Aufregung im Dorf

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Bommel

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Das Entsetzen, welches diese schreckliche Tat in das ruhige Dorfleben abseits der Zivilisation brachte, war unermesslich. Gut, ganz abgelegen von jeglicher Zivilisation lag das Dorf nicht, aber wenn man nicht grade ein Auto und eine Fahrerlaubnis besaß, beschlich einen häufig ein ähnliches Gefühl.
Das Dorf, wie auf der Homepage (ja, Internetanbieter hatten den Weg in das Dorf gefunden) so nett beschrieben war, lag eingebettet in die Felder vor dem Deister – oder wie auch immer.
Hier war der Hund verfroren, sagten sich Fuchs und Hase Gute Nacht. Nachts im Dunkeln auf dem Spielplatz bei Eiseskälte zu liegen, war einfach kein Geschenk und wenn nicht gerade ein paar übermütige Kinder der Dunkelheit trotzten, wurde man nicht gefunden. Nicht rechtzeitig gefunden zumindest.
Aber man konnte Kinder, auch im Kleinkindsalter, draußen herum laufen lassen, sie fuhren mit ihren Lauf- und Fahrrädern auf der Straße, kamen spät nach Hause. Man wusste, wo die Kinder waren, Eltern informierten sich gegenseitig und niemand sorgte sich.
Vielleicht früher Mal.
Im Social-Network-Zeitalter angekommen, wusste jeder durch GPS, wo sich das eigene Gottesgeschenk befand, wer bei ihm war und durch Helikoptereltern sowie Adleraugen wussten auch immer alle Bescheid, wer was grade machte oder anstellte. Kind sein war auch nicht mehr das, was es mal war. Eltern versuchten, ihre Kinder vor allen Schaden zu behüten, Nachrichten aus aller Welt wurden fern gehalten, Politik brauchte auch fünfzehnjährige nicht interessieren. Wichtig dagegen waren die Termine, die durch die elterliche Fürsorge für das Kind vereinbart wurden.
Fünf- oder sechsjährige befanden sich demnach immer genau da, wo ihre arbeitenden Eltern sie hin haben wollten.
Aber es gab sie. Es gab Eltern, deren Kinder keinen vollgestopften Terminplan hatten und tatsächlich im Dunkeln durch die Straßen zogen. Ganz fernab von der Realität waren diese Eltern allerdings auch nicht und hatten ihre Kinder zumindest mit einem einfachen Smartphone ausgestattet. „Für den Notfall, damit wir Dich erreichen können.“ hatte die Mama zu ihrem Kind gesagt, welches nur fasziniert auf das makellose Display gestarrt hatte. Bis es gemerkt hatte, das es wirklich ein einfaches Smartphone für vierzig Euro aus dem Discounter war. Also nix I-Phone oder Samsung S vierhundertdreizehn. Einfach nur eine Möglichkeit, im Notfall jemanden zu informieren.
Diese Kinder zogen durch die Straßen, machten Klingelstreiche, setzten sich im Dunkeln auf das Dach des Klettergerüstes auf dem Spielplatz und versuchten, ihrem Leben einen Sinn zu geben, der nicht mit digitalen Medien zu tun hatte. In diesem Dorf, abseits der Zivilisation, aber mit Internet ausgestattet, gab es zwei Jungen, deren einfaches Smartphone grade mal dazu diente, ab und zu Licht zu spenden, die regelmäßig ihre Touren unternahmen. An einem dieser Abende entdeckten sie nun die schrecklichen Überbleibsel des Opfers. Es lag unter der riesigen Tanne, die auf dem alten Friedhof vor der Kirche stand. Zerrissen, schmutzig, das Innenleben quoll heraus, nichts war mehr übrig geblieben von der einstigen Gestalt. Nur noch ein Schatten seiner selbst, so lag das Opfer da.
Die beiden Jungen, acht und zehn Jahre alt, wussten nicht mit der Situation umzugehen, und riefen panisch ihre Eltern an, hatten sie doch noch nie in ihrem kurzem Leben etwas so schreckliches gesehen.
Ein Opfer, in dieser Kälte auf dem alten Friedhof. Es schien, als ob das Dorf erstarrte, ein jeder ließ die grade ausgeübte Tätigkeit sein und lief zum Ort des Geschehens. Gut, vielleicht nicht jeder, aber zumindest die älteren Geschwister der kleineren Jungen, deren Eltern und durch Zufall ein paar Bekannte, die zu Besuch waren eilten auf den großen Platz vor der Kirche.
Brutal zerschnitten war es, man konnte die Wut der Tat noch spüren. Bitterkalt die Jahreszeit, schließlich war es November und auch wenn die Politik ständig von Klimawandel und viel zu warmen Wetterprognosen sprach, zog die Kälte in jede Pore des Körpers. So standen sie nun da, hielten sich gegenseitig fest, zitterten nicht allein aufgrund der Kälte. Die beiden Jungs übrigens hatten ihre Jacken offen, ohne Mütze oder Schal, wie die Mutter es ihnen gesagt hatte. Sie waren aufgeregt, schließlich waren sie die Entdecker.
Der Dorfsheriff wurde verständigt und kam mit eilenden Schritten zum Tatort. Na ja, er schlurfte um die Ecke, in Jogginghose und Schlappen. Spürte er denn die Kälte nicht? Ob der Aufregung, die um diese Uhrzeit, zu der normale Familien gemeinsam ihr Abendbrot aßen, auf dem Platz herrschte, wurden weitere Nachbarn aufmerksam auf das merkwürdige Schauspiel.
