Ausgeträumt

4,00 Stern(e) 2 Bewertungen

Raniero

Textablader
Ausgeträumt

Gerti Schneefeld, eine junge Frau in den Zwanzigern, hatte eine Gabe, um die sie viele Zeitgenossen beneideten; sie konnte ihre eigenen Träume steuern.
Wenn Gerti im Kreise lieber Mitmenschen davon hörte, wie manch einer von ihnen über entsetzliche Alpträume klagte, von denen er zuweilen heimgesucht wurde, setzte sie ein mildes Lächeln auf, und dachte bei sich: ‚Das kann mir nicht passieren, ich lasse mich nicht von meinen Träumen überraschen, ich bestimme selbst darüber, was ich im Schlaf erlebe’.
Gerti war diese Fähigkeit allerdings nicht in die Wiege gelegt worden; in ihrer Kindheit sowie in früher Jugend wurde auch sie ab und zu von Träumen heimgesucht, die nicht nur schöne Erlebnisse enthielten, bis ihr eines Tages ein Buch in die Hand fiel, in welchem sich ein Psychologe weitschweifig über den Stand der aktuellen Traumforschung äußerte und hierbei unter anderem die Behauptung aufstellte, dass man es sich antrainieren könne, die eigenen Träume im vorhinein festzulegen, hierzu bedürfe es nur etwas Phantasie und einer guten Portion Konzentration.
Gerti Schneefeld besaß beides, sie brachte die notwendige Konzentration auf sowie die erforderliche Phantasie mit, und ihr Leben änderte sich radikal.
Von diesem Zeitpunkt an richtete sie sich ihr eigenes träumerisches Wunschkonzert ein und träumte, was das Zeug hielt.
Hierbei ging sie allerdings nicht planlos vor, sondern richtete sich bei der Auswahl ihrer Träume nach ihrer jeweiligen Gemütslage, und in der gleichen Art, wie andere Menschen sich zum Abend für ein bestimmtes Fernseh- oder Kinoprogramm entschieden, traf sie die Wahl für den Stoff, aus dem die bevorstehenden Träume zu sein hatten.
Fühlte sie sich unwohl, beschied sie sich süße Träume a la Rosemarie Pilcher, war es ihr behaglich und warm ums Herz, durfte es durchaus ein Psychothriller nach Hitchcock Art sein, war sie melancholisch, befahl sie etwas Nostalgisches herbei und in ganz übermütiger Stimmung griff sie auch schon mal zum Alptraum.
Bei diesen Vorbereitungen allein ließ sie es aber nicht bewenden, sondern darüber hinaus traf sie noch weitere Vorkehrungen in Bezug auf Outfit und Accessoires für die geplante Träumerei.
War zum Beispiel ein Wildwesttraum angesagt, kleidete sie sich wie ein Cowboy und deponierte den Colt auf den Nachttisch, bei einem Horrortraum legte sie ein leichenblasses make up auf und schlüpfte in ein Hemd, das sie einem Bestatter abgerungen hatte, für einen Liebestraum jedoch bevorzugte sie ein entsprechendes Neglige oder begab sich gleich so zu Bett, wie Gott sie geschaffen hatte.
Bleibt noch zu erwähnen, dass bei dieser Art von selbst befohlenen Träumen auch die Geräuschkulisse eine nicht unerhebliche Rolle spielte; während ihrer Träume nahm Gerti alle möglichen Geräusche vom Yppieiyea über Todesschreie bis zum Pornogestöhne in sich auf und gab diese unmittelbar an die zu diesem Zweck besonders schallisolierten Schlafzimmerwände weiter.
Bereits kurz nach den ersten dieser selbst auferlegten Träume legte Gerti sich eine weitere Angewohnheit zu; sie begann, ihre nächtlichen Erlebnisse schriftlich aufzuzeichnen.
Dieses stellte für sie keine besondere Schwierigkeit dar, wusste sie doch vorher schon, was sie träumen würde, und so gab sie dieser Wiedererzählung bereits im Vorfeld einen Titel.
Eigentlich hätte sie all diese Träume schon vorher niederschreiben können, denn das Drehbuch dafür hatte sie ja bereits im Kopf, doch Gerti war romantisch veranlagt und ließ es sich nicht nehmen, alles noch einmal selbst zu erträumen.

