Aus vielen Scherben: ein ICH
1975
Januar
Das Jahr beginnt und ich bin da.
1975
irgendwann
SIE ist mit mir verschwunden, meine Mutter krank vor Sorgen, bekommt ihre ersten grauen Haare.
Stunden der Verzweiflung auf Mamas Seite.
Meine Tante verschwindet spurlos, nach einem Jahr rollt einem Bauern bim Einschlagen eines Pfostens ein Schädel entgegen. IHRER.
Und bei mir?
Jahrelang vergesse ich…
1994
Sommer
Nachdem ich zum dicken Kind mutiert bin, mich in meinem Panzer wohl fühle und ihn gleichzeitig hasse: endlich FREIHEIT! Abitur! Studium!
Ausziehen aus der Enge des goldenen Käfigs und der überdimensionierten Erwartungen.
„Wir haben immer ALLES FÜR DICH getan!“
Ja. Aber mit mir?
Ihr habt über meine Noten mit dem Nachbarn geredet, mit stolzgeschwellter elterlicher Brust aber mich niemals gelobt.
Ihr habt nie verstanden, das lesen und schreiben meine Flucht aus der Enge Eurer Welt waren.
Ihr habt nie gesehen, dass ich dadurch auf dem Schulhof immer alleine stand, die dicke Streberin mit Brille – wenn das Klischee nicht so abgeschmackt wäre könnte ich darüber lachen – heute… alleine.
Ihr habt mich zum Jugendpsychologen geschickt, als ich nach noch einem „Sehr gut“ versucht habe, mit einer kaputten Flasche auf dem Schulgelände dem Spott und der Einsamkeit zu entfliehen. Und ebenso meiner unaussprechlichen Wut gegen Euch. Dem Hass…
Jahrelang nicht von seinem Tellerchen gegessen.
Es hat soviel Kraft gekostet, beim Spülen, Abtrocknen und Tischdecken genau darauf zu achten, dass er IMMER denselben Teller, den gleichen Löffel wieder bekam…
Und nun freischwimmen aus der in Watte gepackten Behaglichkeit!
1994
Herbst
Im Bus habe ich einen Mann kennen gelernt!
Geflirtet. Zum ersten Mal – und er hat mitgemacht…
Am nächsten Tag sind wir spazieren gegangen, er hat mich von einer Mauer heruntergehoben, und trotzdem gefragt, ob wir uns am Abend wieder sehen.
Von da an ist er geblieben.
Eine Weile.
Ein Junkie.
Und ich habe geglaubt, wenn ich ihn nur GENUG liebe, wird alles endlich gut.
Ich bin schwanger und verliere im Schock, als er mir seine Geschichte erzählt, das Kind.
1995
Sommer
Ich bin wieder schwanger, habe das Pro-forma-Studium abgebrochen.
Mein fetter Bauch füllt sich täglich. Es wächst in mir ein Leben.
Mein Körper hat einen Sinn, eine Bedeutung…
1996
Winter
Mein Kind ist da. Wunderschön und zerbrechlich.
DIR wird nichts passieren.
1996
Herbst
Ich bin wieder schwanger, er kommt in den Knast. Für wie lange, weiß ich nicht.
Niemand sagt mir etwas, weil wir nicht verheiratet sind.
Die Untersuchungen sind niederschmetternd: Wasserkopf und offener Rücken…
Und 24 Stunden Zeit, zu entscheiden.
DAGEGEN.
1996
Winter
Er ist doch schon wieder draußen, renoviert eine eigene Wohnung. Diesmal muss er mir erst beweisen, dass er clean ist. Aber er darf das Kind immer sehen.
Dann kommt er nicht, reagiert nicht auf Anrufe. Und ich WEISS es… er ist tot.
Wir (das Kind und ich) fahren zu seiner Wohnung, kommen mit dem Zweitschlüssel aber nicht hinein – seiner steckt innen.
Die Polizei will nicht kommen. Ich soll warten und es später versuchen.
Ich quatsche ihm den AB voll.
Von sauer, wegen des umgekommenen Essens, bis besorgt, hin zu verzweifelt…
Wir kommen immer noch nicht in die Wohnung. Diesmal reagiert die Polizei aber, schickt eine Streife. Die fragen mich: „Sollen wir einen Krankenwagen rufen?“
Ein Leichenwagen reicht aus.
Vorerst glauben sie mir nicht.
Treten die Türe ein.
