Aya

echnaton

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Aya

1.


Ich, Balaschi, ehemals Diener meiner Herrin Aya, der leuchtendsten aller Perlen Babylons, schreibe in diese Tafel, Marduk und Ischtar, sowie die Götter des Landes Chatti, in welches der Götter Wille meine damalige Herrin und somit auch mich führte, seien meine Zeugen:

Aya war von außerordentlicher Schönheit. Sie begann zu Anfang in den feinen Gaststätten mit ihren Liebesdiensten zu werben und wurde Geliebte einflußreicher Herren, die sie reichlich entlohnten. Wohlhabende syrische Kaufleute, Beamte des Palastes, Priester des Marduk höheren Ranges, sowie Gesandte der Könige aller Länder zählten zu ihren Gönnern. [...] Sogar König Burnaburiasch ließ sie zu sich kommen, um ihr beizuwohnen. Nach einiger Zeit gelang es ihr, dermaßen viele Talente an Silber zu sammeln und in einem angesehen Geschäftshaus anzulegen, daß sie ein geräumiges und wohl ausgestattetes Haus in einem der besseren Viertel der Stadt erwerben konnte. In jener Zeit erwarb sie mich, Balaschi, als Diener auf dem Sklavenmarkt am Hafen, befreite mich, einen ehemaligen Priester des Marduk der untersten Kaste, der den Tempeldienst verließ, dadurch alles verloren hatte und nur sich selbst verkaufen konnte, aus seinem schrecklichen Joch. [...]

Es begann für mich eine sehr angenehme Zeit. Aya behandelte mich als Freund, nicht als Diener. Ich sorgte für die nötigen Einkäufe, befahl dem Koch, was er zum Essen vorbereiten sollte und den zwei anderen Dienern, wie sie das Haus rein zu halten, sowie Ayas Gemächer und persönliche Sachen anzuordnen hatten. Als Ayas treuester Begleiter durchlebte ich mit ihr, meiner Herrin, gute wie schlechte Tage, begleitete sie zum Arzt und zur Engelmacherin, wenn sich bei ihr Empfängnis einstellte, kümmerte mich um ihre Gäste während ihrer zahlreichen Festlichkeiten, die im Haus veranstaltet wurden, und die ich vorzubereiten hatte. Das Haus war ausgesprochen geräumig, Aya beanspruchte für sich zwei geräumige Gemächer, eines mit einem breiten Bett aus syrischem Zedernholz, ein Geschenk eines Wohlhabenden Kaufmanns aus Byblos, reich verzierten Schränken aus Sidon, und einem Sofa. Im zweiten Gemach war ihr Tischchen mit dem Messingspiegel und den Schminkutensilien, sowie ein Schrank für ihre zahlreichen kostbaren Gewänder. Dieses Gemach besaß eine Türe zum Garten, in welchem eine alte Sykomore ihr in den glühenden Stunden des späten Tages Schatten spendete. Auch schloß an jenes Gemach das Bad an, welches mit feinstem glasierten Mosaik verkleidet war. Ein großer Saal diente für Empfänge. Auf dem Boden lagen Teppiche und Pölster für die Gäste, dort empfing sie auch ihre Liebhaber, der Schrein der Ischtar befand sich ebenfalls in jenem Saal. Die Gemächer [...] der Diener lagen unmittelbar neben dem Saal und waren von diesem durch eine Holztüre getrennt.

Aya erhob sich von ihrem Lager erst als die Sonne am Zenit stand, wir brachten ihr Gerstebrei als erste Mahlzeit und achteten darauf, daß das Becken im Bad immer frisches Wasser hatte, denn Aya pflegte zwei bis drei Male während des Tages zu baden. Im syrischen Viertel mußten wir Essenzen, Öle, ägyptisches Leinen, sowie Rauchwerk besorgen, bei den Priesterinnen der Ischtar die nötigen Opfergaben für den Schrein.

Sie entlohnte ihre Diener reichlich, züchtigte sie niemals, sprach sanft mit uns, wenn sie Anordnungen gab. Ihre Gönner empfing sie stets erhobenen Hauptes und ließ nichts mit sich geschehen, was ihr widerstrebte. So mancher begehrte sie als Neben-, oft sogar als Hauptfrau, doch Aya, meine stolze Herrin, lehnte dies stets ab.

So vergingen Jahre in stetigem Wohlergehen. Aya war großzügig zu allen, denen es nicht wohlerging, jeder, der an ihre Türe klopfte, um Almosen zu erbitten, bekam ein paar Silbserschekel, Datteln und einen Sack Gerste.

Doch Aya wurde älter und machte sich Gedanken über ihr weiteres Leben. Sie hatte einiges an Silbertalenten in jenem Handelshause in Syrische Schiffe angelegt, was ihr reichlich Zinsen eintrug, aber dies milderte nicht ihre Sorge.

Eines Nachts kam der Diener eines angesehenen Beamten des Königs des Landes Chatti und wünschte meine Herrin zu sprechen. Es wurde vereinbart, daß jener ehrenvolle Mann die Nacht mit ihr verbringen würde. So geschah es auch. [...] Er kam alleine in einer Sänfte, schickte die Träger unversehens fort. Er war von nur mittelgroßer Statur, sein Körper sehr sehnig, seine Taille schmal. Seine Haut war weiß und das Haar hell. Seine Nase lief gerade von der Stirne herab, die Augen waren blau, die Lippen fein und schmal. Sein Aussehen war, wie man es von jemandem aus dem Lande Chatti erwartete. Er stellte sich in etwas verbogenem Babylonisch mit dem Namen Lubarna vor.

So geschah es, daß Lubarna von meiner Herrin dermaßen angetan war, daß er sie zu ehelichen begehrte. Seine Liebe zu ihr entbrannte heftig, er kam jeden Abend in ihr Haus, machte meiner Herrin kostbare Geschenke, überhäufte sie mit Talenten von Silber, kniete vor ihr, bat sie, sie möge doch mit ihm kommen. Meine Herrin antwortete stets, daß sie ihre Freiheit mehr als alles andere schätze, daß sie seine Begierden nicht erwidern könne, daß er auch bedenken solle, welches Gewerbe sie ausübe und daß sie die größte aller Städte des Weltkreises nicht verlassen wolle.

Doch Lubarna warb und flehte. Aya, meine Herrin, sandte mich, um zu verbreiten, daß sie die nächsten Tage niemanden zu empfangen wünsche, um über Lubarnas Angebot nachdenken zu können. Auch sandte sie mich zum Diener des Lubarna, um ihm auszurichten, daß sie seinen Herren zu sehen wünsche.

