch hat sie ihre Berechtigung. Ich war einmal ein Mensch wie du, doch das ist schon lange her. Wie es dazu gekommen ist, dass ich bin, was ich bin, braucht dich nicht zu interessieren. Es ist eine traurige Geschichte. Doch nach meiner Transformation schwor ich, nie so zu werden wie die Person, die mich zu dem machte, den du hier vor dir siehst.
Ich brauche Blut zum Überleben, menschliches Blut. Wenn ich es nicht trinke, verdorre ich. Ich wollte nie einen Menschen töten. Doch dafür blieben mir nur zwei Alternativen: auf das Morgengrauen zu warten und in Flammen aufzugehen oder kein Blut zu trinken. Also probierte ich zweiteres. Doch als ich immer schwächer wurde, merkte ich, dass ich nicht sterben wollte. Ich mag das Leben. Wenn man das noch Leben nennen kann, was ich seit meiner Verwandlung führe. Ich fragte mich, was wäre, wenn dieser Zustand, in den ich versetzt worden war, keine Strafe, sondern eine Gabe sei? Was, wenn ich damit Gutes tun könnte? Böse Menschen von ihren Untaten abhalten.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich nach meiner selbstauferlegten Hungertortur die erstbeste Magd aussaugte, die mir über den Weg lief. Entsetzt von meiner Schandtat, schwor ich mir, nie wieder unschuldiges Leben zu nehmen. Fortan würde ich nur noch die heimsuchen, die Leid über diese Erde brachten. Und bis zur heutigen Nacht bin ich diesem Schwur treu geblieben. Es gibt viele Namen für das, was ich bin, und viele Geschichten über Angehörige meiner Art, die mal mehr, mal weniger zutreffen. Du kennst mich vielleicht als Strigoi, doch die meisten Menschen würden mich wohl als Vampyr bezeichnen.«
Eva wollte sich an die Stirn fassen, um sich zu bekreuzigen, überlegte es sich dann jedoch anders und legte sie auf Lazars bleiche, kalte Hand. »Das muss schwer für dich sein.«
Lazar blickte sie überrascht an. »So viel Mitgefühl. Nach allem, was du durchstehen musstest ... Du bist wahrlich ein erstaunlicher Mensch.«
»Genug süße Worte. Warum willst du das alles von mir wissen?«
»Ich werde deine Probleme aus der Welt schaffen. Du musst mir nur alles erzählen, wonach ich dich gefragt habe.«
Eva vertraute dem Fremden erstaunlicherweise und so erzählte sie ihm alles, was sie wusste, und er hörte aufmerksam zu, jedes noch so kleine Detail aufsaugend. Als sie fertig war, stand er auf und sagte: »Du musst müde sein, nach der langen Nacht. Es ist schon fast Morgen. Was hältst du davon, wenn wir uns hinlegen?«
»Hört sich gut an«, sagte Eva, obwohl sie bezweifelte, schlafen zu können.
»Ich werde erst nach der Dämmerung wieder zu dir stoßen. Wenn du aufstehst, findest du auf dem Gang zu deiner Rechten das Bad. Unten ist die Küche mit allem, was du zum Essen benötigst. Nimm dir auch aus dem Schrank Kleider, sie sind wirklich schön. Fühl dich wie zuhause. Das mache ich auch. Doch egal, was du tust, lass nicht die Rollläden hoch und komm nicht in den Keller.«
Eva überlegte kurz, ob sie fragen sollte, warum, doch Lazar schien es sehr ernst damit und so nickte sie einfach nur.

