Auszug "Zuckerstückchen"

Suse

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Arbeitstitel "Zuckerstückchen"
-Auszug-


Eigentlich heiße ich gar nicht Anita. Eigentlich heiße ich Sabine. Aber wer heißt schon gerne so wie alle Mädchen. Es lebt sich zwar ganz gut als Sabine, aber ich war überzeugt, als Anita würde alles besser werden. Irgendwie anders. Alle heißen Sabine. Anita heißt fast niemand. Deshalb habe ich meinen Namen geändert. Und die schreckliche Wahrheit ist, dass es sich als Anita in keiner Weise anders lebt, als als Sabine.
Dass ich irgendwann beschloss, dass die Welt mich am Arsch lecken kann ist also keineswegs eine übertriebene Reaktion auf unnötiges Selbstmitleid. Es ist die logische Konsequenz, wenn einem aufgeht, dass Frauen, egal, ob sie Anita, Sabine oder sonst wie heißen, immer wieder vor der Frage stehen: Was mache ich hier eigentlich?

Schon als ich in die erste Klasse kam hoffte ich, ein Mädchen namens Anita kennen zu lernen. Ich stellte mir vor, ich hätte eine Freundin, die Anita heißt, und mit der ich mich als einzige aus der ganzen Schule so richtig gut verstehe. Mit Anita konnte man Pferde stehlen. Anita war fast genau wie ich.

Wenn mein Vater meine Mutter nachts anschrie (so, wie das alle Eltern irgendwann einmal tun), sie sei hysterisch und dumm, meine Mutter meinen Vater anbrüllte er sei ein Arschloch und dann heulend in mein Zimmer kam, die Tür hinter sich zuwarf, abschloss und sich wortlos schluchzend auf die alte rote Couch warf, dann war Anita da und überlegte gemeinsam mit mir, warum es so gekommen war. Sie saß dann neben mir unter der Decke mit angezogenen Beinen, den Rücken gegen den braunen Wandbehang am Kopfende des Bettes gepresst. Wir krochen gemeinsam unter die Decke, als mein Vater laut brüllend an der Türklinke herumriss bis der Schüssel kaum hörbar auf den braunen Teppichboden fiel. Wir hofften gemeinsam unter der Decke, dass er es nicht schaffen würde, den letzten hölzernen Schutzwall zwischen uns und ihm einzutreten. Meine Mutter schrie noch einige Male – ihre Stimme überschlug sich - , er solle abhauen, was die Kleine denn denken sollte, er polterte rasend gegen die Tür und irgendwann hörten wir erleichtert die trunkenen schweren Schritte, die die marmorne Treppe hinunterstolperten. Dann sahen Anita und ich uns gegenseitig kurz an, dachten beide, dass wir nie so einen Mann haben wollten, schliefen ein, und am nächsten Morgen war immer alles vergessen .

Anita war auch bei mir, wenn ich im Garten spielte. Wir spielten entweder Prinzessin und Prinz, oder armes Mädchen, das dann vom Prinzen gerettet werden musste. Wir kochten Schlammsuppen in alten Margarinebechern und sammelten Holz, um es im Winter warm zu haben. Unter der Wendeltreppe aus Beton, die vom Balkon meiner schreienden Eltern direkt in den herrlich zugewucherten Garten führte hatten wir unsere Höhle oder unser Schloss.

In der Schule war Anita selten bei mir. Ich hatte da keine Zeit für sie, und außerdem ging sie in die Parallelklasse. Manchmal war sie auch eine Klasse über mir, oder sie war Austauschschülerin aus England oder Frankreich. Aber eben nur selten. Ich hatte viele andere Freunde in der Schule. Ich musste ständig in irgendwelche Klassenalben schreiben. Diese kleinen Bücher mit Schweinchen oder Schlümpfen darauf, in dem man nach Hobbys, Berufswünschen und anderem Zeug gefragt wurde. Bei Hobbys schrieb ich grundsätzlich lesen und Tiere in die Lücke, die dafür vorgesehen war. Ich kann mich zwar nicht erinnern, zu dieser Zeit jemals freiwillig gelesen zu haben. Und wenn ich daran denke, wie ich mich um meine Wellensittiche gekümmert habe, würde ich heute am liebsten vor Scham im Erdboden versinken und mir selbst auf dem Kopf pissen.
Die Wellensittiche starben vor Hitze, oder darbten ohne jeden Ausflug im Käfig, bis sie von der Stange fielen.
Aber mein Hobby waren Tiere. Und als meine Mutter mir zum Auszug einen blauen Wellensittich schenkte, damit ich nicht so allein sei in der großen weiten Welt, fragte ich mich, ob sie wusste, was sie tat und hoffte, dass der liebe Gott mir irgendwann einmal verzeihen würde.