Als Lubarna kam, teilte ihm meine Herrin mit, daß sie bereit sei, sein Flehen zu erhören und ihn zum Manne zu nehmen, obwohl sie seine brennende Leidenschaft nicht erwidern könne, jedoch Achtung und gewisse Zuneigung empfinde, und daß sie eine sichere Zukunft brauche, auch um ihrer treuen Diener willen. Lubarna umarmte sie heftigst und übersäte ihre Hände und Arme mit Küssen.

So zogen wir nach Chattuscha, der Hauptstadt des Reiches Chatti. Das Haus in Babylon wurde vom Handelshaus betreut, in dem meine Herrin ihre Silbertalente verwalten und anlegen ließ. Die zwei anderen Diener blieben und mußten für dessen Erhaltung Sorge tragen. Ich, Balaschi, kam mit nach Chattuscha. Die Reise dorthin dauerte viele Monate, wir mußten mit dem Boot Flußaufwärts, bis ins Reich Mitanni der Hurriter, dort durchwanderten wir mit Eselsgespannen das Gebirge, was mit all den schweren Kisten sehr schwierig war und lange dauerte. Meine Herrin nahm nämlich all ihre Gewänder, Schmuck, Essenzen, Öle, Fette, Schminke, Perücken, sowie Stoffe und Teppiche mit.

Chattuscha ist eine große, mächtige Stadt, mit unglaublich dicken Mauern aus Stein umgeben. Als ich das unermeßlich hohe und unglaublich breite Stadttor, das in einem spitzen Bogen nach oben zusammenlief sah, mußte ich es einige Zeit lang staunend betrachten, da ich derlei nie gesehen hatte. Neben dem Tor ragen zwei mächtig hohe Türme mit breiten Zinnen in den Himmel empor. Wir zogen durch das große Tor, und auch die Stadt brachte meine Herrin und mich zum Staunen. Sie besteht gänzlich aus gehauenen Steinblöcken, die Straßenpflaster, die Häuser, die Brunnen. Chattuscha ist groß zu nennen, auch wenn sie nicht einmal annähernd an die Größe Babylons heranreicht, ist doch zu erkennen, daß dies die Hauptstadt eines großen mächtigen Reiches ist. Die Stadt liegt in den Bergen, die Nächte sind kalt, auch die Tageshitze bleibt aus, in den Häusern friert man, deshalb befinden sich große Feuerstellen in fast jedem Raum.

Lubarnas Haus lag in der Nähe des Palastes des mächtigen Königs Schuppiluliuma, der sich als weiße steinerne Pyramide in den Himmel erhebt. Sein Haus hatte einige große Räume und zwei kleinere Kammern für die Dienerschaft. Eine war dem treuen Leibdiener Lubarnas zugewiesen, den ich schon in Babylon kennengelernt hatte. Die andere Kammer durfte ich beziehen, da mein Vorgänger meinen neuen Herrn bestohlen hatte und ohne Strafe fortgeschickt worden war, denn Chatti kennt nicht die grausame Willkür Babylons, was Strafen für Missetaten anbelangt. Somit hatte auch ich meinen Platz im neuen Heim zugewiesen bekommen.

Die Einrichtung war einfacher als jene, die wir in Babylon gewohnt waren, im Gemach meiner Herren stand nur ein einfaches Bett aus Holz und zwei glatte Schränke ohne verspielte Verzierungen. Doch als die weichen bunten Teppiche meiner Herrin über den kahlen kühlen Steinboden gelegt wurden, wurde das Gemach sehr behaglich. Meine Herrin klagte nie, brachte ihrem Gemahl stets Achtung und mit den Jahren auch Zuneigung entgegen. Lubarna liebte meine Herrin abgöttisch, glühte vor Leidenschaft und sagte ihr jeden Tag, welch Glück er gehabt hätte, daß sie seine Gemahlin wurde. Er machte ihr großzügige Geschenke und stellte an sie keinerlei Anforderungen. Aya begegnete man anfangs mit ziemlichem Mißtrauen, man wagte nicht mit ihr zu sprechen, auch weil sie die Sprache des Landes Chatti, die so anders ist als die unsere, kaum erlernen konnte. Lubarnas Familie, seine Bekannten waren jedoch von hoher Bildung und sprachen Babylonisch, sodaß man sich einigermaßen verständigen konnte. Bei den Besorgungen half mir mein liebgewonnener Freund, der zweite Diener meines Herrn, der sich auch in unserer Sprache, etwas verdreht und fehlerhaft, aber doch, ausdrücken konnte. Trotzdem wurden meine Herrin und ich von allen hier, auch von der Familie meines Herrn, mit Zurückhaltung behandelt. Wir bemerkten, daß wir uns von den Bewohnern Chattis unterschieden, unsere Haut war dünkler, unsere Haare schwarz, unsere Kleidung, unsere Sitten und Ansichten erregten Aufsehen. Zwar lebten in Chattuscha auch Fremde, meistens Gesandte der Königshäuser anderer Reiche, doch blieben sie meistens unter sich. Aya pflegte dann und wann die Gesandten des Königs von Babylon zu einem Mahl zu laden, auch um sich Ratschläge bezüglich des Umganges mit den Menschen in Chatti zu holen.

In Chatti ist die Sitte, mehrere Ehefrauen zu haben verpönt. Die Frauen Chattis schminken sich nicht, tragen auch kein langes Haar, sie lassen sich das Haar auch nicht durch erhitzte Bronzestäbe künstlich in Locken legen, wie man das bei uns zu tun pflegt. Auch gibt es nur ganz wenige Kneipen in Chattuscha. Sie schließen bereits bei anbrechender Dunkelheit ihre Pforten. Die Händler auf den Straßen bieten in den meisten Fällen nur die im Lande wachsenden Früchte und Getreidesorten an, jedoch kommen syrische Wanderhändler jeden Tag in die Stadt und bieten auf den Straßen zu überhöhten Preisen all das feil, was man in den Ländern des Weltkreises herstellt. Es ist immerhin die Hauptstadt des mächtigen Reiches Chatti und Käufer finden sich immer wieder. Die Strafen sind milde, werden meistens durch Geldbußen und Einigung mit dem Geschädigten abgegolten. Chattis Sprache ist kaum zu erlernen, die Kleidung der Menschen schlicht, die Männer rasieren sich wie die Ägypter, ein seltsames Land, aber ich konnte nicht klagen.