Als sie aufwachte, wusste sie zunächst nicht, ob es schon Tag war, denn durch die Fenster drang kein Licht. Als sie die Deckenlampe einschaltete, verschlug es ihr den Atem. Das Zimmer, in dem sie sich befand, war atemberaubend schön. Alles in Weiß und Schwarz gehalten und von feinster Qualität. Sie öffnete den Kleiderschrank und fuhr mit der Hand durch die erlesenen Stoffe. Ihre Wahl fiel auf ein rotes Abendkleid. So etwas hatte sie noch nie getragen und vielleicht würde sie auch nie wieder die Möglichkeit dazu haben, also griff sie zu. Danach fischte sie eine diamantbesetzte Halskette und die passenden Ohrringe aus der Kommode unter dem Schrank und stiefelte in neuen Pumps Richtung Badezimmer.
Eigentlich hatte sie nur kurz auf die Toilette gehen wollen, doch als sie in den Spiegel schaute, stellte sie fest, wie nötig sie ein Bad hatte. In ihrem jetzigen Zustand war sie ihrer Garderobe nicht würdig, befand sie, also schlüpfte sie schnell aus dem Kleid und ließ warmes Wasser in die Wanne laufen. Als diese voll war, schmiss Eva alles, was sie finden konnte, hinterher, Badesalze und Schaumbäder, bis es blubberte und schäumte. Als Eva aus dem »Hexenkessel« stieg, fühlte sie sich wie ein neuer Mensch. Sie ging direkt ins Schlafzimmer zurück und zog ein neues Outfit an. Noch ein Abendkleid, diesmal blau, mit einem Pelz darüber und Perlenschmuck an Hals und Ohren.
So schick gemacht, wagte sie sich endlich die Treppe hinunter. Die Wohnung war ein Wunder aus Luxus und Überfluss. Doch Eva hatte sich daran satt gesehen und wollte lieber die Aussicht genießen. Sie öffnete die massive Haustür und ging hinaus. Es war ein trüber Tag und kalt, doch das war es wert. Eva kuschelte sich in ihren Pelz und betrachte diese Stadt, von der sie bis jetzt nur so wenig gesehen hatte, und die sie so schlecht behandelt hatte. Von hier oben sah sie fast schön aus.
Der Trillerberg war in sattes Grün getaucht. Auf seiner Spitze thronte die Burg Hohentrillern, Sitz derer von Pfeiffen, und zu seinen Füßen lag Sturmhav. Die Stadt erstreckte sich entlang der Ilse bis hin zum Meer und über die ganze Bucht. Im Westen sah Eva den Leuchtturm, im Osten Helbek und das Gefängnis, in dem sicher einige der Vikings saßen. Dieser Gedanke riss sie jedoch jäh aus ihren Tagträumen und verbannte sie aus diesem Paradies, das ihr nicht zustand.
Sie ging wieder hinein, doch an der Tür hielt sie und warf einen Blick auf den Briefkasten. Die Zeitung versperrte den Blick auf den Namen, also nahm sie sie heraus. Feinsteiner hießen die glücklichen Besitzer dieses Anwesens also. Das sagte ihr nichts und so ging sie weiter, die Zeitung unterm Arm.
So langsam bekam sie Hunger. In der Küche warf sie das erste Mal einen Blick auf eine Uhr. Es war bereits fünfzehn Uhr zwanzig. Sie warf die Zeitung auf den Tisch und durchforstete den Kühlschrank. Paprika und frisches Hackfleisch waren schon mal da. Zwiebeln, Knoblauch und Tomaten fand sie auch. Der Gewürzschrank war voll. Perfekt! Sie hatte schon so lange nicht mehr selbst gekocht, dass sie nicht wusste, ob sie die gefüllten Paprika so hinbekommen würde, wie sie ihre Mama gemacht hatte, doch sie hatte unbändige Lust, wieder einmal selbst Essen zuzubereiten. Denn das Bordell hatte sie nicht verlassen und auch nicht selbst kochen dürfen. Die Mädchen hatten all die Zeit immer nur Fast Food zu essen bekommen.
Eva schmiss nur den Pelzmantel in eine Ecke und ließ den Rest der feinen Kleider an. Wenn sie sich einsaute, gab es oben ja noch genug Klamotten zum Wechseln. So kochte sie in ihrem Abendkleid Ardei Umplu?i, wie es ihre Mutter gemacht hatte.
Es schmeckte himmlisch. Sie konnte es noch. Als sie fertig war und vollgestopft am Küchentisch saß, fiel ihr Blick auf die Zeitung. Sie schlug sie auf und begann zu lesen. Mit vielen Themen konnte Eva nichts anfangen, da sie nie von ihnen gehört hatte, trotzdem sog sie deren Information auf. Sie verschlang die Zeitung. Es machte ihr so viel Spaß, endlich etwas über die Welt da draußen zu erfahren, dass sie gar nicht bemerkte, wie die Zeit verging. Bis sie zu einer Überschrift gelangte, die sie stocken ließ.