Aus dem überfüllten Hausflur (mittlerweile 4 Streifenpolizisten, 4 Feuerwehrleute, 1 Notarzt, der Typ vom Schlüsseldienst, der verspätet doch noch angekommen ist, und einige Nachbarn, die sich die Horror-Show live nicht entgehen lassen wollen) drängt ein ganzer Schwall in die kleine Wohnung.
Die Feuerwehmänner kommen raus, reden aber nicht mit mir.
Zwei Polizisten kommen raus, reden aber nicht mir.
Der Notarzt kommt raus, redet aber nicht mir.
Einer der ersten Streifenpolizisten will mich in seinen Wagen bringen, aber eine Antwort auf meine Fragen habe ich noch immer nicht.
Liegt er da? Ist er tot? Bin ich verrückt?
Ich weigere mich. Er nickt. Danke für die Antwort.
Im Treppenhaus werde ich „befragt“.
1999
Sommer
Es scheint normal zu laufen. Die Kurze hat einen Kita-Platz und ich mache eine Ausbildung.
2001
Sommer
Prüfung
2002
Winter
Depressionen ohne Ende. Nervenzusammenbruch.
Und ich erinnere mich an meine Kindheitsträume.
Vergewaltigungen am Fließband von Männern ohne Penis.
Erinnere mich, dass ich sie jahrelang in jeder Nacht hatte.
Zwischen 3 und 12.
Nicht normal?
2003
das ganze Jahr
Ich recherchiere. Fotokopiere den Zeitungsausschnitt, den meine Mutter im großen geheimen Fotoalbum versteckt hatte.
In diesem roten Album sind alle Toten. Wächsern aufgebahrt.
Und die Verrückten. Lächelnd vor den Toren der Anstalt und in der Werkstatt.
Ich frage, tobe, schreie und stoße auf Mauern des Schweigens.
2004
Frühling
ICH
WEISS
JETZT.
Und es ist gut.
Nicht, dass gut wäre, was dieses Wissen ist, aber es ist gut, dass jetzt die losen Fäden zusammenpassen.
2005
Frühling
Er ist verjährt.
Der Mord an meiner Tante. Ich weiß, wer es war, habe aber keine Beweise.
Und meine Mutter wundert sich, dass ich den Kontakt zu fast der ganzen Familie abgebrochen habe. Macht mir Vorwürfe.
Dabei habe ich nur meine Scherben sortiert…
1975
Januar
Das Jahr beginnt und ich bin da.
1975
irgendwann
SIE ist mit mir verschwunden, meine Mutter krank vor Sorgen, bekommt ihre ersten grauen Haare.
Stunden der Verzweiflung auf Mamas Seite.
Meine Tante verschwindet spurlos, nach einem Jahr rollt einem Bauern bim Einschlagen eines Pfostens ein Schädel entgegen. IHRER.
Und bei mir?
Jahrelang vergesse ich…
1994
Sommer
Nachdem ich zum dicken Kind mutiert bin, mich in meinem Panzer wohl fühle und ihn gleichzeitig hasse: endlich FREIHEIT! Abitur! Studium!
Ausziehen aus der Enge des goldenen Käfigs und der überdimensionierten Erwartungen.
„Wir haben immer ALLES FÜR DICH getan!“
Ja. Aber mit mir?
Ihr habt über meine Noten mit dem Nachbarn geredet, mit stolzgeschwellter elterlicher Brust aber mich niemals gelobt.
Ihr habt nie verstanden, das lesen und schreiben meine Flucht aus der Enge Eurer Welt waren.
Ihr habt nie gesehen, dass ich dadurch auf dem Schulhof immer alleine stand, die dicke Streberin mit Brille – wenn das Klischee nicht so abgeschmackt wäre könnte ich darüber lachen – heute… alleine.
Ihr habt mich zum Jugendpsychologen geschickt, als ich nach noch einem „Sehr gut“ versucht habe, mit einer kaputten Flasche auf dem Schulgelände dem Spott und der Einsamkeit zu entfliehen. Und ebenso meiner unaussprechlichen Wut gegen Euch. Dem Hass…
Jahrelang nicht von seinem Tellerchen gegessen.
Es hat soviel Kraft gekostet, beim Spülen, Abtrocknen und Tischdecken genau darauf zu achten, dass er IMMER denselben Teller, den gleichen Löffel wieder bekam…
Und nun freischwimmen aus der in Watte gepackten Behaglichkeit!
1994
Herbst
Im Bus habe ich einen Mann kennen gelernt!