Meine Herrin fiel anfangs aufgrund ihrer dunklen Haut, ihres künstlich gewellten langen Haars, ihrer ausgefallenen Kleidung aus buntem Leinen, auch ihres reichlichen mit vielen edlen Steinen besetzten Schmuckes wegen, sowie durch Schminke auf. Später trug sie dann die schlichte Tracht des Landes und unterließ es, sich die Haare zu wellen. Vom Schmuck nahm sie schließlich nur die ihr liebgewordenen Stücke. Die ägyptischen Leinenkleider, die so dünn sind, wie die Flügeln des Schmetterlings trug sie nur mehr im Schlafgemach. Sie tat dies, vermute ich, für Lubarna, auch wenn sie es nie zugegeben hätte, da dies, so weit kenne ich meine Herrin, sie in ihrem Stolz verletzt hätte.

Mit den Jahren entwickelte, so glaubte ich zu bemerken, meine Herrin doch eine tiefe Zuneigung zu Lubarna, auch wenn sie seine glühende Leidenschaft nicht erwidern konnte, oder vorgab dies nicht zu tun. Sicher deshalb, da Lubarna sie nicht einschränkte, ihr keine Vorschriften machte, keine Befehle gab, sondern sie brennend liebte, weil sie eben so war wie sie war. Ich lebte zu jener Zeit, erst jetzt wird es mir bewußt, mit zwei außergewöhnlichen Menschen.

Es vergingen noch einige sehr schöne, ruhige Jahre, als Lubarna plötzlich erkrankte. Er erwachte eines Morgens im Monat Abu, gerechnet nach babylonischem Kalender, sich im Fieber schüttelnd und hustend. Es wurde sofort nach Ärzten geschickt, die ihm Medizin verabreichten, doch sein Zustand besserte sich keineswegs. Aya bekam Angst, sie schlief nicht des Nachts, wachte bei ihrem Gemahl, lief im Gemach auf und ab. Sie sandte Vollmachten mit Boten nach Babylon, damit jene im Handelshaus das nötige Silber ausgehändigt bekamen, um die besten dort ansässigen ägyptischen und babylonischen Ärzte kommen zu lassen. Es dauerte lange, bis sie eintrafen. Lubarna war geschwächt und ausgezehrt, als sie sich einfanden. Sie gaben ihm zwar Medizin, doch meinten sie, es handle sich um ein Geschwür, das nicht zu behandeln sei, es half nichts. Die Ärzte gingen, und Lubarna wurde immer schwächer. Meine Herrin wachte an seinem Lager, bis er eines Nachts im Monat Addaru verstarb. Aya saß stumm und regungslos neben dem Leichnam. Sein Bruder kam und sorgte für die Bestattung im Boden des Hauptraumes, wie es in Chatti Sitte war. Meine Herrin sprach kein Wort, verzog keine Miene als man Lubarna beisetzte. Die Steine wurden wieder über das Grab im Hauptraum des Hauses gelegt, Aya verlor ihr Bewußtsein. Ich legte beide Arme unter ihre Achselhöhlen, hob sie auf und legte sie auf das Bett. Sie schlief zwei Tage und zwei Nächte, ohne aufzuwachen.

[...] Nachdem sie aus dem tiefsten aller ihrer Schläfe erwacht war, weinte sie, stets ihren Oberkörper vorwärts und rückwärts bewegend. Mehrmals ergriff sie ein Büschel ihrer schon mit grauen Strähnen durchzogenen Haare und riß es sich aus. Sie versank in tief empfundener, unermeßlicher Trauer [...]

Das Haus war ein Geschenk des Königs Schuppiluliuma an seinen Beamten, und Aya hätte mit ihren Dienern dort bleiben können, doch sie hätte es nicht ertragen. So kehrten wir nach Babylon zurück, wo wir das alte Haus gut betreut von den beiden Dienern vorfanden. Sie waren außer sich vor Freude, als sie uns eintreten sahen, hielten jedoch inne beim Anblick unserer Herrin, die ernst geworden und gealtert war. Aya, meine Herrin, lachte kaum noch, kümmerte sich um nichts mehr. Ich, Balaschi, ihr Diener übernahm die Verwaltung des Vermögens, das sich im Handelshaus angesammelt hatte. Kurz vor ihrem Tode ließ uns unsere Herrin frei, ließ einen Beamten des Königs zu sich kommen, um die Freilassung amtlich festhalten zu lassen. „Ihr hattet es gut bei mir, und ich hatte es gut bei Euch, so seit frei." sagte sie und verfügte, daß wir ihr Erbe aufteilen und im Hause wohnen bleiben sollten. Am letzten Tage ihres Lebens rief sie mich zu sich, um mir zu sagen, daß sie Lubarna mehr geliebt hätte, als sie es sich eingestehen konnte, daß sie es sich nie verzeihen könne, ihm dies nie gesagt zu haben, daß sie daran verzweifelte, sich schuldig fühle, daß er um vieles glücklicher hätte sein können, wenn er dies aus ihrem Munde vernommen hätte, daß er viel glücklicher leben hätte können, wenn er gewußt hätte, daß seine brennende Liebe und Leidenschaft erwidert wurde. Dies war das erste Mal, daß ich meine Herrin voller Zweifel an sich selbst erlebte. Sie starb in derselben Nacht. So sitze ich, Balaschi, nun ein freier und wohlhabender Mann unter der Sykomore im Hause meiner toten Herrin, das jetzt das meinige und das meiner zwei Brüder ist. Ich nenne sie Brüder, denn sie sind meine einzige Gesellschaft. Wir vertreiben die Zeit mit Brettspielen, trinken abends Dattelwein und unterhalten uns. Wir sind sehr gealtert. Meine Augen sind müde, meine Hand zittert, sie kann den Griffel kaum festhalten, die Schriftzeichen in der Tafel sind schief. Babylon ist inzwischen noch reicher und größer geworden, die Läden sind vollgestopft, quellen geradezu über vor Waren. Man sieht Früchte, die man zuvor nicht gekannt hatte und für die man nicht einmal einen Namen weiß, die Handelshäuser errichten Türme, deren Höhe an die des Tempels des Marduk heranreichen, immer mehr Schiffe fahren flußaufwärts in unseren Hafen ein, immer lärmiger sind die Straßen bei Tag und bei Nacht. Es ist zuviel für einen alten Mann wie mich. Dies schrieb Balashi, Diener der Aya, im Monat Addaru im dreiunddreißigsten Regierungsjahre des Königs Burnaburiasch, Ischtar und Marduk seinen meine Zeugen. So setze ich das Rollsiegel in diese Tafel, die Götter seien gepriesen für immer!


