Autobahn

Hazekiel

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Harry, Stephanie und Theresa waren gut gelaunt. Die Sonne machte dem Sommer alle Ehre, strahlend blauer Himmel überspannte die Landschaft. Die Luft roch nach den Feldern ringsum und man konnte die Grillen zirpen hören.
Das heißt, man hätte sie hören können, wären sie nicht gerade in Harrys neuem Cabrio auf der Autobahn unterwegs gewesen. Eine kleine Spritztour, endlich mal wieder raus aus dem Grau der Großstadt. Harry hatte erzählt, dass es in seiner alten Heimatstadt eine Eisdiele gibt, die das beste Eis auf dem Planeten herstellt. Mindestens!
So waren sie nur noch einige Kilometer von ihrer Ausfahrt entfernt, als sich vor ihnen ein Motorradfahrer einfädelte. Er hatte die Autobahn gerade erst über den Beschleunigungsstreifen geentert, machte aber schon ordentlich Geschwindigkeit. Sein offensichtlicher Vorwärtsdrang wurde jedoch noch von einem Lastwagen gebremst, der dabei war, einen anderen LKW zu überholen.

„Erinnert mich an eine Kaffeewerbung von früher“, witzelte Harry, als er auf das Motorrad deutete. „Klein, stark, schwarz…“

Andreas freute sich auf die Autobahn. Wie fast jeden Tag, wenn er auf dem Bike war, stellte das den Höhepunkt der Tour dar. Voll durchbeschleunigen, jeden Gang ausfahren, keine Angst vor Gegenverkehr. Er liebte dieses Gefühl, diesen Geschwindigkeitsrausch. Dieses sich-fast-nicht-mehr-festhalten-können, gerade-noch-so auf dem Bike sitzen bleiben zu können, wenn auch nur mit Kraft und unter Zuhilfenahme seiner Knie, die sich am Tank festklammerten…

Es war 3 Uhr am Nachmittag, nicht viel Verkehr. Noch nicht, bald würden die Pendler aus der Großstadt auf dem Heimweg die zweispurige Asphaltspielwiese zu einer Blechlawine verwandeln. Doch er war nicht in Eile, schließlich war er schon an der Auffahrt.

Er legte sich gefühlvoll in die Kurve, im Magen begann es lustvoll zu Kribbeln, sein Gehirn war komplett leer gefegt von allem, was ihn normalerweise belastete, die Knie suchten Halt am Tank, der linke Fuß rutschte unter den Ganghebel, ein letzter tiefer Atemzug und es ging los.
Verdammt, gerade als er sich auf die Autobahn gefädelt hatte, überholte ein Lastwagen den vor ihm fahrenden. Egal, er war schon fast vorbei. Andreas schaltete in den dritten Gang hoch. Im Rückspiegel sah er aus dem Augenwinkel, dass ein Auto näher gekommen war. Doch das störte ihn nicht, es würde gleich wieder weit hinter ihm liegen.
Dann war der Lastwagen endlich mit dem Überholvorgang fertig, die Bahn frei. Andreas duckte sich unter das nachträglich installierte kleine Windschild und drehte die rechte Hand nach hinten bis zum Anschlag.
Der Motor der Honda erwachte aus dem Dornröschenschlaf. Der Hinterreifen krallte sich mit Urgewalt in den Asphalt und beschleunigte das Gespann zu einem Geschoss. 11000 Touren, rein mit dem 4.ten Gang. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel zeigte Andreas, dass er Recht behalten hatte. Das Fahrlicht des Autos, das eben noch an seinem Kotflügel hing, wurde immer kleiner. 5.ter Gang. Wasser stieg ihm in die Augen, der Lenker zerrte an den Handgelenken, der Auspuff röhrt und dröhnte, er spannte jeden Muskel, um sich auf dem Sitz halten zu können. 6.ter Gang. 240. In der Ferne taucht ein anderer Lastwagen auf, dahinter eine kleine Kolonne aus PKW. Andreas ließ den Gashahn los, kam aus dem Windschatten hoch. 170. Der Lastwagen wurde schnell größer. Andreas schaltete zweimal zurück, ließ den Gang langsam kommen.
Es dauerte etwas, bis alle 4 Fahrzeuge den langsameren LKW überholt hatten. Er entspannte sich, schaltete nochmal zurück. Da war wieder das schon bekannte Licht im Rückspiegel.

„Scheint auch flott unterwegs gewesen zu sein“, dachte er bei sich.

Dann war der Weg wieder frei, er lud alle Gänge durch, Vollgas, bis in den Begrenzer. Nochmal eine Kolonne, dasselbe Spiel erneut. Runterschalten, abwarten, Licht im Rückspiegel.