»Mutmaßliche Bandenmitglieder brutal ermordet«

Laut dem Artikel wusste die Polizei noch nicht genau, wie die Opfer so zugerichtet worden waren, doch sie war sich sicher, dass der Mörder äußerst ruchlos und gefährlich sein müsse. Er habe die zwei Männer, die der Rockergruppierung "Vikings" angehört hätten, brutal an der Kehle verstümmelt, ihnen die Herzen entfernt und sie zum Ausbluten in einer Kreuzschlager Gasse liegen gelassen. Auf Nachfrage eines Reporters, wo denn das ganze Blut der Opfer geblieben sei, konnte der zuständige Polizeisprecher noch keine Auskunft geben.
»Spannende Lektüre?« Lazars Stimme riss Eva aus ihren Gedanken.
Er stand direkt vor ihr, als sei er aus dem Nichts aufgetaucht. Er trug seine Kleidung vom Vortag und war so bleich wie eh und je.
»Oh, habe ich dich erschreckt? Das wollte ich nicht. Ich sehe, du hast gekocht.«
Eva schluckte. »Ja. Nimm dir bitte. Es ist noch was übrig.«
»Nein, danke. Mir bekommt Knoblauch nicht so gut und ich will mir nicht den Appetit verderben.«
»Woher weißt du, dass ich Knoblauch verwendet habe?«
»Ich habe eine gute Nase. Aber das hätte auch jemand mit schlechter ausgeprägten Sinnen als ich erschnuppert.«
Eva lief rot an. »Ich mag Knoblauch eben.«
»Ich mochte es früher auch.« Lazar wirkte schwermütig. »Doch genug davon. Die Dämmerung hat vor ein paar Minuten geendet, die Sonne ist untergangen. Es wird Zeit für mich zu gehen.«
Eva wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wollte nicht, dass Lazar sich in Gefahr begab. Aber sie wusste, dass die einzige Möglichkeit, keine Angst mehr zu haben, die Abrechnung mit ihren Peinigern war. Sie dachte an die unvorstellbaren, endlosen Schmerzen, die sie ihr zugefügt hatten. An die Schläge, die Vergewaltigungen, an ihre Familie ... und an ihr nie geborenes Kind.
»Ich komme mit. Ich helfe dir«, sagte sie entschlossen.
»Du kannst nicht mitkommen. Was ich vorhabe, ist zu gefährlich für dich.«
»Ich kann dir helfen.«
»Du hast keinen Platz in meinem Plan. Es tut mir leid. Ich weiß, du willst Rache nehmen, doch mich zu begleiten wäre dein Verhängnis.«
Doch Eva blieb stur. »Ich komme mit. Es ist Zeit, mein Leben zurückzugewinnen.«
Lazar blickte sie nachdenklich an. Nach einer langen Pause sagte er: »Na gut, kleine Eva. Dann zieh dir etwas anderes an. Doch zunächst komm einmal näher. Ich möchte dir meinen Plan verraten.«
Eva trat auf ihn zu. Seine Augen waren so einladend.
»Komm näher«, sagte er und winkte sie mit seinem Finger zu sich. »Ich werde dich schon nicht beißen.« Er lächelte.
Doch das war, von einem Vampir stammend, eine zu seltsame Aussage. Eva schüttelte kurz ihren Kopf und dachte wieder frei. »Warum muss ich dafür zu dir kommen?«
Doch sie war schon nah genug. Lazar packte sie, kraftvoll, doch ohne sie zu verletzen, legte seine bleiche, kühle Hand ein zweites Mal auf ihre Augen und schob ihre Lider nach unten. Alles wurde schwarz.

