Bahnhof

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Lugh

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Morgen!

Den folgenden Text habe ich niedergeschrieben weil er mir eine Zeit lang einfach im Kopf herumspukte.

Für alle Nicht-Österreicher: Die Kronenzeitung ist wohl mit der Bild-Zeitung zu vergleichen. Der U-Express ist eine Gratis-Zeitung und beinhaltet die gesammelten Dummheiten der Kronenzeitung auf ein paar Blättern. Detail: Die Kronenzeitung ist mit 40% Lesern in Österreich die relativ größte Tageszeitung der Welt. Böse Zungen könnten jetzt behaupten: Jedes Volk bekommt die Zeitung, die es verdient. Aber jetzt zum Bahnhof:

Gut, ich hatte es geschafft mit der Straßenbahn zum Bahnhof zu gelangen.
Ein schwieriges Unterfangen. Die erste Straßenbahn hatte ich nicht erwischt, da der Fahrer unbedingt zwei Minuten vor der Abfahrt die Türen sperren musste. Vermutlich ist das auch die einzige Freude, die man hat, wenn man die ganze Zeit eine Straßenbahn fährt und nicht einmal lenken darf. Von diesem Standpunkt aus gesehen hatte ich durchaus Verständnis für das Verhalten des Fahrers. Nun, ich wartete. Ich sah auf die Uhr und wartete noch immer. So ging das im Minutentakt. Irgendwann vernahm ich plötzlich einen langgezogenen kindlichen Ausruf: „AAAAAAAAAHHHHHHH!“ Daraufhin Schweigen. Irritiert drehte ich mich um. Das selbe Kind nahm wieder Anlauf, AAAAAAAAAHHHHHHH und ... lief gegen eine Mauer. Einfach so. Das Kind hatte sich anscheinend nicht verletzt und setzte zum nächsten Versuch an. Ungerechter Weise musste die Mutter weiter, sie nahm das Kind an der Hand. Von der Mauer-Aktion hatte sie nichts mitbekommen, dafür hätte sie sich umdrehen müssen. Auch sonst durfte niemand die Angelegenheit mitverfolgt haben. Ich legte den Fall unter „interessantes Erlebnis oder Halluzination“ ab und nahm mir vor, beim nächsten Mal Auspuffgase nicht zu inhalieren.
Ich wartete nun bereits zehn Minuten auf die Straßenbahn, die vor vier Minuten hätte kommen sollen. Doch was war das, Metall glänzte am Horizont. Das war doch nicht ... ja, ein Stromabnehmer. Die Straßenbahn nahte. Ich fasste neuen Mut. Doch ein Blick durch die schmutzigen Scheiben der Straßenbahn trübte meine Stimmung: Nasenflügel an Nasenflügel standen die Menschen in der Straßenbahn. Zum Glück half ein kräftiger Mann hinter mir mich noch hinein zu pressen. Er selbst kam natürlich auch noch mit hinein. Sein Ellbogen in meinem Rücken ließ mich das die ganze Fahrt nicht vergessen. Auch den Umstand, dass er eine Dusche vertragen konnte verdrängte ich ob der großzügigen Hilfe beim Einsteigen.
Schließlich erreichten wir den Bahnhof. Der Vorgang beim Aussteigen ließ sich am Besten mit einer Explosion vergleichen. Ich weiße darauf hin, dass die bei einer Explosion sich verteilenden Partikel nicht immer mit dem Fußende zuunterst aufkommen. Aber zum Glück habe ich einen Holzkopf. Ich erhob mich, putzte mich kurz ab und richtete meine Schritte Richtung Bahnhof. Ich stellte mich vor die Tür mit dem Bewegungsmelder, aber ich hatte mich wohl zuwenig bewegt. Ich wedelte mit den Händen, machte einen Schritt nach vorne, zwei zurück. Neben mir gingen die Leute durch eine normale Drehtür, aber in solchen Dingen war ich sehr stur. Nach einigen weiteren sinnlosen Versuchen die Tür zu überreden, mich durchzulassen (ich versuchte es halt wie Alice im Wunderland), nahm mich ein Obdachloser, dessen Essen man am Bart ablesen konnte, freundlich bei der Hand, führte mich zur Tür daneben und hindurch. Im Abgang nuschelte er noch etwas wie: „So jung und schon stockbetrunken.“
Nun stand ich in der Bahnhofshalle und wusste nicht so recht weiter. Die Chance, meinen Zug zu erwischen, hatte ich bereits vor zehn Minuten verspielt. Ich saß also für eine weitere Stunde hier fest. Um mir etwas die Zeit zu vertreiben wandte ich mich dem Kiosk links von mir zu. Hier gab es alles, was die österreichische Presse zu bieten hatte: Standard, Kurier, News („Jetzt zum Kombi-Abo: Der Gratis-Bikini von Palmers!“), die Krone („Nach dem 11. September wieder mehr Geburten!“). Die letzte Schlagzeile regte mich zum Nachdenken an. „Warum?“, fragte ich mich. Wollten die Österreicher nach den vielen Toten am 11. September für Nachschub sorgen? Hatte die Tragödie die Leute wieder näher zueinander gebracht? Wäre es nicht möglich, dass es tatsächlich erst nach dem 12. oder 13. September mehr Geburten waren? Lassen wir dieses Thema, es führt ja doch zu nichts.
„Gut“, sagte ich mir, „setzt du dich halt in ein Café.“ Anscheinend hatte ich das laut gesagt, zumindest glotzte mich eine alte Frau sehr misstrauisch an und presste ihren Dackel fester an sich. Ich überlegte, ob ich kurz beruhigend lächeln sollte, aber vielleicht wäre sie dann endgültig davongelaufen. Ich erinnerte mich an die Aktion eines Freundes, der eine alte Frau damit erschreckt hatte, dass er ihr eingeredet hatte, im U-Express wären geheime satanistische Botschaften versteckt.