2.


„Die Tafel ist nur in Fragmenten erhalten geblieben, das erste Fragment beginnend beim vermutlich kultischen Beischlaf mit dem König und dann bis zum Erwerb des Sklaven, das zweite Fragment fängt mit den Gemächern der Diener an und endet abrupt mit dem Besuch eines hethitischen Beamten. Der Teil war ganz geblieben. Das dritte Fragment ist leider äußerst unvollständig erhalten, fängt an beim Schlaf und endet beim Wort Trauer. Der Rest war vollkommen zerstört und nicht mehr rekonstruierbar. Aber dennoch, hier sehen Sie ein Beispiel vermutlich kultischer Prostitution im alten Babylon zur Zeit der Kassiten." Professor Horn strich sich über seinen weißen Bart. „Noch Fragen?". Kathrin hob die Hand, ihr Studienfreund Alexander blickte sie ganz verwundert an, denn Kathrin war während der Vorlesungen immer still und schüchtern, weshalb sie stets versuchte, Fragen in der Sprechstunde der Professoren zu klären. „Ja bitte Frau Kollegin..", der Professor hob überrascht den kahlen Kopf, seine Brille rutschte ein kleines Stück der Nase entlang nach unten. „Ah, gibt es nur die drei Fragmente und sonst keinerlei Hinweise auf jene Frau, war es eigentlich eine Priesterin der Ischtar?." Alexander sah seine Sitznachbarin mit verärgertem Blick an, denn er hatte in der nächsten viertel Stunde eine Vorlesung am Institut der Ägyptologie, das zwar nur ein paar Minuten hinter dem Universitätshauptgebäude lag, aber er mußte sich trotzdem immer sehr beeilen, um rechtzeitig in den Seminarraum im vierten Stock zu gelangen und hatte deshalb nicht die geringste Lust, Zeuge einer längeren Diskussion zu werden. „Nun Frau Kollegin, die Tafel wurde 1925 unter einer großen Anzahl an Tafeln am selben Ort in Babylon gefunden, leider waren alle Texte nur in Fragmenten erhalten. Fast alle bestanden nur aus Aufzählungen von Haushaltsinventar, nur diese drei Fragmente wichen von den anderen ab, aber es bestehen sogar Zweifel, daß diese drei Fragmente zusammengehören, aber ich muß jetzt weg, sprechen wir nächste Woche darüber." Professor Horn fügte seine Unterlagen zu einem geordneten Stoß zusammen und legte ihn in seine Mappe. Er ging schnellen Schrittes aus dem Hörsaal. Alexander seufzte erleichtert auf, packte seinen Notizblock in den Rucksack und lief zur Hintertür hinaus. Kathrin blieb alleine im Seminarraum sitzen und starrte auf die Kopie der transkribierten und übersetzten Textstellen. Der Text war nur bruchstückhaft erhalten, eine von vielen zerbrochenen Tafeln, die in der Wüste Mesopotamiens ausgegraben wurden.

Kathrin betrachtete das Wort „Trauer" in Keilschrift, die zwischen zwei eckigen Klammern gesetzten drei Punkte und las die Kommentare der Orientspezialisten in den Fußnoten darunter wieder und wieder.

Auf dem Weg nach Hause grübelte sie unentwegt über den Text. „Aya irgend etwas war mit dir, ich weiß es" sagte sie zu sich selbst, als sie die Türe zu ihrer kleinen Studentenwohnung aufsperrte.

Am nächsten Morgen suchte sie Professor Horn während seiner Sprechstunde auf. Er lächelte als sie eintrat. „Nun was kann ich für Sie tun, Frau Kollegin". Kathrin war außer Atem, „Herr Professor, ich bin davon überzeugt, daß es mehr über diese Aya zu erfahren gibt." keuchte sie aufgeregt. „Also, liebe Frau Kollegin" er sah seine Studentin mit seinen kleinen gutmütigen blauen Augen an, „das ist ganz und gar unmöglich. Die Experten, wie Sie im Kommentar sicher gelesen haben, sind sich nicht einmal einig darüber, ob das letzte Fragment überhaupt dazugehört." Kathrin schluckte, faßte kurz Mut und widersprach, „ich weiß, daß das alles zusammenhängt. Der Text ist nur unvollständig aber...", „wie so oft bei den gefunden Tontafeln", unterbrach sie der Professor. „Aber ich spüre, daß die Frau jemand besonderer gewesen sein muß, oder zumindest ein außergewöhnliches Leben hatte, ich spüre das wirklich." „Sie haben aber eine rege Phantasie Frau Kollegin.", Professor Horn konnte sein Amüsement über Kathrins Bemerkung nicht verbergen. „Finden Sie nicht, daß der Text irgendwie ungewöhnlich ist?". „Ja schon, aber wenn Sie die Kommentare lesen, die ja von Frau Doktor Merk und vom berühmten Doktor Grau stammen, Koryphäen auf unserem Gebiet, wie Sie sicher wissen... nun, beide haben den Text unabhängig voneinander als die Niederschrift des Dieners einer ganz gewöhnlichen Hierodule klassifiziert, unbedeutend, aber interessant für uns, da wir eine authentische Beschreibung aus dem Alltag besitzen." „Warum schreibt ein Sklave über seine Besitzerin, ist das nicht ungewöhnlich?" fragte Kathrin. „Na ja, so ungewöhnlich nicht, ganz und gar nicht..., es kam schon vor, daß Diener ihre Herren lobten, um sie günstig zu stimmen, das ist nichts besonderes" „Würden Sie mir helfen, mehr über das Leben dieser Frau zu finden?" Kathrin war über sich selbst erstaunt, normalerweise hätte sie nun gesenkten Kopfes das Zimmer verlassen, doch diesmal schien sie über ihren Schatten gesprungen zu sein. „Wie? Was?", der Professor war ob dieser Frage ein wenig verwirrt. „Wenn man vielleicht eine andere Tafel mit Ayas Namen oder ihr Rollsiegel irgendwo ausfindig machen kann." meinte Kathrin. „Also, seien Sie mir nicht böse. Das ist unmöglich. Wie stellen Sie sich das vor?" „Und wenn doch". „Na gut, ich werde mit meinen Kollegen vom British Museum und der Universität Berlin, die ich gut kenne, Kontakt, aufnehmen, aber sie werden sehen, dort wird nichts sein, würde mich doch sehr wundern, so und jetzt muß ich meine Vorlesung halten." Er reichte Kathrin die Hand und schüttelte den Kopf.