Die Nächte in Sturmhav waren nie wirklich düster. Zu viele Lichter, die die Straßen erleuchteten. Doch heute war zudem Vollmond. Er stand hoch und schien wie ein Loch im Himmel zur anderen Seite des Seins, eine Welt voller Helligkeit. Solch eine Welt kannte Lazar schon sehr lange nicht mehr.
Er stand vor dem Freudenhaus, das so vielen unschuldigen Mädchen die Freude für immer genommen hatte. Was hatte es mit dieser Stadt auf sich? Wie konnte so viel Schlechtes an einem Ort passieren? Er erinnerte sich an vergangene Zeiten. Sturmhav war schon ein brodelnder Kessel gewesen, als Lazar das erste Mal seinen Fuß auf dessen Straßen gesetzt hatte. Es war ein Magnet für Ärger und die, die ihn suchen.
Die Jahre zogen vor seinem geistigen Auge vorüber. Seuchen, Kriege, Terror - alles hatte diese Stadt schon erlebt. Er hatte zu lange weggesehen. So viel Leid hätte er verhindern können, hätte er nur die richtigen Leute rechtzeitig ausgeschaltet. Doch das hätte Aufmerksamkeit erregt, die er sich nicht leisten konnte. Nun stand er wieder vor der Wahl, die Welt ihren Lauf nehmen zu lassen oder sich zu offenbaren und etwas zu ändern. Er hatte sich entschieden. Zu Gunsten von Eva und all der Frauen, denen es in diesem Sündenpfuhl genauso erging, wie ihr. Es würde den Orden auf den Plan rufen, doch er hatte genug. Er nahm dieses Risiko in Kauf. Er würde ein Zeichen setzen.
Das Gebäude war alt, er kannte es noch aus der Zeit vor dem zweiten großen Krieg. Damals hatten hier Familien gelebt. Doch die Fliegerbomben hatten es bis auf die Grundmauern zerstört. Nach dem Wiederaufbau war es nicht mehr dasselbe. Die Altstadt war einmal so prächtig gewesen. Jetzt bestand sie nur noch aus Kneipen, Bordellen und Stripclubs.
Er stand in einer ruhigen Seitengasse und blickte hoch zum vierten Stock des Hauses. Dort musste er hin. Doch zunächst musste er sichergehen, dass niemand die Mädchen aufhielt. Er ging zum Eingang. Zuletzt hatte er in der vorigen Nacht getrunken und er bekam so langsam Hunger. Es war Zeit, sich zu stärken.
Wie beim Brustschwimmen schob er die Plastikstreifen, die am Türrahmen herunterhingen und den Eingang versperrten, auseinander und glitt durch die so geschaffene Lücke. Dahinter erwartete ihn ein großer, bulliger Mann mit Glatze und Tätowierungen. »Guten Abend«, sagte Lazar. Der Mann hatte keine Möglichkeit mehr zu antworten. Lazar biss ihm direkt in die Kehle. Das heiße Blut füllte seinen Mund und floss seine Kehle hinunter. Mit jedem Schluck fühlte er die Kraft in seinen Körper strömen. Der Mann zuckte noch eine Weile, doch als Lazar ihn leergesaugt hatte, fiel er schlaff zu Boden. Lazar leckte sich die Lippen und fuhr langsam seine Nägel aus. Sie waren lang und spitz, hart und scharf. Er riss dem noch Toten das Herz heraus. Solch ein Mann, mit Lazars Kräften ausgestattet, wäre ein Übel für die Welt, das konnte er nicht zulassen. Er warf die erschlaffte »Pumpe« in eine Ecke und verließ das Bordell wieder.
Zurück in der Gasse besah er kurz die Wand und fing dann an, zu klettern. Die kleinsten Ritzen und Rillen nutzte er, um sich hochzuziehen, in den kleinsten Unebenheiten klammerte er sich mit seinen Fingerspitzen fest. Und das so schnell, dass er nur ein paar Augenblicke später am obersten Stockwerk angekommen war. Dort hielt er inne und fuhr an der linken Hand erneut seine Krallen aus. Langsam und leise schnitt er ein Loch, das groß genug war, um durchzugreifen, in das Glas der Fensterscheibe neben ihm. Er öffnete das Fenster und stieg hindurch.
Eva hatte ihm genau beschrieben, wie das Haus strukturiert war. Auf jedem Stockwerk gab es mehrere Zimmer mit Prostituierten und eines, in dem die Zuhälter darauf warteten, wenn nötig, bei Ärger einzugreifen. Lazars Erscheinen löste, wie zu erwarten war, Aufruhr bei den Freiern aus, die sich im Gang aufhielten und mit den Mädchen redeten oder sie nur begafften.
