Aus dem Leben einer Eintagsfliege

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„Ich bin eine Eintagsfliege“, stellte sich die Eintagsfliege der Mehrtagsfliege vor. Beide trafen sich auf dem Rand eines Kuchentellers, auf dem noch Kuchenkrümel lagen.
„Ich könnte mein Leben lang nur Kuchen essen“, sprach die Eintagsfliege.
„Ich auch“, meinte die Mehrtagsfliege und flog weiter zu einem Teller, auf dem eine angebissene Marmeladenschnitte lag. Der sie angebissen hatte, hatte sich wegen eines Telefonanrufs von ihr entfernt. Die Mehrtagsfliege konnte also ungestört schmausen.
Die Eintagsfliege folgte ihr und fragte, weshalb sie die Kuchenmahlzeit unterbrochen habe.
„Die kann ich morgen fortsetzen“, erhielt sie zur Antwort.
„Morgen?“
„Ja, morgen.“
„Was ist 'morgen'?“
„Morgen ist Sonntag, da gibt es Kuchen in Hülle und Fülle.“ Die Mehrtagsfliege schleckte genüsslich Marmelade von der Schnitte.
„Warum heißt morgen Sonntag?“
„Weil heute Samstag ist.“
Die Eintagsfliege verstand das nicht. Die Mehrtagsfliege wunderte das nicht. Schon gestern war sie mit der Begriffsstutzigkeit einer Eintagsfliege in Berührung gekommen.
„Wann bist du geboren?“, fragte sie die Eintägige.
„Heute.“
„Genauer, wenn ich bitten darf.“
„Als es hell wurde. Weshalb willst du das wissen?“
„Weil deine Lebenszeit begrenzt ist. Du solltest das Kuchenkrümelessen schnellstens fortsetzen.“
„Wieso schnellstens? Morgen ist Sonntag, da kann auch ich Kuchen in Hülle und Fülle essen.“
„Kuchen gibt es erst am Nachmittag.“
„Na und? Bis dahin werde ich nicht verhungern.“
„Verhungern nicht, aber nicht mehr da sein.“
„Wie soll ich das verstehen?“
„Mit dem nächsten Morgenrot bist du tot.“ Die Mehrtagsfliege gab sich wieder der Marmelade hin.
„Tot?“
„Ja, tot!“ Der Mehrtägigen reichten die dummen Fragen. Nicht so der Eintägigen.
„Bist du dann auch tot?“
„Ich nicht, aber du! Und nun lass mich in Ruhe Marmelade schlecken.“
„Warum bin ich tot, wenn du nicht tot bist.“
„Heiliger Fliegenschiss!“, brauste die Mehrtagsliege auf, „weil du nur einen Tag und möglicherweise eine Nacht lebst.“
„Warum nur ich und du nicht auch?“
„Weil ich eine Mehrtagsfliege bin. Eine Fliege, die einen ganzen Sommer lang in Saus und Braus leben kann.“
Die Eintagsfliege guckte betrübt. Sie bedauerte, als Eintagsfliege geboren zu sein.
„So ist das nun mal“, protzte die Mehrtägige. Der Kummer der Eintägigen kümmerte sie nicht. Gefühllos tauchte sie den Rüssel wieder in die Marmelade.
Da klatschte es. Marmelade spritzte auf. Erschrocken flog die Eintagsfliege davon. Die Mehrtagsfliege nicht. Sie lag leblos im süßen Brotaufstrich.
 
A

aligaga

Gast
Beim ach so beliebten Vermenschlichen von Tieren sollte man deren natürliche Eigenschaften nicht außer acht lassen, sonst wird's nicht der erwünschte, elegante Kopfsprung ins Haifischbecken eines Literaturforums, sondern, so wie hier, ein grausamer Bauchplatscher.

Eintagsfliegen haben keine Mundwerkzeuge. Sie fressen nichts, sondern pflanzen sich nüchtern fort. Dafür reicht die Energie, die sie mit auf die Welt bringen. Sie brauchen keine Marmeladenbrote.

Amüsiert

aligaga
 
A

aligaga

Gast
Diese Eintagsfliege ist das Produkt meiner Phantasie.
Wie schon gesagt: Tier-G'schichterln stehen und fallen mit ihrer Plausibilität. Wer den Mücken Eigenschaften andichtet, die sie nicht haben, schreibt keine zünftigen Fabeln, sondern rührt im Quark.

Heiter

aligaga
 
Meine Geschichte ist nicht als Fabel, sondern als sati(e)risches Geschichtchen zu verstehen. Wer seine Phantasie der Plausibilität opfert, sollte Sach- und nicht Lachgeschichten schreiben. Etwa so: Die Eintagsfliege als bedauernswerte Schöpfung Gottes. Oder: Fühlen Eintagsfliegen ihre eingeschränkte Lebenszeit? Oder: Der Lebensweg einer Eintagsfliege.
 
A

aligaga

Gast
Tierg'schichterln werden nur dann witzig, wenn die Worte, die den Viecherln in den Mund gelegt werden, einen Hintergrund haben. Mampfende Eintagsfliegen sind nicht lustig, sondern Blödsinn.

Warum die Eintagsfliege in dem banalen G'schichterl partout fressen können muss, bleibt das Geheimnis des Autors. Mit ein bisschen Fantasie ließe sich doch leicht ein weniger falsches Bild zeichnen. TTip: Ausbessern statt rechthubern!

Heiter, sehr heiter

aligaga
 
Hallo Detlef,
ich kann mich mit deiner Geschichte über die Eintagsfliege anfreunden.

Ich möchte zu gern wissen, was @aligaga zu „Rotkäppchen und der böse Wolf“ sagt.
Es stört ihn bestimmt gewaltig ,dass die Großmutter und Rotkäppchen Platz im Bauche des Wolfes haben und durch Wackersteine ersetzt werden.

Viele Grüße
Marie-Luise
 
Danke, Marie-Luise, für deinen verständnisvollen Kommentar. Ein sprechender Wolf mit Wackersteinen im Bauch ist aus aligagas Sicht sicherlich eine völlig unwissenschaftliche Darstellung.
Sei herzlich gegrüßt, Detlef
 
A

aligaga

Gast
Dass die Imagines von Eintagsfliegen keine Mundwerkzeuge besitzen und deshalb weder Kuchen noch Marmeladenbrötchen naschen können, ist keine spezielle "Sicht" @alis, sondern grausame, biologische Wirklichkeit. Die einzige Aufgabe, die sie zu erfülllen haben, ist die Fortpflanzung. Das allerdings tun sie mit ganzer Leidenschaft.

Wer meint, lustig zu sein, wenn er ihnen einen Saugrüssel andichtet, ist auf dem Holzweg - mitten hinein in die Realsati(e)re.

Quietschvergnügt

aligaga
 



 
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