Bahnsteig 7

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Vera-Lena

Mitglied
Bahnsteig 7

An einem Fleckchen Deiner Wange
habe ich dich erkannt
hinter den hastenden Menschen verborgen.
Gleich werde ich sie wiedersehen,
deinen zerknitterten Mantel,
die abgeschabte Aktentasche
und eintauchen in
deine Wortkargheit.

Abrupt stehe ich vor dir.

Du schaust mich an,
als hättest du mich
niemals in deinem Leben
zuvor gesehen.

Das Neonlicht bleibt nüchtern.

Du Seele meiner Seele,
du Lieblingsseite aus einem
der Drei-Groschen-Heftchen
von Balzac,
das man eigentlich
nicht lesen müsste.

Mich zu umarmen, getraust du dich nicht,
aus Angst, ich könnte
mich in Staub auflösen.

Das werde ich auch eines Tages,
aber ohne dein Verschulden,
auch du wirst dich in Staub auflösen
und dann gehen wir dorthin,

wo das Licht blinzelt,
wenn es sich amüsiert
über uns beide.
 

Montgelas

Mitglied
".... Drei-Groschen-Heftchen
von Balzac,
das man eigentlich
nicht lesen müsste."

liebe vera-lena

montgelas hüstelt vorsichtig,
angesichts der absoluten aussage
über balzac.
er ist eher bereit balzac
als leseempfehlung weiter zu geben.

spielt balzac doch virtuos auf der
klaviatur der bürgerlichen gesellschaft
und zeigt, ohne es zu wollen, kritisch
deren schwächen auf.

ansonsten sind deine verse gut,
für dich durchschnittlich,
meine ich.


alles liebe

herzlich verbunden

montgelas
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber Montgelas,

natürlich kann nicht jeder die Biografie von Balzac kennen. Ich hatte schon einmal kürzlich an anderer Stelle in der LL über seine Not erzählt.

Erstens dass er sich zu Tode geschrieben hat wegen der Gläubiger, die ständig vor seiner Tür standen. Er schrieb immer nachts bei Unmengen von schwarzem Kaffee und sein Herz hat das nicht mehr mitgemacht irgendwann.

Zweitens hat er unter einem Pseudonym Drei-Groschen-Hefte geschrieben. Zu gerne würde ich da einmal einen Blick in eines von denen hineinwerfen. Leider sind sie komplett verschollen. Mein heißgeliebter Balzac! Ihm würde ich doch nicht Derartiges unterstellen! Außerdem ergäbe mein Text doch gar keinen Sinn, wenn es diese Hefte nicht wirklich gegeben hätte.

Ich hatte schon überlegt, eine Anmerkung unter meinen Text zu setzen. Aber dann dachte ich wieder, es wäre vielleicht doch allgemein bekannt, und dann wäre ich mir wieder so ungeschickt vorgekommen. Ich hätte es wohl doch tun sollen!

Danke für Deine Antwort!:)
Gerade bricht die Sonne durch den leise rieselnden Schnee.
Und dieses lebendige Lächeln schicke ich Dir auch, jenseits aller Neongelassenheit.

Mit ganz lieben Grüßen Vera-Lena
 

Montgelas

Mitglied
madame !

ich habe zwar gewußt, dass balzac materielle probleme hatte, das lag auch an seinem lebensstil.
dass er sich für dreigroschenhefte hergab, ist mir neu !

insofern war mein einwand der unkenntnis geschuldet.


vergebung, gnädigste,
vergebung !

ihr
irrender

montgelas

p.s. "leselupe rockt" - man lernt nie aus ! ;)
 

Vera-Lena

Mitglied
Herr Graf,

es ist wie immer, ich muss mich entschuldigen.Eine Anmerkung war eben doch notwendig!
Ja, er fuhr mit der Kutsche, obgleich er sich das nicht leisten konnte, hatte im Allgemeinen einen Lebensstil, der weit über seinen finanziellen Verhältnissen lag.

Seine nahe bevorstehende Eheschließung mit der Gräfin Hanska löste sich dann auch noch in Luft auf, weil die Dame kurz vor diesem Termin verstorben ist. Es war wirklich tragisch.

"Dass er sich für Dreigroschen-Hefte hergab",

Ich würde das milder formulieren. Ich will Dich für diese Formulierung jetzt nicht kritisieren, lieber Montgelas, so ist das nicht gemeint,

aber wenn jemand in Not ist... Dieses "hergab" hast Du sicher nicht so gemeint, wie es sich für mich anhört,ich finde, das klingt so hurenmäßig.

Na, Du merkst es schon, ich liebe ihn.
Ich ertrage es nicht, wenn er kritisiert wird, selbst wenn er das verdient hätte.

Lieber Graf, reichen wir wir einnander die Hand in gutem Einvernehmen, ich bitte Sie!

Sie sind mir lieb und wert.

Vera-Lena
 
L

Lotte Werther

Gast
An Montgelas

Mit deinem Einwand, Balzac betreffend, hast du natürlich Recht. Die Groschen Romane Balzac zuzuordnen möge zwar historischen Tatsachen entsprechen, keineswegs aber allgemein literarischem Verständnis.