So weit, so gut, doch plötzlich gab es eine weitere Veränderung in Gertis Dasein, die drastische Auswirkungen auf ihre bisherige Traumwelt nach sich zog.
Ein Mann trat in ihr zuvor gut behütetes Leben.
In der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft, die über das Stadium des reinen Hausverkehrs nicht hinausging, behielt Gerti ihr kleines Geheimnis für sich, und täglich befahl sie sich nach alter Väter Sitte ihre nächtlichen Scheinerlebnisse.
Eines Tages jedoch wollte der junge Mann, wie man landläufig zu sagen pflegt, mehr vom Kuchen und strebte eine Statusverbesserung weit über den bisherigen Verkehr an, doch nun wurde Gerti sehr nachdenklich.
Düstere Gedanken schossen ihr durch den Kopf.
Soll ich all meine schönen Nachtstunden, meine unterhaltsamen Träume, opfern, bloß, um einen Mann im Bett zu haben?
Kann ich vielleicht einen Kompromiss schließen, dergestalt, dass ich ihn nach getaner Arbeit aus meiner Schlafstätte verweise und auf die Couch verbanne?
Was wird er von mir halten?
Ob er es kommentarlos akzeptiert, aus Liebe?
Auf der anderen Seite, wenn ich das nicht tue, was soll er von mir denken, wenn ich mich als Cowboy zu ihm ins Bett lege, oder als Leiche?
Er wird mich bestimmt sofort verlassen, und wenn ich ehrlich bin, ich an seiner Stelle täte das auch.
Ratlos schickte sie ihren Freund nach Hause, an diesem Abend, und teilte dem Betrübt dreinblickenden mit, die Entscheidung über sein Gesuch zu verschieben; sie wolle noch einmal eine Nacht darüber schlafen.

Vor dem Zubettgehen befahl sie sich einen ganz besonderen Schlaf; sie nahm sich vor, von einer Wahrsagerin zu träumen, um aus der Richtung vielleicht eine Lösung ihres Problems zu erfahren.
In dieser Nacht funktionierte es jedoch nicht so, wie sonst, und der befohlene Traum widersetzte sich; statt einer Wahrsagerin erschien ihr der Mann, der mehr von ihr wollte, ihr Freund, und er wollte auch im Traum mehr.
Allerdings drückte er seine Forderung in einer derart rührenden und liebenswerten Weise aus, dass ihr ganz warm ums Herz wurde und sie schließlich ein wenig wehmütig beschloss, künftig nicht mehr ihre Träume herbeizubefehlen sondern sich stattdessen so wie früher und ganz wie Otto Normalverbraucher davon überraschen zu lassen.
Am nächsten Morgen teilte sie ihrem Freund diese Entscheidung telefonisch mit, und noch am gleichen Tag eilte dieser hocherfreut zu ihr, im Laufschritt, mit seinen Koffern unterm Arm, um bei ihr einzuziehen.
Als sie abends im Bett lagen, nach vollbrachter Aktion, und abwechselnd an einer Entspannungszigarette sogen, machte der junge Mann eine überraschende Bemerkung:
„Du, Gerti, ich muss dir was eingestehen“.
„Was denn?“
Der Freund antwortete nicht sofort, stattdessen erhob er sich vom Nachtlager und zog zu Gertis namenlosem Erstaunen aus einem noch ungeöffneten Köfferchen eine zusammenklappbare Ritterrüstung heraus und legte diese an.
Sodann nahm er ein Gummischwert, deponierte es auf dem Nachttisch und legte sich wieder zu Gerti ins Bett.
„Tut mir leid, Liebling, aber anders kann ich nicht einschlafen!“

Voller Vergnügen zog Gerti ihr Totenhemd aus dem Schrank.
„Phantastisch!“ murmelte sie, beugte sich über ihren Freund und gab ihm einen Kuss.
„Heute Nacht träume ich von Drakula, Schatz“.
„Und ich von König Arthurs Tafelrunde!“
 

Raniero

Textablader
Hallo Marius,
hallo flammarion,

Dank für die Komplimente.
ch hatte erst die Absicht, den Titel der Story mit einem Fragezeichen zu versehen, mit dem Hintergedanken, den Leser auf eine falsche Fährte zu schicken. Dann habe ich es, ich weiß auch nicht warum, wieder verworfen.
Der Titel ,Traumhaft' könnte mir auch gefallen.

Gruß Raniero
 



 
Oben Unten