Bambus oder Birke?

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Bambus oder Birke?

Die kleinen Bullaugen aus Spezialglas zeigten nur ein verwischtes Bild von der Umgebung. Egal. Wer auf einem der Passagiersitze des Mondshuttles Platz genommen hatte, interessierte sich ohnehin nur am Rande für den Raumhafen mit seinen Verwaltungsgebäuden, Lagerhallen oder die drei Startrampen. Besonders heute, am frühen Morgen des 24. Dezember 2504, war jedermann mit seinen Gedanken schon am Ziel der Reise - auf Luna-Europa.
Frederick Danword griff automatisch nach der Atemmaske, warf einen kurzen Blick auf die ältere Dame, die es sich auf dem Nachbarsitz gemütlich gemacht hatte. Nein, um Oma Charlotte musste er sich keine Sorgen machen. Flog heute nicht zum ersten Male mit dem Shuttle, benahm sich aber trotzdem jedes Mal wie ein Teenager auf Klassenfahrt. Die Atemmasken, die den Passagieren das Durchatmen während der Startphase erleichtern sollten, saßen fest, der Pilot zählte schon die letzten Sekunden runter. Zero!

"So, das wäre mal wieder geschafft!" Charlotte Rosenberg streifte die Atemmaske vom Gesicht, ließ sie in die Halterung zurückgleiten, sah sich um. Heute waren keine Bekannten an Bord. Schade, dann würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch niemanden auf dem für den 3. Januar geplanten Rückflug treffen.
Frederick, der ebenfalls vergeblich nach Freunden Ausschau gehalten hatte, stupste sie an. "Du, Oma, haben Ma und Pa eigentlich schon was gesagt?"
Grinsend schaute ihn die alte Dame von der Seite an. "Nö, Junge, nicht ein Wort. Ich weiß so viel oder so wenig wie du. Deine Schwester Louisa hat niemandem ein Wort gesagt. Nicht einmal dem werdenden Vater."
"Dass die Frauen aber auch immer so ein Geheimnis draus machen müssen", stöhnte der junge Mann. "Kaum, dass sie Mutter werden, benehmen sie sich wieder wie kleine Kinder."
Oma Charlotte schüttelte lachend den Kopf. "Würdest du nicht neben mir sitzen, ich würde meinen, deinen Vater oder sogar deinen Opa zu hören. Wirklich, ihr unterscheidet euch gerade mal im Jahrgang."
"Aber, Oma!"
Die Angesprochene winkte nur ab. Ihr Interesse wurde von dem Serviceroboter geweckt, der gerade durch die Reihen ging, um die Bestellungen fürs Frühstück aufzunehmen. C1724, wie die Seriennummer des elektronischen Dieners lautete, würde heute, gewissermaßen zur Feier des Tages, auch Bestellungen für Weihnachtsgeschenke annehmen. Nach dem Frühstück bestellt, bei Landung auf dem Luna-Europa-Raumhafen zum Reisegepäck auf den Transportbuggy gestellt. Charlotte Rosenberg musste nicht lange überlegen. Für das Standardfrühstück gab es eine Kurzwahltaste, ihre Geschenke waren längst besorgt und sorgfältig im Koffer verstaut.
"Du isst ja gar nichts, Frederick", mahnte Oma Charlotte den Enkel. "Deine Mutter kennt dich ja gar nicht wieder, wenn du nach Hause kommst."
"Lass gut sein, Oma."
Die Miene des jungen Mannes erhellte sich. Nicht wegen des Frühstücks, auch kaum wegen seiner Mutter, die er zuletzt vor einem Jahr gesehen hatte. Er fuhr nach Hause. Endlich wieder nach Hause. Frederick machte es sich im Sitz bequem, schloss die Augen, ließ seine Gedanken schweifen.
Er war ein Mondkalb, ein echtes Kind des Erdtrabanten. Geboren und aufgewachsen auf Luna-Europa, dort zur Schule gegangen, sich zum ersten Mal verliebt. An die letzten drei Jahre, die er auf der Erde gelebt hatte, dachte er mit gemischten Gefühlen. Auch heute ertappte er sich wieder dabei, dass er immer nur pauschal 'Erde' dachte, nie Los Angeles, wo er Astro-Agrartechnologie studiert hatte.
Die Erde war ihm fremd geblieben. Ob Einwegverpackung, Pkw oder die viermal im Jahr wechselnde Kleidermode, die irdischen Bräuche nahm er nicht an. Mochten die jungen Amerikanerinnen hinter seinem Rücken über die blasse Haut lästern, mochten seine Kommilitonen den Kopf darüber schütteln, dass er den Spitzenjob ausschlug, der ihm direkt nach dem Studium von einem Medienkonzern angeboten wurde. Er hatte doch nicht jahrelang gebüffelt und geschuftet, um eine Kindersendung im Nachmittagsprogramm zu moderieren! Als Astro-Agrartechnologe war er dafür ausgebildet worden, Wohn- und Arbeitskuppeln mit der nötigen Vegetation zu versehen, die es den Bewohnern erlaubt, autark von der Erde zu leben und zu arbeiten. Infotainment für lernschwache Erdenkids soll doch machen wer will!
Ein leises Klingeln holte ihn in die Gegenwart zurück. Oma Charlottes Frühstück war gekommen. Geschickt nahm die alte Dame dem Serviceroboter die Trinkflasche mit Kaffee und den Becher Jogurt-Müsli ab. Aus den Augenwinkeln bekam der junge Mann mit, wie seine Oma nochmals die Eingabetastatur des elektronischen Dieners bearbeitete.
"Was nicht in Ordnung, Oma?"
"Nein, mein Junge", beschwichtigte sie ihn. Lächelte dabei verstohlen. "Alles in bester Ordnung. Nur eine Mail für mich. Und die Bestätigung wegen des Geschenks. Mal gefragt: Soll ich für mich eine Birke bestellen oder Bambus?"
"Nimm doch Bambus für deinen Weihnachtsbaum. Wenn du schon über Weihnachten bleibst, dann solltest du was Seltenes pflanzen, kommst doch eh nur selten zu uns. Außerdem, Bambus wächst viel schneller und vermehrt sich auch viel besser. Würdest du bei uns wohnen, dürftest du dir von deinem Baumbus sogar schon nach einem Jahr einen Ableger holen und in deine Privatwohnung mitnehmen. Bist doch eine Frau; Bambus ist doch ein Symbol für das Weibliche, für Wachstum und Vermehrung. Wenn wir Neujahr zum Pflanzen gehen, dann gucken wir uns auch mal an, was aus den Fichten und Erlen vom letzten Jahr geworden ist."
"Aber, Frederick", setzte ihn die Angesprochene ins Bild. "Da müsste ich den Topf ja ins Shuttle schmuggeln. Was sollen denn die Leute denken, wenn man bei der Gepäckkontrolle Grünzeug bei mir findet? Die meinen doch, ich wäre durchgeknallt."
"Tschuldige, Oma. Ich dachte gar nicht daran, dass du auf der Erde wohnst. Ihr pflanzt keine Bäume zu Neujahr an, ihr haut sie für Weihnachten um. Gewöhne ich mich nie dran! Ich habe Ma gesagt, sie soll mir eine Birke bestellen. Da kommt in ein paar Jahren eine Plakette mit meinem Namen dran. Irgendwann einmal heißt dann ein ganzer Wald wie ich."
Die alte Dame lachte leise. "Wie dein Vater, wie dein Opa. Als hätte man euch geklont." Ihre Finger hatten die Eintipparbeit am Display beendet. C1724 gab noch eine kurze Bestätigung von sich. Alles in Ordnung. Die bestellte Ware würde am Raumhafen auf sie warten.