»Oglum, wo kommst du her?«, fragte der erste, der ihn bemerkte.
»Nimm deine Freunde und geh!«, befahl Lazar, ohne den jungen Mann wirklich zu beachten.
»Fick dich, lan. Ich mach, was ich will.«
Lazar wandte sich zu dem Burschen, seine Augen blitzten auf, feurige Glut hinter den Pupillen. Sein Gesicht war wie aus Stein gemeißelt und seine kohlschwarzen Augenbrauen wie schweres Metall nach unten gesunken, sein so schönes Antlitz mit Grimm durchziehend.
»Scheiß drauf, man. Alles cool. Kommt, Jungs. Wir gehn.« Der Bursche holte seine Freunde und rannte so schnell er konnte die Treppe hinunter.
Lazar öffnete die erste Tür auf dem Gang. »Raus hier!«, befahl er dem Mann, der gerade am Kopulieren war. Ohne eine Reaktion abzuwarten, ging er zur nächsten Tür und wiederholte das Prozedere. Bevor er bei der letzten Tür angekommen war, trat ein dicker Mann mit langem blonden Haar aus seinem Versteck.
»Was geht hier ab?«, verlangte der Viking zu wissen.
»Ihr treibt junge Mädchen in den Abgrund. Das geht hier ab.«
Lazar packte den Mann an der Kehle, doch biss nicht zu. Er brauchte ihn noch. Der Zuhälter griff mit beiden Händen an Lazars Handgelenk und versuchte sich zu befreien. Als das nicht klappte, boxte er ihm in die Niere. Lazar fuhr unbeeindruckt mit seinem Plan fort. Er schleifte den Mann zurück in sein Versteck und schleuderte ihn in eine Ecke. Dann nahm er das Funkgerät, das auf dem Tisch stand und warf es ihm zu.
»Ruf deine Freunde.«
»Du bist wahnsinnig. Du weißt nicht, mit wem du dich anlegst. Meine Brüder bringen dich um.«
»Dann kannst du es ja wohl nicht erwarten, sie zu rufen." Mit einer lässigen Handbewegung bedeutete Lazar dem dicken Mann, endlich zu tun, was er von ihm verlangte und lehnte sich dann entspannt an die Tischkante. »Und geh sicher, dass alle hochkommen.«
Krrks. Das Funkgerät war an.
»Chef. Hier ist so ein Irrer, der uns alle Kunden vertreibt und mich bedroht.«
Kurze Stille, dann kam die knisternde Antwort aus dem Lautsprecher. »Was heißt hier, er bedroht dich? Bist du ein Mann? Bist du ein Viking? Wirf den Wichser raus.«
»Aber Chef ...«
»Los jetzt, Spider. Oder willst du mich enttäuschen?«
Spider stand widerwillig auf und schaute Lazar unsicher an. Der hatte genug. Er nahm dem Dicken das Funkgerät aus der Hand und stach ihm seine Krallen in den Hals. Spider konnte noch einen erstickten Schrei ausstoßen bevor ihm das Blut aus der Kehle schoss. Lazar riss ihm den Kopf von den Schultern und warf ihn in den Papierkorb.
»Spider?« klang es aus dem Funkgerät. »Spider? Bist du da?«
»Spider ist nicht mehr da und kommt auch nie wieder. Es wird Zeit, dass wir uns kennenlernen.«
»Du verdammter Hurensohn ... Männer! Wir gehen hoch! Das war dein größter und letzter Fehler, du Hund.«
Dann kam nichts mehr aus dem Apparat. Dafür hörte Lazar von unten das Trampeln von Füßen auf Treppenstufen und dumpfes Gebrüll.
Die Mädchen und ihre Freier hatten zum Glück die Vernunft besessen, das Stockwerk zu verlassen, nachdem sich Lazar Spider vorgenommen hatte, und so musste er sich keine Sorgen um Unschuldige machen.
Er wartete im Gang, als die Männer eintrafen. Zwölf Stück. Also waren alle gekommen. Sie trugen alle dieselben Kutten, hatten Schlagringe, Messer, Baseballschläger und alle möglichen anderen Waffen dabei. Sogar drei Hunde hatten sie mitgebracht. Das war ein Fehler.
Ein Mann drängte sich zwischen den anderen durch nach vorne. »Du bist also der Irre, der denkt, er kann sich mit uns anlegen. Was hast du mit Spider gemacht? Wo ist er?«
»Im Müll, wo er hingehört.«