Die alte Frau hatte gerade eine Kronenzeitung in die Hand genommen. Ich überlegte kurz ... nein, die Dame war schon gestraft genug. Eine übereifrige Angestellte sah in ihr eine potentielle Ladendiebin. Ich wandte mich von dem Szenario ab. Das Café war einen Stock höher, ich näherte mich zielstrebig der Treppe. Zu spät merkte ich, wer sich noch der schmalen Treppe näherte, so beschleunigte ich erst zu spät, die Einkaufstaschen-Omi war vor mir bei der Treppe und blockierte sie natürlich komplett.
Das ist übrigens ein interessanter Effekt von alten Frauen: Sie sind extrem langsam wenn sie vor dir gehen, blockieren dabei immer den ganzen Weg, sind aber trotzdem immer schnell genug um eben vor dir zu sein.
Wir erreichten die obere Etage. Die Einkaufstaschen-Omi steuerte auf die nächste Treppe zu. Nicht ganz ohne Schadenfreude beobachte ich den jungen Mann, der es bis jetzt recht eilig gehabt hatte, nun aber die Stufen im Zwei-Sekundentakt erstieg. Mit einer 180-Grad-Drehung wandte ich mich in Richtung Café, welches zwar nicht den besten Eindruck machte, aber das einzige hier war, das einem Café auch nur nahe kam. Ich setzte mich ans Fenster, um das Treiben auf dem Bahnhof zu beobachten. Die vielen Menschen faszinierten mich. Es gab Kleine und Große, Dicke und Dünne, Junge und Alte, Intelligente und welche mit dem U-Express in der Hand. Eigentlich der größte Vorteil des U-Express außer gratis Toilettenpapier: Man erkannte die Idioten schon von weitem an der „Zeitung“ in der Hand. Aber ich will natürlich nicht alle U-Express-Leser als Idioten bezeichnen, manche kaufen ihn sich auch nur wegen der nackten Frau auf Seite 3.
Meine Blicke schweiften herum, ich erfasste eine mittelalterliche Dame, also eine Dame mittleren Alters, mit orange-gefärbten Haaren. Ich weiß nicht warum, aber ich musste an einen Leserbrief an Bravo denken. Ein Mädchen hatte sich die Schamhaare orange gefärbt, woraufhin ihr diese ausgefallen waren. Nun versuchte ich mir diese Frau mit Glatze vorzustellen. Kein schöner Anblick. Von dieser einen Vorstellung fasziniert stellte ich mir auch die nachkommenden Personen mit Glatze vor. Ein Spielverderber hatte schon eine. Nachdem ich auf diese Art einen kahlen Pudel gesehen hatte, ließ ich wieder davon ab. Das war doch zuviel gewesen. Eine zu gute Vorstellungskraft kann grausam sein. Diese leidvolle Erfahrung musste ich machen, als ich mir ein hübsches Mädchen nackt vorgestellt hatte und eine Frau mit einem Nilpferdarsch ins Bild stampfte. Ich verstehe auch nicht, warum gerade Frauen mit so einer Figur bevorzugt hautenge Hosen tragen.
Lassen wir dieses unappetitliche Thema. Das Mineralwasser in meinem Glas wurde immer weniger, ob ich es trank oder ob es verdunstete konnte ich nicht sagen. Aus Langeweile begann ich die Leute mit Schweißflecken zu zählen, aber nicht lange. Eine Durchsage erregte meine Aufmerksamkeit: „Bitte beachten Sie folgende Durchsage.“ Ich beachtete ... und wartete, aber da kam nichts. Für beachtliche 17 Minuten kam nichts. Aber ich hatte ihn beachtet, vielleicht wollte der arme ÖBB-Mann ja nur Beachtung. Ich nahm mir vor, zu Hause eine Kerze für ihn aufzustellen.
Mein Glas war leer und bald würde mein Zug einfahren. Ich bezahlte bei dem freundlichen Kellner, der im vorherigen Leben Scharfrichter gewesen sein musste, und verließ das Café Richtung Bahnsteig. Dabei kam ich an einer der Rolltreppen vorbei, die mich sofort fesselte. Die Rolltreppe führte zu dieser Etage nach oben. In mir stieg das Verlangen hoch, die Rolltreppe aber nach unten zu begehen, also sozusagen gegen die Fahrtrichtung. Es gab natürlich keinen einzigen sinnvollen Grund dies zu tun, außer der Möglichkeit. Edgar Allan Poe sprach in einem seiner Texte vom Alb der Perversheit, der einen etwas tun ließ, nur weil es verboten war. In mir rührte sich gerade ein ähnliches Gefühl. Es hatte keine Sinn, war völlig stumpfsinnig, aber ich hatte die Möglichkeit die Rolltreppe nach unten zu gehen. Bedächtig wandte ich mich ab und entfernte mich langsam, Schritt für Schritt. Ich ließ die Rolltreppe hinter mir zurück. Aber vielleicht würde ich wiederkommen, wenn es dunkel war.
Vorerst aber betrat ich den Zug und suchte mir einen ruhigen Sitzplatz. Bald nach der Abfahrt traf ich auf die wohl sonderbarste Spezies auf Erden: den Schaffner. Diese Menschen zeichnen sich durch völlige Unkenntnis der englischen Sprache (zumindest die bei den Flughafenlinien, wo es am nötigsten ist), fehlenden Sinn für Humor, betont lässige Art und ihre Lieblingswörter „Zugestiegen“ und „Fahrkarten bitte“ aus. Lange Zeit glaubte ich ja, es gäbe vor der Stadt eine Ortschaft voller Schaffner. Dort lebten sie isoliert von der restlichen Menschheit, vermehrten sich (das würde auch die weiblichen Schaffner erklären) und ab einem bestimmten Alter ließ man sie auf die Passagiere los. Wie sonst könnte es Schaffner geben? Wie viele Kinder sagen sich: „Wenn ich groß bin, will ich Schaffner werden.“? Dieses Weltbild zerbrach als mir ein Freund versicherte, in seinem Haus würde ein Schaffner wohnen, wie ein ganz normaler Mensch.
Da saß ich nun im Zug und entfernte mich immer weiter von meinem Bahnhof.