Der Verantwortliche notierte sich die Fakten des schrecklichen Übergriffes und informierte seinen Freund, der mit einer Kiste kam um den kleinen Körper fachgerecht zu entfernen. Ein letzter Blick noch, irgendwas kam ihm bekannt vor. Waren es die Augen, von denen eines fehlte? Oder die rosa Schürze um den Bauch? Er schüttelte den Kopf, er kam nicht drauf.
Dann sperrte der Dorfsheriff mit rot-weißem Flatterband einen großzügigen Kreis um die Tanne herum ab, der Radius bestimmt der schrecklichen Tat angemessen. Die dazu gekommenen Gaffer wurden nach Hause geschickt, sie hatten nichts gesehen oder mit der Tat zu tun. Da man sich kannte, traf man sich bei den Eltern des einen Jungen im Wohnzimmer, heißer Kaffee wurde serviert. Während das Feuer im Kamin wohlige Wärme in den Räumen verteilte, unterhielt sich das selbsternannte Dorfoberhaupt mit den ersten Zeugen, den beiden Jungen. Diese verstanden die Aufregung nicht, wollten sie doch lieber mit den Autos Massenunfall vor dem warmen Feuer spielen. Doch hier musste eine Aufklärung her, das Dorf und seine Bewohner hatten verdient zu erfahren, wer zu einer so grausamen Tat fähig war.
Die Jungs interessierte das alles nicht. Sie wollten spielen und nicht mit den Erwachsenen reden, ihre Antworten waren kurz angebunden und auch das Versprechen, Schokolade zu bekommen, konnte ihnen nichts weiter entlocken. Sie waren zum Spielplatz gegangen und hatten dann Verstecken gespielt. Raphael hatte sich hinter der großen Tanne verstecken wollen und sei dabei völlig aus Versehen auf etwas Weiches drauf getreten. Er hatte sich so erschrocken, dass er nach hinten umfiel, was die Flecken auf seiner Hose erklärte. Die Kiste mit dem Fund stand in der Ecke des Esszimmers, die Erwachsenen und auch die beiden Jungs wagten nicht, hinzusehen.
Die Diskussion war im vollen Gange. Der Dorfsheriff lenkte seine Aufmerksamkeit auf die beiden Jungen. Stellte die Frage in den Raum, ob sie vielleicht mit Papas Taschenmesser herum gespielt hätten und etwas übermütig geworden sind. Entsetzen in den Gesichtern der Eltern. Der Vater sprang auf, zeigte mit dem Finger auf den Fragesteller, wütend über diese schreckliche Unterstellung. Sein Sohn habe nie auch nur einen Finger an das scharfe Schweizer Taschenmesser seines Vaters gelegt. Wie käme er zu einer solchen Unterstellung? Den wissenden Blick, den die beiden Jungen sich am Boden zuwarfen, sah nur der Hund, der in diesem Moment vom Flur in das großzügige Wohnzimmer kam.
Die ganze Aufregung, die vielen Stimmen, das Kratzen der Stühle über den Boden – all das interessierte Rollo nicht. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass seine Menschen wohlauf waren, schnupperte er an dem Neuzugang. Den Geruch kannte er, der war schon mal hier gewesen.
Beim letzten Mal hatte dieser Mensch ihm ein neues Spielzeug mitgebracht, einen hellen Teddy, weich, flauschig und mit einer rosa Schürze, an der er so gern mit seinen Fangzähnen gerissen hatte. Seit Tagen wusste er nicht mehr, wo er sein Kuscheltier liegen gelassen hatte. Seitdem schlich er traurig durch das große Haus, es erschien ihm ein klein wenig grauer als zuvor. Jeden Abend hatte er seinen Teddy mit ins Körbchen genommen, hatte an ihm geknabbert, das Innenleben schmeckte nicht, er ließ es einfach raus hängen. Überall hatte er es mit hingenommen, selbst zum Spielplatz mit den Jungs. Doch es war einfach weg. Beim letzten Mal hatte eines der Kinder mit ihm und dem Teddy gespielt. Rollo hatte so getan, als ob er seinen Teddy beschützen musste, hatte geknurrt und zugelassen, dass das Mädchen immer wieder daran zog, immer mehr war der kleine Körper zerrissen worden. Rollo hatte seinen Spaß gehabt an dem Tag, vor allem, als die Jungs anfingen, Stöckchen für ihn zu werfen.
An diesem Abend nun waren seine Menschen alle aufgeregt, doch ihn ließ das alles kalt. Mit neugierigen Augen betrachtete er seine Umgebung, da hinten stand eine Kiste. Mal sehen, was da drin schlummerte. Er wandte sich von dem Gast des Hauses ab und trottete zur Kiste, warf einen Blick hinein. Rollo traute seinen Augen nicht.
Da lag sein Teddy, eingebettet auf einem Tuch und ein Auge blitzte ihn an. Freudig fing er an zu bellen, wedelte mit seinem Schwanz und lief ganz aufgeregt zu seinem Herrchen.
Der Dorfsheriff stand auf und beobachtete, wie der aufgeregte Hund zu der Kiste mit dem zerrissenen Teddy lief und da fiel ihm ein, wo er das kleine flauschige Kuscheltierchen schon mal gesehen hatte. Es war ein Hundespielzeug, was er auf dem letzten Flohmarkt gesehen und gekauft hatte, einige Tage später schenkte er es dem Hund der befreundeten Familie.
Überglücklich und mit zarter Vorsicht nahm Rollo seinen Kuschelteddy zwischen seine riesigen Zähne, fast konnte man meinen, der Hund grinse.
Die Erwachsenen, peinlich berührt, sahen sich schweigend die Szene an. Die Jungs, fasziniert von dem grinsenden Hund, sahen sich an und lachten laut auf.
Na, das war ja mal eine Aufregung in dem Dorf.
 

