Augen

Pandora

Mitglied
Traue niemals
den strahlenden Augen eines Mannes.
Es könnte die Sonne sein,
die durch seinen hohlen Kopf scheint.


Schade nur, daß dieser Spruch mir nicht früher in den Sinn kam.

Vor zwei Wochen sah ich ihn zum ersten Mal.
Auf dem Weg zur Arbeit in der U-Bahn begegnen mir oft ungewöhnliche Menschen. Aber niemals käme ich auf den Gedanken, jemanden anzusprechen oder länger als nötig anzuschauen. Mit Diskman und Lesestoff bewaffnet sitze ich Tag für Tag in der U5 und kümmere mich weder um die streitenden Liebespaare, noch um die biertrinkenden Punks und auch nicht um die trübsinnig dreinschauenden Marionetten des Alltags. Eigentlich waren sie mir alle vollkommen egal...

...bis zu dem Tag, an dem ich ihm begegnete.

Sein schmales Gesicht war umrandet von langen, schwarzen Haaren, die lockig über seine schmalen Schultern fielen. Hochgewachsen, knochig und leicht gebückt stand er lässig an einer der Haltestangen gelehnt. Seine Haut war so weiß, daß sie regelrecht aus der Menschenmasse hervorstach. Doch viel, sehr viel stechender waren seine Augen. Dieses tiefe, fast türkis erscheinende Blau bohrte sich durch die Netzhaut meiner Augen; so sehr, daß es brannte und weh tat. Neckisch strahlten sie mich an und zugleich schienen sie mir tief in die Seele schauen zu wollen. Sie zogen mich an, stießen mich weg und zogen mich wieder an. Ich konnte mich von seinem Blick nicht lösen.

Wie war das möglich? Krampfhaft versuchte ich, mich wieder auf mein Buch zu konzentrieren. Aber es gelang mir nicht. Ich spürte seine Blicke überall. Immer wieder zwang er mich, ihm tief in die Augen zu schauen.

Die kleine, griesgrämige Frau mit anregender Pudelfriesur auf dem Platz links neben mir stand auf und zwängte sich fluchend durch die Masse Richtung Tür. Er kam auf mich zu. Zielstrebig und mit noch immer auf mich gerichteten Augen. Als er sich zu mir setzte und seine rechte Hand wie zufällig meinen Arm streifte, lief es mir heißkalt den Rücken hinunter. Kein Wort kam über seine Lippen. Kein Lächeln, daß womöglich kleine Grübchen in dem blassen Gesicht hinterlassen könnte, umspielte seinen Mund. Ich bemerkte nicht, wie eine seiner Hände in seinem langen, schwarzen Mantel verschwand. Denn noch immer hielten mich seine Augen fest, fixierten mich und fraßen sich in meine verstörte Gefühlswelt.

Plötzlich war er verschwunden. Wenn er seine Augen da gelassen hätte, hätte ich es gewiß nicht bemerkt. Aber nun war er einfach weg. Hilflos sah ich mich um und registrierte erst jetzt, daß ich mindestens 3 Haltestellen zu weit gefahren war. Langsam kehrte die Realität in meinen Körper zurück und Panik machte sich breit. Wo war er? Wo war ich? Was macht dieses kleine, schwarze Kärtchen auf meinem Schoß?

Moment mal...

Was für ein Kärtchen?
Es lag einfach da. Unschuldig und unscheinbar zierte es meine Oberschenkel. Wieder verpaßte ich eine Haltestelle. Aber das spielte in diesem Augenblick keine Rolle. Ich nahm die Karte in die Hand, nachdem ich sie lang genug mit den Augen fixiert hatte. Kein Name. Kein Gruß. Nur eine Adresse mit einer Straße, von der ich noch nie etwas gehört hatte. Ich steckte sie in meine Tasche, versuchte endlich mein Gehirn wieder zu finden, was er allem Anschein nach mitgenommen haben mußte. Fast apathisch stand ich auf, um endlich auszusteigen. Verdammt. Wo war ich hier?