„Ganz schön hartnäckig“, Andreas musste grinsen.

Nach dem nächsten Antritt bis zur Höchstgeschwindigkeit wurde die Geschwindigkeitsorgie erstmal ausgebremst. Tempolimit 120, er schaltete diesmal nicht zurück. 6.ter Gang, er öffnete das Visier, um ein wenig Luft zu schnappen. Die Sonnenblende darunter blieb zu. Er ließ die Honda ausrollen, 110.

„Man muss ja nicht ausgerechnet auf dem knappen Kilometer, der beschränkt ist, über die Stränge schlagen. Außerdem wird hier häufig geblitzt…“

Harry hing sich mit dem Mini hinten ans Motorrad.

„Wollen doch mal sehen, was der drauf hat!“, grinste er.

Stephanie ist auf dem Beifahrersitz erwartungsfroh in Rennposition gegangen. Füße fest gegen den Boden gepresst, rechte Hand am Türgriff, linke Hand am Sitz eingekrallt. Theresa war etwas übermütiger. Sie hatte den Gurt geöffnet und war in die Mitte gerutscht, um das folgende Schauspiel besser sehen zu können.
Als der Motorradfahrer Gas gibt, macht auch Harry einen Kickdown. Doch das Motorrad gab dem Automobil keine Chance. Der Auspuff war so laut, dass alle drei weder die voll aufgedrehte Anlage noch den Motor des Mini hören konnten. Dann wurde die Maschine vor ihnen immer kleiner, aber nur minimal leiser…

Alle drei waren überrascht, suchten nach Worten. Harry war der erste.

„Geiler Abzug!“

Stephanie meinte…

„Geiler Sound…“

Theresa grinste bis über beide Ohren…

„Geiler ARSCH!“

Die Prioritäten waren klar verteilt…

Harry gab Gas, er wusste, dass nur ein paar hundert Meter entfernt eine Geschwindigkeitsbegrenzung begann. Bis dahin musste er das Motorrad erreicht haben, sonst würden sie es sicher nicht so bald wiedersehen. Und er hatte einen Plan, er wollte dem Fahrer zeigen, was er von ihm und seiner Maschine hielt. Zum Glück hatte der offenbar seine Portion Adrenalin schon bekommen, denn er näherte sich dem 120-Schild schon fast bedächtig langsam. Er fuhr mit nur einer Hand am Lenker, die andere öffnete das Visier seines Helmes. Er kannte die Strecke offenbar gut, was man auch am einheimischen Kennzeichen erkennen konnte…

„Hört mal zu Mädels. Wenn wir ihn überholen können, geben wir ihm ein Thumbsup, was haltet ihr davon?“

„Bin dabei“ Stephanie musste nicht überzeugt werden.

„Me too“ Theresa hatte noch immer das breite Grinsen im Gesicht.

Andreas ließ das Moped lässig in die 120-Zone gleiten, blieb sogar unter dem Limit. Seine Muskeln brannten ein wenig, die kleine Tour hatte ihren Tribut gezollt. Da wandte er den Blick nach links auf das ihn überholenden Fahrzeug. Und was er das sah, hatte er so auch noch nicht gesehen: Drei Personen saßen in diesem Cabrio und alle drei streckten den Daumen der rechten Hand nach oben. Thumbsup! I like…

Er grinste fast genauso breit wie Theresa, natürlich ohne dies zu wissen. Aber es war ein seltsam erhebendes Gefühl, für sein Motorrad oder seine Fahrweise von Unbekannten auf diese Art und Weise Bestätigung zu erhalten. Der krönende Abschluss seiner Spazierfahrt. Daran würde er sich noch lange erinnern. Dachte er…

In genau diesem Augenblick verriss es Andreas den Lenker. Er war über einen ihm eigentlich sehr gut bekannten Fahrbahndefekt, eine sehr breites Schlagloch, gefahren. Er war unaufmerksam und leichtsinnig genug gewesen, die Maschine nur mit einer Hand zu lenken. Der Versuch, die Kontrolle über sein Gefährt wieder zu erlangen, scheiterte. Das Motorrad stürzte und klemmte seinen rechten Fuß zwischen Metall und Fahrbahn. Die Zeit begann sich zu dehnen und den ganzen Vorfall als eine grotesken Karikatur der Wirklichkeit erscheinen zu lassen. Andreas konnte der Kraft und Wucht seiner Maschine nichts entgegensetzen. Durch den schweren Rahmen des Vierzylinders auf den Untergrund gequetscht, schlitterte Andreas über das schwarze Asphaltband. Seine Gliedmaßen wurden unkontrolliert durch die Gegend geschleudert, nur die rechte Seite blieb starr unter der Last der Maschine auf den Boden gedrückt.

