Aus dem Leben eines Rentners

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DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Erwin D. ist ein Rentner. Ein Rentner ist einer, der keine Zeit hat, aber davon zu viel. Kein Wunder, arbeitet er doch bei der Firma "Mach mal", deren Chef seine Ehefrau ist.

An diesem Samstag geben Erwin D. und seine Frau Rosa der senilen Bettflucht noch früher nach, denn die Sonne lacht vom azurblauen Himmel. "Los, Erwin, hol du Brötchen und Erdbeeren, ich mach uns derweil ein schönes Frühstück auf der Terrasse", befiehlt Rosa. Erwin folgt gehorsam. Aber heute hat er richtig gute Laune, da machen ihm die Aufträge der Obersten Heeresleitung nichts aus.

Im Supermarkt um die Ecke ist auch eine Bäckerei, also dort schnell die Brötchen geordert, dann zu den Erdbeeren, die vor dem anderen Obst und Gemüse aufgebaut sind. Erwin schnappt sich zwei Schälchen. Aber wo ist die Rolle mit den Tüten, um sie etwas einzupacken? Ah, da bei den Äpfeln, ungefähr einen Meter entfernt. Das empfindet Erwin aber als eine Zumutung. Die Rolle hat sich griffbereit neben den Erdbeeren zu befinden. "Hören Sie mal", herrscht er einen Verkäufer an, "ich muss ja kilometerlang laufen, um an eine Tüte für die Erdbeeren zu kommen!" Der Verkäufer, ein junger Mann, denkt an den Spruch seiner Oma: Vor dem Sprechen das Gehirn einschalten. Dann antwortet er: "Ich kümmere mich gleich darum, dass eine Rolle neben den Erdbeeren aufgehängt wird!" Erwin nickt brummend. Der Tag fängt ja gut an!

Zu Hause erwartet ihn der gedeckte Tisch, auf dem heute aber auch gar nichts fehlt, das weiche Ei für sie, das harte für ihn, frischgepresster Orangensaft ist auch da, Tomaten, Aufschnitt, Käse, sogar Joghurt (fettarm) hat die Gute nicht vergessen. Und der Sportteil der Zeitung liegt schon aufgeschlagen auf Erwins Platz an der Sonne. Erwin ist gerührt.

In den nächsten fünfundvierzig Minuten herrscht Frieden auf Erden, die Stille wird nur von sanftem Teller- und Besteckklappern unterbrochen. Erwin und Rosa frühstücken ausgiebigst. Ist das herrlich! Aber dann ...

Erwin und Rosa wohnen in einem Reihenhaus, was den unschätzbaren Vorteil hat, soziale Kontrolle vom Feinsten zu bieten, denn kein Mensch hat eine Chance, ungesehen und unbemerkt etwas zu tun und Erwin selbst hat ein Schild "Aufmerksamer Nachbar" an der Tür hängen. Dieser Vorteil ist gleichzeitig auch der größte Nachteil. Das wird Erwin schmerzhaft bewusst, als plötzlich ein Kopf über der Mauer auftaucht, die Erwins und Rosas Terrasse von der des Nachbarn trennt. Der Kopf gehört einem Mann, der Erwin und Rosa freundlich einen guten Morgen und einen guten Appetit wünscht und dann den Arm hebt, um mit einer Hilti ein Loch in die Außenwand zu bohren.

Der Lärm ist ungeheuer. Die Schallwellen lassen den schön gedeckten Frühstückstisch erzittern, der Kaffee schwappt über, noch dazu verstärkt, dass Erwin vom Tisch aufspringt und alles zusätzlich ins Wanken gerät. Erwin brüllt gegen den Lärm an: "Haben Sie sie noch alle? Wir wollen hier frühstücken! Am Samstag! Und zwar in Ruhe!!!"

Der Angesprochene sieht nur am verzerrten Gesicht und an den Mundbewegungen Erwins, dass dieser spricht. Er setzt die Maschine ab und sagt unschuldig: "Also ich muss hier heute eine neue Markise anbringen. Das ist mein Auftrag. Und wir haben jetzt neun Uhr und das ist nicht zu früh und...." Weiter kommt er nicht. Erwin schreit :" Ich bring Sie um, ganz bestimmt", ergreift ein Brötchen und macht Anstalten, dieses nach dem Handwerker zu werfen, aber Rosa ruft vernünftigerweise: "Das Brötchen kann doch nichts dafür!", und der Bohrer erfüllt brüllend seine Pflicht und ist lauter als Erwin, sowieso.


Rosa bugsiert Erwin ins Haus, deckt schnell draußen alles ab und drinnen wieder ein, schließt die Terrassentür und hört sich geduldig Erwins Verwünschungen an. Dieser beschließt, die Nachbarn ab sofort nicht mehr zu grüßen. Rosa schließt sich seiner Meinung an. Das Rentnerleben erfodert eben Konsequenzen.
 
U

USch

Gast
Hallo Doc,
man merkt, du weisst wovon du schreibst. Empfehlung: Alleinleben oder neue Frau und ein Einzelhaus.
Locker flockig geschrieben.
LG USch
 

Kissa

Mitglied
Die Geschichte gefällt mir richtig gut. ;)
Leider hat sie, für mich jedenfalls, ein zu abruptes Ende ...