Wie Anita aussah weiß ich nicht mehr. Ich glaube aber, sie war immer anders. Anitas Eltern sahen immer gleich aus. Wie Barbie und Ken.
Einmal glaubte ich, Anita jetzt wirklich gefunden zu haben. Sie sah ganz anders aus als sonst. Sie hatte kurze rote Haare, irgendwie wie ein Junge, und hieß Esther. Sie war die Tochter eines Mannes in den besten Jahren. Er sah nicht aus wie Ken, er hatte einen dunkelbraunen Haarkranz auf dem birnenförmigen Kopf, aus dem schon einzelne graue Haare wuchsen, und ober- und unterhalb des Mundes wucherte ein gewaltiger Vollbart. Aber irgendetwas veranlasste mich dazu, trotzdem zu glauben, dass ich sie gefunden hätte. Der Vater stand mit meinen Eltern geschäftlich in Verbindung, und aus irgendeinem Grund, den ich nicht wusste, gingen wir mit ihm und Esther an einem dieser schönen Frühlingssonntage in ein Lokal zum Essen. Die Erwachsenen führten wichtige, langweilige Gespräche, und Esther und ich trollten uns irgendwann nach draußen, um der stickigen Luft und dem unerträglichen Nichtstun zu entkommen. Wir kletterten auf verschiedene Obstbäume, die auf der Wiese hinter dem Gasthof standen, und hüpften durch das hohe Gras und stellten uns vor, wir seien Pferde. Ich dachte, Esther sei schließlich auch ein schöner Name. Wir hatten einen wundervollen Nachmittag. Als meine Eltern und ihr Vater uns ermahnten wieder hereinzukommen, da sie aufbrechen wollten erzählte ich Esther noch schnell von unserem Garten: „Wir haben einen wunderschönen riesiggroßen Garten! Wenn ihr mal zu uns kommt, dann können wir da weiterspielen, ja?!“ „Ja.“ sagte Esther und winkte mit ihrem Vater noch unserem Mercedes hinterher, bis wir um die Ecke gebogen waren.
Es dauerte keine vier Wochen, da kamen sie auch schon. In einem dunkelblauen BMW bogen sie in die Einfahrt ein, und ich freute mich wie ein Schneekönig. Als wir in den Garten kamen rümpfte Esther die Nase: „Von wegen großer Garten. Unserer ist ja viiiiel größer und schöner!“ Und da wusste ich, dass Esther doch nicht Anita war.
In der Pubertät hatte ich so viele Freundinnen, dass Anita nur noch sehr selten da war. Ich spielte Barbie mir anderen Mädchen, und hörte mir ihre Geschichten übers Küssen an. Nur, wenn ich alleine in meinem Zimmer saß kam sie manchmal noch herein und setzte sich neben mich. Aber auch in jenen so seltenen Augenblicken war sie mir so nah wie immer schon. Und wenn sie da war, waren wir nie älter als 10 Jahre.
Anita verschwand an dem Tag aus meinem Leben, als ich in die elfte Klasse kam. Wir kamen alle aus anderen Schulen, darum kannte ich nur fünf meiner Mitschüler. Ein Mädchen der übrigen 24 hieß Anita Volkert. Sie lachte die ganze Zeit, und war so fröhlich, dass es nicht auszuhalten war. Es schien, als habe sie keine siebzehn Jahre auf der Erde gelebt, sondern sei just aus der Kinderüberraschungsgalaxie zu uns geflogen, um uns Spannung, Spiel und Schokolade zu bringen.
Ab diesem Tag war ich allein und fragte mich: Was tue ich hier eigentlich? Ich beschloss, eine andere zu werden. Und das geht am leichtesten, wenn man sich einen Mann sucht.

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