Erstens muss nicht jeder die detaillierte Biografie Balzacs kennen, und zweitens ist der Name Balzac mit einem umfangreichen literarisch wertvollen Werk verbunden.

Zu der Zeit, als er aber die Kolportageromane schrieb, war er noch nicht "der Balzac", sondern ein Student, der sein Jurastudium abgebrochen hatte und unter dem bevorzugten Pseudonym "Lord R'hoone", eine Verballhornung von Honoré, veröffentlichte. Finanzielle Not war diesem frühen Schreiber allerdings genaus so Triebfeder wie dem späteren Balzac, den man aus der Weltliteratur kennt.

Die Zeile im Gedicht finde ich auch unglücklich gewählt.

Lotte Werther
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Lotte,

danke, dass Du mich wieder auf das Pseudonym gebracht hast, Danach hatte ich schon vergeblich gesucht!!!!

Liebe Grüße von Vera-lena
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Vera-Lena,

was ich eigentlich besonders gut gelungen finde, ist folgende Klammer:

"Das Neonlicht bleibt nüchtern.

...

wo das Licht blinzelt,
wenn es sich amüsiert
über uns beide."

Das erscheint mir lebendig und beschreibt die Szene wesentlich deutlicher, als die eher seichten Verse dazwischen.

cu
lap
 

Vera-Lena

Mitglied
Lieber lapsi danke!

Zwei Stellen hat der Text, die eine starke Aussage machen.

Die eine hast Du herausgefunden, dass nämlich die beiden Prots. hier im Diesseits mit ihrer Ungeschicklichkeit es einfach nicht fertig bringen,sich gegenseitig ihr Empfinden auszudrücken. Hier auf dem Bahnsteig bleibt alles nüchtern, als wäre es leblos und kalt. Aber dass die Zeit kommen wird, in der das Licht lebendig ist und Beide dann auch belebt sind und fähiger sich mitzuteilen, darum geht es bei

"Neonlicht" und "blinzelndes Licht"

Die zweite Stelle:

"Du Seele meiner Seele,
du Lieblingsseite........
die man eigentlich nichtlesen müsste.

Das ist eine Liebeserklärung, die beteuert, dass auch das weniger Anziehende und Gloriose von der Protagonistin an ihrem Gegenüber geliebt wird.

Alles andere hält den Text zusammen, um überhaupt ein Bild entstehen zu lassen.

Ich mag, neben anderen Gedichtformen, auch solche Gedichte, bei denen nicht unbedingt jedes Wort mit einer Bedeutung befrachtet ist. Etwas zu erzählen, bei dem dann aber, bei genauerem Hinsehen, Bedeutendes zutage tritt, das mag ich sehr.

Danke für Deine Antwort:)
Dir noch einen schönen Abend!
Liebe Grüße von Vera-Lena
 
S

Sandra

Gast
Liebe Vera-Lena,

der letzte Vers ist sicherlich sehr stark. Mit welchen (dummen) Befindlichkeiten man doch wertvolle Zeit vertrödeln kann. Die mittleren Verse empfinde ich nicht als seicht, eher als beschreibend, mit dem Ende wird jedoch eine Zensur gegeben. Mir gefällt dieser Wink.
Ansonsten - alles ist eins, auch ein Balzac.
Er ist nicht nur hohe Literatur, er war auch Mensch mit Schwächen - wie wir alle. Wunderbar und ganz nebenbei hier von dir dargestellt.
Keine Angst vor diesen Schwächen zu haben heißt auch, Balsac realistisch und ohne geneigten Kopf zu betrachten. (Nur so kann man ihn nämlich betrachten) Der Prot. kann dies anscheinend, zumindest was seine Literatur angeht. (Auch wenn er sich überlegt, ob man diese Seite des Drei-Groschen-Romans überhaupt lesen muss, hat er sie jedoch gelesen und diese Seite kommt ihm in Erinnerung, lässt ihn vergleichen - wie schön! Es war kein großes schriftstellerisches Werk an das er dachte, wer hätte dies auch glauben oder nachvollziehen können?)


Ganz und gar nicht mittelmäßig, dein Gedicht, sondern hervorragend

meint
Sandra
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Sandra,

wie bin ich erfreut, dass Du diesen Text noch ausgegraben hast! Ja, Du beschreibst die Dinge so, wie ich sie sehe und gemeint habe. Danke!:)

Ich habe das Gedicht ja jetzt mehrere Tage nicht mehr gelesen und fast täglich etwas Anderes geschrieben, so dass es mir schon ein bißchen entrückt ist.

Vielleicht sehe nur ich etwas in dem Text, das ich eigentlich doch nicht zum Ausdruck bringen konnte, aber

die Unbeholfenheit von den Beiden finde ich einfach süß und bei allem Mangel, sich etwas verdeutlichen zu können, wissen sie Beide, dass sie einander lieben.

Ich freue mich auch, dass Du die literarischen Heroen nicht in einen Überhimmel erhebst. Das werde ich bei aller Liebe nämlich auch nicht tun. Und lebten sie noch, würden sie auch lieber geliebt als angebetet werden. Davon bin ich überzeugt.

Noch einmal Danke! und Dir einen schönen Abend!:)
Liebe Grüße von Vera-Lena
 



 
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