Liebe Grüße
Kissa
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
USch: Schön, dass Dir die Geschichte gefällt! Denkst Du, ich bin Erwin und Rentner? ;-)
Kissa: Ja, das Ende gefällt mir auch noch nicht so ganz gut. In der ursprünglichen Version hat Rosa am darauffolgenden Samstag um 8 Uhr morgens die Terrasse mit einem Hochdruckreiniger gesäubert....und die Nachbarn waren alle wach....;-), aber das erschien mir dann doch als ein zu platter Rachefeldzug. Werde nochmal in mich gehen und vielleicht ein nicht so abruptes Ende (er)finden.
Gruß an alle Rentner! ;-))
 

Hagen

Mitglied
Hallo Doc,
Dir ist wieder mal eine wunderbare Geschichte gelungen; - voller surrealer Locations und bizarrer Märchenfiguren, die man im richtigen Leben vergeblich sucht.
Da ist zuerst die Firma, welche im richtigen Leben ‘Du bist ja jetzt Rentner, da hast Du ja viel Zeit, dann mach mal eben dies und tu‘ mal eben das‘! heißt. Wunderbar reduziert.
Der Supermarkt ist auch ein Traum; - ohne ätzende Musik und es kommt tatsächlich ein Verkäufer entlang, der auch noch denkt! Aber er verrät nicht, dass er die Tüten auf Anordnung des Marktleiters - der sich nie blicken lässt, weil er wichtigeres zu tun hat, als Kundenwünsche umzusetzen - gerade weggehängt hat, damit der Kunde suchen muss, dabei andere Artikel sieht und sich zu einem Spontankauf hinreißen lässt. Wenn man im richtigen Leben Glück hat, findet man eine gestresste Angestellte, die aus diesem Grund dabei ist, die soeben eingetroffene Gebäckmischung bei den Oliven einzusortieren. Auf eine höfliche Frage wird stets mit einem Befehl, der mit „Da müssen sie mal...“! beginnt, geantwortet.
Mit Frau Rosa hast Du eine absolute Traumfrau kreiert! Wunderbar! Sie hat nichts vergessen, als sie den Frühstückstisch deckte. Im richtigen Leben wartet sie bis Erwin sitzt und beweist dann feinsinnigen Humor indem sie befielt: „Du stehst ja gerade! Hol mal eben…! – Jeder Gang macht schlank!“
Rosa motzt auch nicht über die Leibesfülle ihres Angetrauten, auch nicht darüber, dass in einem der von Erwin mitgebrachten Erdbeerkörbchen zwei matschige Erdbeeren sind – das hätte er sehen müssen! Sie verlangt nicht, dass er wegen der beiden matschigen Erdbeeren nachher reklamieren geht!
Außerdem hat sie es geschafft, ein weiches!!!! Ei zu kochen. Jede normale Frau tut die Eier ins Wasser, schaltet den Herd ein und geht erstmal 20 Minuten mit Frau Meier-Lüdgendorf telefonieren…
In den nächsten fünfundvierzig Minuten herrscht Frieden auf Erden, die Stille wird nur von sanftem Teller- und Besteckklappern unterbrochen.
Das ist absolut traumhaft, damit ist Dir die kurze Abschweife in den Bereich der Fantasy vortrefflich gelungen. Ohne Diskussion über die neue Frisur von Frau von Dingenskirchen zwei Häuser weiter oder die Frage aufzuwerfen, ob die Nasenscheidewandkorrektur von Frau Meier-Lüdgendorf nicht in Wirklichkeit eine Schönheitsoperation war, und ob die Kasse die wohl bezahlt hat, bei der Nase?
Und dann fängt sie an, das Kreuzworträtsel in der Zeitung (nix ist mit Sportteil für Erwin) zu lösen, und Erwin dauernd nach irgendwelchen Begriffen – z.B. ‘Tragtier mit 4 Buchstaben‘, der erste muss ein ‘E‘ sein - zu fragen, obwohl sie weiß, dass Erwin Kreuzworträtsel hasst.
Und d er Handwerker erstmal! Im Grund ein netter Kerl, sein Auftraggeber hatte ihm versprochen die Sache mit der Markise mit den Nachbarn vorher abzusprechen.
Im richtigen Leben wartet er mit der Arbeit, bis ein Wind in der Stärke einsetzt, welcher den Bohrstaub auch sicher auf den Frühstückstisch des Nachbarn trägt, woraufhin Rosa ihren Gatten anherrscht: „Guck dir doch mal diese Schweinerei an! Mach was, dass das sofort aufhört!!!“
Armer Erwin, was soll er so schnell mal eben machen?

Aber eine geile Geschichte!

Viele Grüße
Hagen (Rentner)
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hagen: ;-))) Nun ist ja das Schöne am Schreiben, dass sich Fiktion und Erlebtes, Meinungen und Gegenmeinungen zu einem Text vermischen, vieles einfließt, was man nur gehört oder gesehen hat oder auch nur aufgeschnappt. Oder es ist sogar alles authentisch?!?
Wer weiß das schon? Gut, wenn ein Leser darüber rätselt, dann ist der Text für mich gelungen.
Deine Ergänzung ist es auf jeden Fall. Wenn mir derjenige, den Du beschreibst, auch leid tut.
;-))
 



 
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