Kathrin spürte etwas in sich aufkeimen, sie fühlte Aya. „Ach Balaschi, hilf mir du doch." seufzte sie laut und das mitten in der Straßenbahn. Alle Fahrgäste drehten sich nach ihr um. Eine Frau beugte sich zu ihrer Sitznachbarin und flüsterte ihr etwas ins Ohr, indem sie ihre linke Hand vor der Stirne im Kreise bewegte.

Kathrin verbrachte die Nacht vor ihrem Rechner und suchte im Internet, ob es nicht irgendwo Hinweise auf Ayas Existenz gab, aber die Suche war vergeblich, so wie Kathrin es sich eigentlich erwartet hatte. Sie notierte die Adressen der verschiedenen Institute für Altorientalistik und entwarf zwei Massenbriefe auf deutsch und englisch.

Am frühen Morgen, noch bevor sie in die Vorlesung ging, gab sie einen beachtlichen Stoß Briefe am Postamt auf. „Wird nichts nützen, aber..." dachte sie und ging zur Straßenbahnhaltestelle. Sie war die ganze Nacht hindurch wach geblieben und kämpfte gegen ihren Schlaf an. Sie kam gerade noch rechtzeitig in die Vorlesung über sumerische Grammatik und hatte große Mühe, ihre Augen offen zu halten. Wie üblich war außer ihr nur Alexander in der Vorlesung erschienen, der als Hauptfach Ägyptologie studierte und auf ein Stipendium für Kairo wartete. Als die Vorlesung beendet war, sank Kathrins Kopf auf die Tischplatte. Alexander rüttelte sie wach. „Was ist los, warst feiern gestern?" Kathrin drehte ihren Kopf zur Seite und sah Alexander mit halb gesenkten Augenlidern an. „Nein, hab die ganze Nacht vorm Computer gesessen, im Internet nach Aya gesucht". „Laß das doch! Sag, was findest du an der Geschichte eigentlich?" „Ich spüre sie, weißt du. Ich weiß das klingt blöd, aber es ist so. Ich muß mehr herausfinden". „Wos soi desch denn wida hoassn?" Alexander fiel in den Dialekt seiner Tiroler Heimat zurück, wenn er sich aufgeregte oder wütend wurde. „Ach laß, ich bin so müde". „Gehst mit in die Mensa ins Neue Institutsgebäude?" fragte er wieder besänftigt. Kathrin erhob sich von der Bank und willigte ein.

Alexander hatte sich wie üblich eine riesige Mahlzeit auf seinem Tablett angehäuft. Kathrin nahm nur eine Zimtschnecke und zwei Tassen Mokka, um wach zu bleiben. Sie saßen sich gegenüber, Alexander fuhr sich durch die kurz geschnittenen dunkelbraunen Haare, die, gleich den Stacheln eines Igels, immer zu Berge standen. Er wußte nicht recht, wie er Kathrin auf ihre seltsame Besessenheit bezüglich eines ziemlich unbedeutenden babylonischen Textes ansprechen sollte. „Sag, was is jetzt mit dir los, das ist ja nicht so ganz normal, was du da treibst". „Lach nicht, da war etwas". „Na und wenn schon, das kann uns doch wurscht sein, wichtig sind doch nur die historisch bedeutenden Texte, die Aufzählungen von Königen, diplomatische Briefe, die die Beziehungen der Reiche untereinander beweisen, und so halt...". „Alex bitte". „Na stimmt doch". „Ich muß es wissen, nur für mich, verstehst du?." hauchte Kathrin müde und trank den zweiten Mokka in einem Zug. „Also wegen einer gewöhnlichen Hur im alten Babylon vor viertausend Joa solche Tanz aufführen, weißt....". „Alex, red nicht so über sie". „Moa, spinnscht jetzt?". Alexander sah Kathrin kopfschüttelnd an. Es war ihm unerklärlich, wie jemand einem Menschen, der vor tausenden von Jahren gelebt hatte, so etwas wie menschliche Gefühle entgegenbringen konnte. Das Studium der Ägyptologie und der Geschichte des Alten Orient war zwar seine größte Leidenschaft, aber emotionelle Regungen für Einzelschicksale zu empfinden, ging ihm eindeutig zu weit.

Er meinte, daß es genügend andere Quellen gebe, um über das Alltagsleben jener Zeit zu erfahren. Außerdem, sagte er, wären im Tempel geweihte Kurtisanen damals etwas geradezu alltägliches gewesen, und daß es hunderte andere, vielleicht besser erhaltene Quellen geben müsse.

Kathrin konnte jedoch nicht davon überzeugt werden, von Aya abzulassen. Sie hatte sich in das Schicksal jener Frau vor viertausend Jahren eingeschworen, war wie besessen von der Idee, ihr Leben zu rekonstruieren, mehr über sie zu erfahren.

Sie verbrachte viele Stunden in den verschiedensten Universitätsbibliotheken, saß die Nächte vor dem Bildschirm, suchte verzweifelt im weltweiten Netz, um Hinweise auf jene Frau zu entdecken, die mehr und mehr von ihr Besitz zu ergreifen schien. Nach einigen Wochen wurde sie von Professor Horn nach der Vorlesung gebeten, ihn in seiner Sprechstunde aufzusuchen. Kathrin konnte ihre große Aufregung nicht verbergen, er hatte vermutlich etwas bekommen.

Professor Horn lächelte und schüttelte den Kopf, als er Kathrin in sein Zimmer eintreten sah, „leider nichts, in bezug auf Ihre Aya, aber man hat mir netterweise einen ganzen Stoß an Material über die..", er räusperte sich, „Liebesdienerinnen der Ischtar zukommen lassen". und reichte ihr einen dicken Stoß Papier. „So, da hätten Sie mal einiges, nehme ich an". Kathrin bedankte sich, ergriff den Stoß an Papieren und verließ das Zimmer. Professor Horn lachte still in sich hinein.