»Du mieser Pisser. Das wird dir noch leidtun. Fasst!«
Der Mann wollte seine Hunde auf Lazar hetzen, doch stattdessen schauten sie ihn nur an.
»Schnappt ihn euch!«, wiederholte er sich.
Die Hunde begannen zu knurren. Er lächelte. Doch dann wandten die Tiere sich um und er bekam Angst.
»Was ist hier los?«
Die Hunde fielen ihn und zwei andere Männer an, rissen ihnen Fleisch von den Knochen und bissen sich in ihnen fest. Die umstehenden Männer halfen ihren Freunden, doch einer der Vikings war bereits tot. Sie erschlugen die Hunde und der Anführer stach dem Pitbull über ihm in den Hals. Er rappelte sich auf, blickte auf die toten Tiere und wischte sich das Blut vom Gesicht. Lazar stand wartend am Ende des Flurs.
»Machen wir den Wichser eben selbst kalt.«
Die übrigen Männer stürmten gleichzeitig auf Lazar zu, brüllend, Keulen schwingend und bereit ihn zu erschlagen. Er duckte sich unter dem Schwung eines Baseballschlägers hinweg und schlitzte dem Angreifer die Bauchdecke mit seinen Nägeln auf. Dessen Eingeweide fielen heraus. Als Lazar wieder nach oben auftauchte, stieß er seine flache Hand, Fingerspitzen voran, in die Kehle des Nächsten. Ein anderer Mann stach ihm sein Messer in die Rippen. Lazar zog es heraus und rammte es dem Mann ins Auge. Von hinten legte jemand eine schwere Eisenkette um seinen Hals und zog zu. Lazar griff mit beiden Händen danach, während ein Viking auf seinen Bauch einschlug. Lazar beugte sich mit einem Ruck nach vorne und warf den Mann mit der Kette über seine Schulter in zwei andere. Er stürzte sich mit einem Sprung auf die am Boden liegenden und weidete sie aus. Vier Männer schlugen mit ihren Keulen auf ihn ein, als er am Boden kniete, doch ihre Waffen zerbrachen nur an seinem harten Rücken. Er stand auf, entriss zweien die zersplitterten Keulen und erstach sie damit. Die anderen zwei wollten wegrennen, doch er warf die Kette nach ihnen. Sie schlang sich um die Füße des einen, der wiederum seinen Freund zu Fall brachte.
Ihr Anführer hatte sich derweil irgendwann während des Kampfes zurückgezogen und ungläubig in eine Ecke am anderen Ende des Ganges verkrochen. Lazars Aufmerksamkeit richtete sich jetzt auf ihn. Als er an den beiden am Boden liegenden Schlägern vorbeikam, zertrat er dem einen den Schädel und brach dem anderen das Genick mit einer schnellen Handbewegung. Dann las er die Kette vom Boden auf und ging weiter. Der Anführer der Vikings rutschte mit seinem Rücken langsam die Wand hinunter in eine Kauerhaltung.
»Warum bist du hier? Was willst du von uns?«
»Ihr habt diese unschuldigen Mädchen gefangen gehalten und ausgebeutet, ohne Mitgefühl oder Menschlichkeit. Dafür müsst ihr zahlen.«
»Du willst Geld? Ich habe Geld. Viel Geld. Das kannst du alles haben. Man kann doch über alles reden. Was sagst du? Scheiß doch auf die Huren.«
Lazar hatte nicht gestoppt und war fast bei dem kauernden Mann. Der hatte seine Hand hinter dem Rücken und zog jetzt eine Pistole.
»Und scheiß auf dich!«
Pa! Pa! Pa! Pa!
Die Schüsse erschütterten das Haus. Doch Lazar blieb ungerührt und ging einfach weiter.
»Was - was bist du?«
Lazar schnaubte. »Wütend.«
Er legte die Kette um den Hals des Bordellbetreibers und zog zu. Seine Augen traten aus ihren Höhlen und schienen fast zu platzen, seine Zunge hing zum Hals raus und er röchelte. Immer enger schnürte sich das Metall um seine Luftröhre und schnitt ins Fleisch. Flehend blickte er Lazar an, doch der zog nur immer fester. Dann war es vorbei.
Lazar stand auf. Draußen heulten Sirenen. Gleich würde die Polizei eintreffen. Zu viele Leute hatten ihn gesehen, als dass er einfach verschwinden konnte. »Ein guter Abgang«, dachte er. Dann nahm er das Messer eines Vikings und stach es sich in die Schläfe.