anbas

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Hallo Bommel,

so richtig vom Hocker haut mich die Geschichte nicht - aber vielleicht ist diese Art von skurrilem Humor auch nicht meiner.

Unabhängig davon ist mir der Text zu lang. Das Brimborium um die Fundsache wird aus meiner Sicht zu sehr überstrapaziert.
Außerdem würde ich empfehlen den Text früher zu beenden, und zwar bei:
fast konnte man meinen, der Hund grinse.
Allerdings ist es durchaus so, dass in einem Dorf Kleinigkeiten zu einem riesigem Ereignis aufgebauscht werden können. So habe ich in meiner Kindheit für ein paar Jahre in dem niedersächsischen Dorf Schwarmstedt gelebt. Lange nachdem wir weggezogen waren, gab es dann eine - deutlich ironisch angehauchte - Reportage im Fernsehen mit dem Titel "Bankraub in Schwarmstedt".
Es handelte sich - soweit ich mich erinnere - um die Gartenbank des Bürgermeisters, die geklaut worden war, und wegen deren Diebstahl im Dorf die Wogen richtig hoch schlugen. In dem Bericht wurden die Polizei (inkl. Spurensuche), Politiker und Bewohner des Dorfes interviewt, Vermutungen geäußert und denen auch nachgegangen. Erwischt hat man den Frevler, meines Wissens nach, nicht ... ;)

Liebe Grüße

Andreas
 



 
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