Die nächsten Tage verbrachte Kathrin damit, die transkribierten Texte und deren Übersetzung durchzulesen, in der Hoffnung auf irgendetwas zu stoßen, aber die Texte waren lückenhaft, aus verschiedensten Epochen, beschrieben kultische Handlungen, Gebete an Ischtar, Anweisungen an die Hierodulen und Verhaltensregeln für gewöhnliche Kurtisanen, Aufzählungen von Opfergaben, Vorschläge für Kleidung, Maßregelungen, Verhaltensanweisungen gegenüber „Fremden, die in der Stadt Vergnügungen leiblicher Natur suchen", und so weiter.

Eines Morgens, als Kathrin ihren Briefkasten öffnete, fiel ihr ein dicker Umschlag hohen Formates in die Hände. Sie konnte es kaum glauben, aber der Absender war das Orientalische Institut der University of Birmingham. Sie eilte zurück in ihre Wohnung und öffnete voller Ungeduld den Umschlag, indem sie ihren Wohnungsschlüssel gleich als Brieföffner benutzte. Wieder hielt sie einen beachtliche Ansammlung an Papier in ihren Händen. Oben auf lag ein Brief eines Assistenten, der sich für das in Kathrins Brief an die Universität genannte Anliegen interessiert hatte, und den Namen Aya in einem Dokument aus dem Archiv der Universität fand, das allerdings auf keinerlei Weise bewies, daß es sich um dieselbe Person handelte. Er fügte hinzu, daß Aya ein im Alten Babylon häufig auftretender Name sei, da Aya die Gemahlin des babylonischen Sonnengottes war und viele Frauen deshalb diesen Namen trugen.

- Ich, Aya, übergebe dem Boten die schriftliche Erlaubnis, beim Handelshause Muraschschu zu Babylon zwanzig Talente an Silber entgegenzunehmen und sie den Ärzten Kaptar, dem Ägypter, und Egibi beide ansässig zu Babylon, auszuhändigen, um sie schnellstens dazu zu bewegen, sich hier in die Stadt Chattuscha im Reiche Chatti zu begeben. Mein Gemahl ist schwer erkrankt und bedarf ihrer Kunst -

Der Abdruck des Rollsiegels war nicht vorhanden. Kathrin zitterte. Sie widmete sich den Kommentaren. Die Tafel wurde bei den Ausgrabungen in Boghazköy in Anatolien gefunden, bei den Hethitern also. Sie las die anderen Kopien, die man mitgesandt hatte. Es waren Texte der Gesandtschaft des Königs von Babylon bei den Hethtitern in englischer Übersetzung, die man im Archiv ausfindig gemacht hatte. Es war darin nichts enthalten, was für Kathrin von Bedeutung gewesen wäre, es war ihr nur an Aya gelegen.

Kathrin schloß sich immer mehr von ihrer Umgebung aus, fuhr nicht mehr ins Burgenland zu ihren Eltern, erfand Ausreden, als ihre Mutter immer heftiger drängte, sie doch zu besuchen, meldete sich auch kaum bei ihren Freunden und schwänzte manchmal Vorlesungen, was sie zuvor nie getan hatte. Alexander rief sie ein paar Mal an, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, doch als er „Ich suche Aya" zur Antwort bekam, legte er auf. Kathrin ließ sich die Haare lange wachsen, beim Friseur in Dauerwellen legen und schwarz färben.

Als sie die Prüfung über sumerische Grammatik versäumte, besuchte sie Alexander in ihrer Wohnung. Er erschrak, als er seine Studienfreundin mit der veränderten Frisur sah. „Wia schaust’n du aus!", rief er entsetzt, als er sich nach einem Moment des Schreckens wieder gefangen hatte. Sie zeigte ihm die beiden Stöße Papier und das Dokument über die in Boghazköy gefundene Tafel mit der Bitte, er möge es genau lesen und sagen, was er davon halte. Alexander setzte sich und las mit gerunzelter Stirne. Er las den Text ein paar Mal und meinte dann, daß dies nicht unbedingt mit Kathrins Aya in Verbindung stehen müsse, aber er schlug vor, den Text Professor Horn zu zeigen. Er riet Kathrin, sich anderen Dingen zu widmen, Freunde anzurufen, das ganze zu vergessen, das gesammelte Wissen sowie das Material für ihre spätere Diplomarbeit zu verwenden und endlich wieder ins Leben zurückzukehren.

Kathrin ließ sich jedoch nicht beirren. Alexander versprach ihr, einen Freund in Heidelberg anzurufen, der in Wien zu studieren begonnen hatte, da er nicht wußte, ob er in Heidelberg einen Studienplatz am Institut für Orientalistik bekommen würde. Eigentlich wollte er sie mit dem Versprechen beruhigen, in der Hoffnung, sie würde irgendwann zur Vernunft kommen und wieder in die Bahnen des Lebens zurückfinden. Er war zusehends besorgt.

Professor Horn war verwundert ob der häufigen Fehlstunden seiner zweiten Studentin und stellte Alexander nach einer Vorlesung eine vorsichtig formulierte Frage bezüglich der „zweiten Kollegin, die nicht mehr kommt". Alexander wurde verlegen und behauptete schließlich, daß er nichts wisse. Er wollte nichts über Kathrin erzählen, auch nicht preisgeben, daß er zunehmend in Sorge war und schon daran dachte, die Telefonnummer ihrer Eltern herauszufinden, um diese im Notfall verständigen zu können.

Kathrin erhielt einen Brief aus der Schweiz, die Universität von Bern hatte auf ihr Schreiben geantwortet und legte die Kopie eines Textes aus dem Archiv bei, der von einer im Tempel des Marduk in Babylon gefundenen Tafel stammte.

-Ich, Aya, erflehe vom großen Gott Marduk die Gnade des Todes. Mir ist kein Wohlergehen, mein Gemahl ist verstorben, mein Herz ist bitter, meine Glieder müde, mein Haar ergraut vor Kummer. Mein Herz ist erfüllt von Schuld, denn ich ließ meinen Gemahl sterben ohne das Wissen meiner großen Liebe. Voll Stolz war ich, nun bin ich gebrochen. Möge ich ihn im Schattenreiche wieder umarmen [...]

Mehr stand nicht in dem Dokument, das Kommentar war ebenfalls mager. Kathrin glaubte, daß die drei Texte, die Aya erwähnten, miteinander zusammenhingen, daß sie mit jener Aya, die sich mehr und mehr in ihr Leben drängte, in Verbindung standen. Sie begab sich ins Kunsthistorische Museum, in der Hoffnung, mit jemandem von der orientalischen Abteilung sprechen zu können. Der Portier wies sie brüsk zurück und meinte, daß eben niemand erreichbar sei. Kathrin war jedoch hartnäckig und bekam eine Telefonnummer.