Als Eva aufwachte, rannte sie sofort nach unten, um zu sehen, wie spät es war. Zehn Uhr ...In der Nacht? Wegen der heruntergelassenen Rollläden war sie sich nicht sicher. Vielleicht könnte sie Lazar noch einholen und ihm helfen. Sie rannte zur Tür und riss sie auf. Tageslicht blendete sie. Sie war am Boden zerstört.
Traurig ging sie zurück in die Wohnung. Dort ließ sie sich in einen Stuhl fallen und dachte nach. Warum hat er das gemacht? Ich hätte ihm helfen können. Ob er es wohl geschafft hat? Ihr Blick fiel auf die Zeitung vom Vortag auf dem Tisch. Sofort sprang sie auf und rannte wieder nach draußen. Sie nahm die heutige Zeitung aus dem Briefkasten und schlug sie auf. Auf der Titelseite prangte eine große Überschrift:

»Blutbad in Bordell - 13 Männer tot«

Sie las den Artikel so schnell sie konnte. Darin hieß es, ein Mann hätte die Bordellbetreiber im Alleingang abgeschlachtet, wäre dabei aber auch selbst getötet worden. Die Motive des Mannes seien unklar und blablabla. Sie blendete den Rest aus. Er ist tot? Sie konnte es nicht glauben. Sie las weiter. Bei den Untersuchungen habe sich herausgestellt, dass sämtliche Prostituierte illegal in Deutschland waren und zum Anschaffen gezwungen wurden. Die Behörden kümmerten sich darum, dass sie zurück nach Hause kämen. Nichts. Nichts über Lazar. Sie überflog die Schlagzeilen der anderen Artikel. »Mann raubt älteres Ehepaar aus«, »Hafen floriert«, »Ehepaar Feinsteiner in mafiöse Geschäfte verwickelt«, »Sozialbau wird abgerissen«. Doch keine näheren Informationen zu dem Verbleib von Lazar.
Eva war am Boden zerstört. Sie warf die Zeitung weg und ging nach oben. Dort angekommen, ließ sie sich ins Bett fallen und schrie ins Kopfkissen. Doch auf dem Kissen lag ein Umschlag. Sie öffnete ihn hastig. Darin befanden sich ein Brief und mehrere große Geldscheine. In dem Brief stand in schöner Handschrift verfasst:

Liebe Eva,

es war eine Freude, dich kennenzulernen, und ich bedaure, dass sich unsere Wege so schnell trennen mussten. Doch sorge dich nicht um mich. Mir geht es gut. In dem Umschlag findest du genügend Geld, um zu deiner Familie zurückzukehren und gemeinsam mit ihr ein neues Leben anzufangen. Sie denken ja sowieso, dass du gut verdient hast, also hast du schon eine Erklärung dafür, wie du zu dem Geld gekommen bist. Du solltest dich nicht allzu lange in der Villa aufhalten. Als ich sagte, die Besitzer hätten sie mir überlassen, war ich vielleicht etwas ungenau. Sie waren schlechte Menschen und mussten bestraft werden. Sozusagen als Aufwandsentschädigung habe ich es mir ein paar Tage in ihrem Haus gemütlich gemacht. Doch es könnte sein, dass in naher Zukunft die Polizei dort auftaucht. Um dir unnötige Probleme zu ersparen, solltest du vorher verschwunden sein. Greif ruhig bei allem zu, was dir gefällt. Die Feinsteiners brauchen es nicht mehr, da wo sie jetzt sind. Ich wünsche dir alles Glück der Welt. Geh heim, kleine Eva.

Im Herzen immer bei dir,

Lazar

Lazar hatte nicht gesehen, wie der Notarzt seinen Puls gefühlt hatte, aber dessen warme Finger auf seinem Handgelenk gespürt. Natürlich hatte der Doktor keinen Herzschlag wahrnehmen können. Der Mann hatte sogar an Lazars Nase gelauscht, ob Atem zu hören sei. Doch als auch das nichts ergab, packten seine Helfer Lazar in einen Plastiksack und brachten ihn ins Leichenschauhaus. Es wunderte Lazar, dass der Mann sich überhaupt so viel Mühe gegeben hatte, festzustellen, ob er noch am Leben sei. Die Klinge in seinem Schädel hätte eigentlich Anzeichen genug für seinen Tod sein sollen. Das verdammte Teil bereitete ihm höllische Kopfschmerzen, doch er hatte es nicht herausziehen können, solange er noch unter Beobachtung stand. Die Untersuchungen der Spurenermittler hatten ewig gedauert. Und während die Fotografen knipsten und die Polizisten diskutierten, hatte Lazar allmählich Angst bekommen, dass er nicht vor Sonnenaufgang eingetütet werden würde. Doch nach einer halben Ewigkeit packten sie ihn in einen Leichensack und brachten ihn in die Gerichtsmedizin, wo er in einem Kühlfach auf seine Obduktion wartete.
Den ganzen folgenden Tag hatte dann ein anderer Arzt Lazars Opfer untersucht. Immer wieder hatte er gehört, wie die metallischen Schubladen ihrer Eisfächer auf- und zugezogen wurden. Doch irgendwann machte der Mediziner Feierabend und Lazar hörte ihn gehen. Sofort zog er sich das Messer aus dem Schädel. Ah. Was für eine Wohltat. Er wartete noch einige Stunden bis er sicher war, dass die Sonne untergegangen war. Dann stieß er mit den Füßen gegen den Boden der Schublade, in der er sich befand, und stemmte sich mit den Armen gegen die Wand. So schob er sich aus seinem eisigen Sarg und verließ das Kühlfach.
Er hatte Glück gehabt, dass der Gerichtsmediziner ihn noch nicht genauer untersucht hatte. Das hätte er nicht zulassen können, da seine Anatomie einfach zu anders war, als dass es dem Doktor nicht aufgefallen wäre. Der arme Kerl tat ihm ein bisschen leid. Es sah nicht gut aus, wenn man eine Leiche verlor. Doch das war nicht zu ändern. Lazar musste los. Ein Schiff voller Drogenschmuggler wartete auf ihn. Er befühlte die Wunde an seinem Kopf. Bis er beim Hafen war, würde sie sich geschlossen haben. Leise öffnete er ein Fenster und sprang in die kühle Nacht.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Morales, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Du hast eine spannende Geschichte geschrieben. Vielleicht etwas zu vorsehbar, aber trotzdem zieht sie den Leser in den Bann.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

Morales

Mitglied
Hi Doc

Hallo DocSchneider,

danke für die herzliche Begrüßung. Ich werde mir mal die Beiträge, die du verlinkt hast, durchlesen.

Beste Grüße
 



 
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