Ich fand mich auf einem verdreckten, unheimlichen Bahnsteig wieder, der mir erneut einen kalten Schauer bescherte. Überall sah ich sein Gesicht, seinen Körper und vor allem seine unergründlichen Augen. Mindestens 30 Augenpaaren starrten mich von verschmutzten Bänken, an überfüllten, heruntergekommen Zeitschriftenläden und aus düsteren Gängen an. Sie alle schienen mir eine bestimmte Richtung weisen zu wollen. Ich versuchte nicht, mich dagegen zu wehren. Ein Strom aus Männern mit langen Ledermänteln, bleicher Hautfarbe und ständig zurückblickenden blauen Augen floß vor mir her. Ich folgte ihm. Nur ein einziger Gedanke drängte sich durch ausgeschaltete Gehirnzellen. Du mußt laufen. Lauf, lauf, lauf. Dreh dich nicht um; beachte nicht die Menschen um dich herum, die Fixer, die Stricher, die Säufer, die Perversen, die Heruntergekommenen, neben, vor und hinter dir. Du wirst kein anderes Gesicht finden. Also lief ich. Ich weiß nicht, wie lange. Meine Beine bewegten sich automatisch. Wie ferngesteuert, ohne Gefühle, ohne Gedanken verrichteten sie ihren Dienst.
Als ich wieder begann, etwas zu spürten, waren die Menschen verschwunden. Einfach so. Eine kurze Panikattacke wich dem Unbehagen, welches wiederum der Neugier Platz machte.

Ich stand vor einem alten Haus. Häßlich grüne Fensterläden, die aus eine anderen Zeit zu stammen schienen, zierten die schmucklose Hütte. Der Teil der Außenwände, der nicht mit Efeu bewachsen war, ließ ausgeblichene Bruchstücke von noch nicht abgebröckelten Putz erkennen. Ich griff in meine Tasche, um die Karte herauszuholen, damit sie mir bestätigen konnte, daß der Gedanke, der sich jetzt durch mein Bewußtsein drang, falsch war. Ich konnte sie nicht finden. So sehr sich auch meine Finger durch die Innentaschen meine Jacke bohrten, fanden sie außer alten Tempos nichts.

Eigentlich war es egal. Ich wußte, wo ich war. Es machte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Das klapprige Gartentor, in dem selben gammligen Grün der Fensterläden, hing schief in den Angeln. Vorsichtig versuchte ich, es zu öffnen. Es krächzte und quietschte, als es mir widerwillig Einlaß gebot.
Vergeblich suchte ich nach einer Klingel. Als ich an die Tür klopfte, öffnete sie sich einladend. Meine Haut kribbelte zum dritten Mal. Ich mußte einen Moment verharren, damit sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten.

Als ich ihn endlich fand, war ich schon durch 5 leere Räume geirrt. Doch nun stand er vor mir! Seine strahlende, weiße Haut durchbrach die Dunkelheit wie ein Blitz einen Himmel voller regenschwerer Wolken. Kein Wort kam über seine Lippen. Kein Lächeln, daß womöglich kleine Grübchen in dem blassen Gesicht hinterlassen könnte, umspielte seinen Mund. Es war auch nicht nötig. Ich stand in Flammen, als ich seine kalten Lippen empfing. Meine Gefühle, die auf wundersame Weise zurückgekehrten, obwohl sie in dieser Art noch niemals dagewesen waren, überschlugen sich. Mir wurde trotz der Kälte seiner Lippen kochend heiß. Ich zitterte und bebte, während das Stöhnen des in mir tobenden Orkans in meinem Hals stecken blieb, weil es keinen Weg nach außen fand. Meine Knie versagten. Ich sank auf den Boden und suchte nach Halt. Ich fand ihn. Ich griff nach der ausgestreckten Hand, die mich sanft in ein anderes Zimmer zog. Ich sah weder das schummrige Licht der Kerzen, noch das Himmelbett mit Bezügen aus rotem Satin. Ich sah nur seine Augen. Diese verdammten Augen, die meinen Verstand und meine Sinne benebelten. Ich wollte ihn berühren, ihm durch das seidigglänzende, weiche Haar streichen. Doch er ließ es nicht zu. Viel zu viele Eindrücke und Emotionen prasselten auf mich ein. Tausend kalte Hände auf meinem überhitzten Körper, tausend kalte Lippen auf jeder Pore, tausend kalte Zungen in meinem Mund.

Ich glaube, ich bin irgendwann ohnmächtig geworden. Als ich aufwachte, sah ich in ein grinsendes Gesicht, lag in einem eisernen Bett auf einer harten Matratze und hörte eine Stimme, die so quietschend und krächzend war wie dieses gräßliche, alte Gartentor aus meinem Traum. Ich weiß nicht mehr, was er alles zu mir sagte. Irgend etwas, was alle Männer nach dem Sex sagen. Blödes Zeug, dem ich nicht mehr länger lauschen wollte. Primitive Zusammenschlüsse von Worten, die, wenn sie endlich groß geworden waren, mal Sätze werden wollten. Stumm und enttäuscht suchte ich meine Sachen zusammen und verließ fluchtartig das Haus.

Nachdem ich 3 Stunden durch die Stadt geirrt war, mich mühevoll durch die verwüsteten, Abscheu erregenden Gassen und Straßen gequält hatte, saß ich nun endlich wieder in der U5.


Traue niemals den strahlenden Augen eines Mannes...



© Pandora, 2001
 



 
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