„Was kann ich für sie tun?", fragte Doktor Kramer, die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Museums. „Mein Name ist Kathrin Bauer, ich komme wegen meiner Unterlagen über eine gewisse Aya, Sie wissen.." „Ja, das haben Sie mir ja am Telefon gesagt". „Ah Bauer heißen Sie, ich dachte Sie hätten orientalische Wurzeln, Sie sehen ein wenig so aus, verzeihen Sie meine Bemerkung". „Nein die Haare sind gefärbt... ich komme aus dem Burgenland, ich hab keine Wurzeln im Orient". Kathrin wurde verlegen. „Ah so wenn schon Orientalistik dann auch im Aussehen, haha, das nenne ich Leidenschaft". Kathrin legte die Unterlagen auf den Schreibtisch. Frau Kramer, betrachtete sie eine Zeit lang, las die Dokumente noch zwei Mal durch. „Meiner Ansicht nach, hängen die nicht zusammen, eine Tafel ist teilweise wirklich nur fragmentarisch, die zweite aus Boghazköy, also aus Chattuscha, der Hethiterhauptstadt, die dritte aus dem Marduktempel in Babylon, die Datierung, na ja, so eine Sache, ist wirklich schwer festzustellen, trotz C-14 hmmm. Nein, da fehlt mir einfach zuviel, um da was genaues sagen zu können". Sie drehte sich mit ihrem Bürosessel zum anderen Schreibtisch, auf dem sich der Rechner befand und tippte mit heftigen geschwinden Fingerbewegungen auf der Tastatur. „Halt", schrie sie plötzlich auf, „da hab ich ja was...". „Ayas gibt’s wie Sand am Meer, das meiste bezieht sich auf die Göttin, aber hier sind ein paar interessante dabei. Moment". Der Drucker begann Papier auszuspucken. Frau Kramer breitete die Ausdrucke vor Kathrin auf dem anderen Schreibtisch aus. „Sehen Sie, was wir da haben, einmal eine Aya aus Babylon, allerdings aus der Akkadzeit, die tun wir mal weg, aber die hier, sehen Sie, die hier ist aus der Kassitenperiode und die hier ebenfalls..." Frau Kramer verstummte plötzlich. Sie hatte in der Datenbank des Museums nachgeforscht und die ihr passenden Ergebnisse ausgedruckt, aber die dritte Inhaltsangabe ließ sie verstummen, sie bezog sich auf Tafeln aus der Kassitenzeit, die in Boghazköy gefunden wurden. Kathrin konnte ihre Aufregung nicht verbergen, sie sah Frau Kramer erwartungsvoll an, schluckte und nestelte an ihrem Blusenärmel.

Frau Kramer bat Kathrin ein wenig zu warten und ging zur Türe hinaus. Sie kam erst nach einer halben Stunde mit einigen Kopien wieder. „Beachtlich. Die Tafeln aus Boghazköy sind nicht mehr in Wien, die haben die nach Zürich verkauft, aber die Dokumente sind da, sehen Sie mal".

- Lubarna, der Beamte des Königs Schuppiluliuma - der Sonne - , nimmt vor dem Gott der Sonne des Reiches Chatti, Aya, die Fremde aus dem Reiche Babylon zu seinem Weibe, die Götter sind der Verbindung wohlgesonnen [...]

„Die Scherbe einer hethitischen Heiratsurkunde", lachte Frau Kramer. Kathrin brachte vor Freude kein Wort heraus. „Und da sehen Sie, ein Häuflein eines Fragments in hethitischer Sprache, auch in Keilschrift".

- Dem Beamten Lubarna zur Entlohnung und Ernährung seines Weibes im Monate [...] zwanzig Talente Silber, zweihundert Sila Getreide, zweihundert Sila [...]

„No, ein Gehaltszettel in Tonscherben, hehe, alles aus mehr oder weniger derselben Zeit, ich hoffe, das Gefällt Ihnen..." lachte Frau Kramer. Kathrin bedankte sich überschwenglich, hielt dann aber inne. „Denken Sie, das könnte mit meinen Dokumenten zusammenhängen". Frau Kramer meinte, daß dies zwar sein könne, aber ausgesprochen unwahrscheinlich sei, verabschiedete sich und drückte ihr die Kopien in die Hand.

In Kathrins Vorstellung hatte sich Ayas Leben zu einem Ganzen zusammengefügt. Zu Hause angelangt, rief sie Alexander an, um ihm von ihrem Erlebnis im Museum zu berichten. Sie vereinbarten ein Treffen, und als er im Kaffeehaus ihr gegenüber Platz nahm begrüßte er sie wieder mit „wie schaust denn du aus!". Kathrin pflegte seit neuestem sich die Augenlider mit dicken schwarzen Strichen zu umranden. Alexander machte sich mittlerweile ernsthafte Sorgen um seine Studienfreundin. „Also, stell dir vor ich habe Ayas Leben hier", ratterte es aus Kathrin, ihre Stimme zitterte vor Aufregung. Alexander sah sie mit besorgten und zum Teil mitleidigen Blicken an. Sie breitete die Dokumente am fleckigen Tischtuch aus und legte ihm ihre Theorie dar. „Aya hat diesen Hethiter Lubarna geheiratet, ist mit ihm gegangen, zuerst aus Gründen der Absicherung, dann beginnt sie ihn immer mehr zu lieben, er hingegen verglüht von Anfang an aus Liebe und Leidenschaft, schließlich ist er krank geworden und gestorben, sie macht sich Vorwürfe, kehrt zurück und stirbt dann ebenfalls. Schau dir den Text aus dem Marduktempel an...Da hat sich doch eine Tragödie abgespielt". Alexander schüttelte den Kopf, meinte, daß Kathrins Geschichte an den Haaren herbeigezogen sei, daß sie eine viel zu rege Phantasie habe und sich lieber um ihr Studium kümmern solle, da die Professorenschaft schon meine, sie hätte das Studium aufgegeben. Kathrin war enttäuscht und warf Alexander vor, er verstehe sie nicht und habe kein Einfühlungsvermögen. Sie verließ das Kaffeehaus. Kathrin fühlte sich von allen verlassen, mißverstanden und abgelehnt.