Okay, wer bis hierher gelesen hat, dem gratuliere ich. Schreiben Sie einen Kommentar indem Sie zu dem Text Stellung nehmen, unter allen Kommentaren werden großzügige Sachpreise verlost.

PS: Wer's glaubt wird selig.
 

Andrea

Mitglied
8 von 10 Punkten

Sehr viele, sehr schöne Ideen. Nicht nur, daß es amüsant zu lesen ist, es hat auch einen hohen Wiedererkennungswert. Keine Ahnung, an wie vielen alten Frauen ich mich schon auf Treppen vorbeiquetschen mußte..
Was mir allerdings ein wenig fehlt, ist die Strukturierung. Es sind einfach zu viele Episoden an einander gestückelt, ohne daß man zu einem wie auch immer gearteten runden Abschluß kommt. Der Schlußsatz wirkt im Gegensatz zum Großteil des Textes sehr konstruiert.
Als Vorschlag: Streich die Schaffner-Episode oder bau sie am Anfang ein ( als „Vorfreude“ auf die Bahn o.ä.), so daß der Text mit „Aber vielleicht würde ich wiederkommen, wenn es dunkel war.“ endet. Natürlich müßte es dann noch eine Bemerkung wie: Aber wenn ich das tue, müßte ich vermutlich die nächste Stunde hier rumschlagen (überaus unelegant formuliert, aber ich hoffe, du weißt, was ich meine) eingebaut werden.
Ach ja, was mich noch etwas störte, war zweimal das „Lassen wir das Thema“ o.ä. Entweder würde ich den Satz ändern oder von vornherein den Leser als direkten Ansprechpartner einbauen. Wenn du mit einer Anrede an den Leser beginnen würdest, würde das u.U. auch zur Strukturierung beitragen.
Die Episode mit dem Kind zu Anfang finde ich etwas unverständlich, aber vielleicht bin ich langsam auch nur zu müde.
Insgesamt aber sicher lesenswert, wenn auch verbesserungsfähig.

PS: Ich hätte gern die aufblasbare Kaffeemaschine, wenn sich dieses zufällige Los einrichten ließe..
 



 
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