Geflirtet. Zum ersten Mal – und er hat mitgemacht…
Am nächsten Tag sind wir spazieren gegangen, er hat mich von einer Mauer heruntergehoben, und trotzdem gefragt, ob wir uns am Abend wieder sehen.
Von da an ist er geblieben.
Eine Weile.
Ein Junkie.
Und ich habe geglaubt, wenn ich ihn nur GENUG liebe, wird alles endlich gut.
Ich bin schwanger und verliere im Schock, als er mir seine Geschichte erzählt, das Kind.
1995
Sommer
Ich bin wieder schwanger, habe das Pro-forma-Studium abgebrochen.
Mein fetter Bauch füllt sich täglich. Es wächst in mir ein Leben.
Mein Körper hat einen Sinn, eine Bedeutung…
1996
Winter
Mein Kind ist da. Wunderschön und zerbrechlich.
DIR wird nichts passieren.
1996
Herbst
Ich bin wieder schwanger, er kommt in den Knast. Für wie lange, weiß ich nicht.
Niemand sagt mir etwas, weil wir nicht verheiratet sind.
Die Untersuchungen sind niederschmetternd: Wasserkopf und offener Rücken…
Und 24 Stunden Zeit, zu entscheiden.
DAGEGEN.
1996
Winter
Er ist doch schon wieder draußen, renoviert eine eigene Wohnung. Diesmal muss er mir erst beweisen, dass er clean ist. Aber er darf das Kind immer sehen.
Dann kommt er nicht, reagiert nicht auf Anrufe. Und ich WEISS es… er ist tot.
Wir (das Kind und ich) fahren zu seiner Wohnung, kommen mit dem Zweitschlüssel aber nicht hinein – seiner steckt innen.
Die Polizei will nicht kommen. Ich soll warten und es später versuchen.
Ich quatsche ihm den AB voll.
Von sauer, wegen des umgekommenen Essens, bis besorgt, hin zu verzweifelt…
Wir kommen immer noch nicht in die Wohnung. Diesmal reagiert die Polizei aber, schickt eine Streife. Die fragen mich: „Sollen wir einen Krankenwagen rufen?“
Ein Leichenwagen reicht aus.
Vorerst glauben sie mir nicht.
Treten die Türe ein.
Aus dem überfüllten Hausflur (mittlerweile 4 Streifenpolizisten, 4 Feuerwehrleute, 1 Notarzt, der Typ vom Schlüsseldienst, der verspätet doch noch angekommen ist, und einige Nachbarn, die sich die Horror-Show live nicht entgehen lassen wollen) drängt ein ganzer Schwall in die kleine Wohnung.
Die Feuerwehmänner kommen raus, reden aber nicht mit mir.
Zwei Polizisten kommen raus, reden aber nicht mir.
Der Notarzt kommt raus, redet aber nicht mir.
Einer der ersten Streifenpolizisten will mich in seinen Wagen bringen, aber eine Antwort auf meine Fragen habe ich noch immer nicht.
Liegt er da? Ist er tot? Bin ich verrückt?
Ich weigere mich. Er nickt. Danke für die Antwort.
Im Treppenhaus werde ich „befragt“.
1999
Sommer
Es scheint normal zu laufen. Die Kurze hat einen Kita-Platz und ich mache eine Ausbildung.
2001
Sommer
Prüfung
2002
Winter
Depressionen ohne Ende. Nervenzusammenbruch.
Und ich erinnere mich an meine Kindheitsträume.
Vergewaltigungen am Fließband von Männern ohne Penis.
Erinnere mich, dass ich sie jahrelang in jeder Nacht hatte.
Zwischen 3 und 12.
Nicht normal?
2003
das ganze Jahr
Ich recherchiere. Fotokopiere den Zeitungsausschnitt, den meine Mutter im großen geheimen Fotoalbum versteckt hatte.
In diesem roten Album sind alle Toten. Wächsern aufgebahrt.
Und die Verrückten. Lächelnd vor den Toren der Anstalt und in der Werkstatt.
Ich frage, tobe, schreie und stoße auf Mauern des Schweigens.
2004
Frühling
ICH
WEISS
JETZT.
Und es ist gut.
Nicht, dass gut wäre, was dieses Wissen ist, aber es ist gut, dass jetzt die losen Fäden zusammenpassen.
2005
Frühling
Er ist verjährt.
Der Mord an meiner Tante. Ich weiß, wer es war, habe aber keine Beweise.
Und meine Mutter wundert sich, dass ich den Kontakt zu fast der ganzen Familie abgebrochen habe. Macht mir Vorwürfe.
Dabei habe ich nur meine Scherben sortiert…