Kathrin nahm eine Stelle als Schankaushilfe in einer Bar an, da ihre finanziellen Mittel zur Neige gegangen waren und sie das Bedürfnis verspürte, größere Einkäufe zu machen. Sie hob den Rest des noch verfügbaren Geldes von ihrem Konto ab. In einer orientalischen Boutique erwarb sie zwei weite Kleider aus Leinen, Messingarmreifen mit Einlagen aus Lapislazulli, eine Silberkette mit großen Gehengen eingefaßter Halbedelsteine und große Halbmondförmige Ohrringe. Als sie in einer Parfümerie den Wunsch nach „Purpurpomade" äußerte, erntete sie Unverständnis, die Verkäuferin zuckte mit den Achseln und legte ihr ein paar Döschen mit Schminke in verschiedenen Rottönen vor. Kathrin nahm gleich drei davon.

Als sie den ersten Abend im Tanzlokal an der Bar ausschenkte, wurde sie von den Gästen bestaunt. Da stand sie hinter der Theke, mit langen schwarzen gelockten Haaren, behangen mit halbmondförmigen riesigen Ohrringen, die Armreifen rutschten beim Ausschenken den Arm hinauf und hinunter, die Kette prangte in vollem Glanz an ihrem Hals, ihr Gesicht war ausgesprochen stark geschminkt, ihr rotes Leinenkleid bedeckte sie bis zu den Knöcheln und ihre Ledersandalen drückten. Sie war parfümiert mit Rosenwasser und hatte sich ihre Arme mit Sandelöl eingerieben. Manche Gäste fragten sie woher sie komme und sie lächelte sie nur an.

Nach einiger Zeit wurde sie zum Mittelpunkt des Lokales, manche kamen einfach nur, um sie hinter der Schank zu sehen, setzten sich an den Tresen und starrten sie an, wie sie mit Gläsern und Flaschen hantierte. Kathrin verdiente gut, denn sie bezog ein Gehalt mit Sozialversicherung und die Trinkgelder flossen ausgesprochen reichlich. Eines Nachts hatte Kathrin die Wandlung vollzogen. Das Lokal war überfüllt mit jungen Menschen, es hatte sich zu einem der In-Treffs der Stadt entwickelt, was zum Teil auch Kathrins Verdienst war. „Geiles outfit", lächelte ein junges Mädchen bewundernd. „Wie heißt du denn...", schrie ein ziemlich angeheiterter Mann um die dreißig. „Aya" antwortete sie, „Aya heiße ich". „Heast bist du geil!", schrie ein Stockbetrunkener im dunklen Designeranzug, der daneben stand und wurde unversehens von seiner Freundin weggezogen.

Am frühen Morgen, wenn Kathrin von ihrer Arbeit nach Hause kam und sich ins Bett legte, konnte sie oft nicht einschlafen, da sie manchmal von Stimmen verfolgt wurde. Ihr Kopf zuckte von Zeit zu Zeit ganz leicht, wenn sie sprach. Kathrin schlief unter Tags nur mehr und hatte sich von ihrer Umwelt vollkommen abgeschieden. Alexander hatte inzwischen die Zusage für seinen Studienaufenthalt in Kairo bekommen, er ging für fünf Monate außer Landes und konnte sich nicht einmal von Kathrin verabschieden. Er hatte sie mehrmals angerufen, öfters an ihrer Türe geläutet, doch Kathrin hörte nichts. Als sie plötzlich während der Arbeit schon zur frühen Morgenstunde zusammenbrach, wurde die Rettung verständigt und Kathrin fand sich vollkommen verwirrt im Krankenhaus wieder.

3.

Die Klinik lag außerhalb der Stadt in sehr ruhiger Umgebung mit vielen Grünanlagen. Ihre Mutter kam regelmäßig zu Besuch und brachte Kathrin persönliche Sachen, sowie notwendige Toiletteartikel, manchmal auch Schokolade und Selbstgebackenes. Der Arzt meinte, es ginge Kathrin schon viel besser, da die Neuroleptika anschlugen und die Anfälle seltener wurden. Kathrins Mutter war nach Wien gezogen, als sie erfuhr, daß ihre Tochter in ein psychiatrisches Krankenhaus eingeliefert worden war. Ihr Vater kam am Wochenende zu Besuch, um nach Kathrin zu sehen. Sie konnten nicht verstehen, was mit ihrer Tochter geschehen war. Der Arzt sprach von „schwerer Persönlichkeitsstörung". Frau Bauer machte sich Vorwürfe, da sie dachte, sie hätte etwas in Kathrins Kindheit falsch gemacht. Der Arzt meinte dies könne jedem widerfahren, und man könne nichts dergleichen voraussagen.

Kathrin hatte ihr eigenes kleines Zimmer, ihr Haar war kurz geschnitten und hatte wieder seine natürliche Farbe. Eine schwarz gelockte Perücke lag neben ihrem Bett, für den Fall, daß sie wieder einen Rückfall erlitt. Auf ihrem Nachtkästchen stapelten sich Bücher über den alten Orient. In einem klaren Moment bat sie ihre Mutter, für sie die Inskription an der Universität zu erledigen, da sie das Studium unbedingt fertig machen wollte. Die Anfälle kamen immer seltener, an manchen Tagen war Kathrin zwar wieder Aya, doch die Phasen wurden kürzer.

Alexander kam wieder aus Kairo zurück. Er rief Kathrins Nummer an, als er sie drei Tage lang nicht während der Vorlesungen antraf und Professor Horn erzählte, sie wäre schon seit fast einem Jahr nicht mehr erschienen. Es hob eine fremde Stimme ab, die meinte die Vormieterin wäre schon seit längerem ausgezogen. Er hatte eine schlimme Vorahnung und versuchte die Nummer von Kathrins Eltern herauszufinden. Sein Vater erzählte ihm am Telefon, was geschehen sei und gab ihm die Adresse der Klinik, als er sich versichert hatte, daß es sich um einen besorgten Studienkollegen handelte.

Alexander wurde vom Arzt zu Kathrins Zimmer geführt. Sie hatte ihre Perücke auf, lief ihm entgegen und umarmte ihn stürmisch. „Lubarna, Lubarna, ach mein Lubarna, mein Liebling...", schrie sie und begann zu weinen. Alexander war erschrocken und zog sich von ihr zurück. „Keine Angst", brummte der Arzt mit sanfter Stimme, „das ist nicht sie".
 



 
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