Er spürte die Hitze, die durch die Reibung entstand. Er spürte, wie seine Kombi begann, sich durch die Geschwindigkeit und den hohen Reibwert der Fahrbahndecke aufzulösen. Er spürte die winzigen Kiesel, die erst durch die Stoffbahnen und dann durch seine Haut ins Fleisch getrieben wurden. Er spürte auch, dass der Stoff immer dünner wurde, bis schließlich mehr und mehr blanke Haut über den Teer schlitterte, wobei sich seine Geschwindigkeit nur minimal verminderte. Der Helm mit seinem Kopf darin tanzte wie ein Tennisball, wurde immer wieder durch Fahrbahnunebenheiten in die Luft befördert, soweit es sein schleifender Körper eben zuließ. Seine Haut konnte dem Teer noch weniger entgegensetzen als die Motorradbekleidung. Wie ein überdimensionaler Hobel schabte die Straße an seinem Körper, erst die Haut, dann das weiche Gewebe, schließlich sogar an vereinzelten Knochen. Dann erlöste ihn eine gnädige Ohnmacht durch einen der vielen Kopfstöße von dem was noch kommen sollte.

Theresa hatte sich im Fahrzeug umgedreht. Es war eine gute Idee gewesen, den Gurt zu lösen, er hätte sie jetzt nur gehindert. Sie wollte einen Blick auf das Gesicht des knackigen Motorradfahrers erhaschen und so drehte sie sich im Fond halb um ihre Achse und kniete schließlich auf der Rückbank in Richtung Heck, die Hände fanden an den Kopfstützen halt. Sie grinste dem dunkel gekleideten Verfolger entgegen, er schien mit der erhobenen Hand zu grüßen. Da fuhr das Auto über eine Fahrbahnunebenheit. Theresas Lächeln erstarb, denn sie begriff sofort, dass das für das Motorrad eine gefährliche Situation ergeben würde.

Doch sie konnte nur mit erstarrter Miene und vereistem Körper zusehen, wie ihre schlimme Vermutung eintrat und das Gespann stürzte. Hilflos und zur Untätigkeit verdammt sah sie zu, wie die schwere Maschine den Fahrer zwischen sich und der Fahrbahn einklemmte, ihn mitriss. Wie sich Fahrzeug und Führer durch die Reibung aufzulösen begannen. Funken sprühten von den Metallteilen.
Gummi und Kunststoffteile lösten sich in dunklem, stinkenden Rauch auf.

Der Fahrtwind war sehr laut im Mini, doch als Theresa aus der Erstarrung erwachte und ihr Entsetzen in einem markerschütternden Schrei zum Ausdruck kam, wurden auch Harry und Stephanie aus ihrer guten Laune gerissen. Harry sah in den Rückspiegel und er wusste sofort, warum Theresa schrie. Er konnte nur noch einen Reifen hinter dem Fahrzeug ausmachen, der Rest war im toten Winkel seines PKW verschwunden. Dafür zog eine Spur aus Funken und Rauch hinter dem Fahrzeug her. Stephanie war durch den Schrei von Theresa selbst erstarrt, war unfähig, sich bewegen. Aus Angst vor dem, was sie erblicken hätte können, sah sie gebannt und starr geradeaus.

Harry drehte sich um, stieg instinktiv auf die Bremse. Ein fataler Fehler, denn durch die schnelle Drehung seines Kopfes hatten auch seine Arme und Hände eine Bewegung begonnen, die den Lenker nach rechts bewegten. Nicht viel, aber genug, um den Lastwagen, den sie gerade überholen wollten, zu touchieren. Auch Harry verlor jetzt die Kontrolle über sein Fahrzeug. Durch den Impuls der Kollision, stellte sich das Auto quer, die Reifen bremsten rapide, weil sie nun blockierten. Der linke Vorderreifen platze. Der kleine Bordsteinrempler von vor vier Wochen hatte ihn offenbar schlimmer beschädigt, als es für Harry bei der Kontrolle den Anschein gemacht hatte. Eine üble Sache, denn nun bremste die Felge auf dem Asphalt. Und sie bremste sehr effektiv. Durch die starke Verzögerung und die einseitige Verstärkung der Bremswirkung drehte sich der Mini hinter den Lastwagen auf die rechte Spur ein. Nur wenige Sekunden später schlug Andreas zusammen mit seiner Honda wie ein Projektil darin in…
 



 
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