"So, Oma, wohin jetzt? Brauchst du noch was aus der Ladenpassage?" Frederick Danword zählte die Gepäckstücke durch, die der Serviceroboter auf dem Raumhafen Luna-Europa für die Passagiere auf den Transportbuggy geladen hatte. Zwei Koffer für Charlotte Rosenberg, einen Koffer für den jungen Mann. Mit einem Koffer war er zur Erde geflogen, mit dem gleichen Koffer kehrte er zurück nach Hause.
"Nirgendwohin, mein Junge. Wie ich sehe, hat der Robby nicht nur meinen Bambus abgeholt und zum Gepäck gestellt, der Baum für das Kleine von Louisa ist auch schon da. Eines muss man euch Mondbewohnern lassen, organisieren könnt ihr."
"Du hast für Louisas Baby einen Baum bestellt? Was denn für einen? Birke oder Bambus? Man sieht ja gar nichts durch die Transportbox. Und überhaupt! Woher weißt du denn, was es wird?"
Die alte Charlotte Rosenberg schaute ihren Enkel von der Seite an, hob schelmisch den Zeigefinger.
"Wenn das eine Fangfrage werden sollte, dann war das eine blöde, junger Mann. Natürlich habe ich für Louisas Baby einen Weihnachtsbaum bestellt, was soll ich meinem ersten Urenkel denn sonst schenken. Für alles andere ist längst gesorgt. Deine Ma und Louisa fressen jeden quer, der jetzt noch Kindersachen ins Haus schleppt.
Wenn man wirklich etwas wissen will, Frederick, dann findet man auch jemanden, der Antwort gibt. Ein bisschen Geduld und Hartnäckigkeit helfen da wahre Wunder.
Was für einen Baum ich bestellt habe, wirst du schon noch früh genug erfahren. - Wie alle anderen auch. Gesundes Mondkalb will bekanntlich Weile haben."
 
Hallo Marlene

Auch gut umgesetzt und ich finde die wissenschaftlichen Aspekte besonders gut *g.

Mir persönlich fehlt so ein bisschen das weihnachtliche Gefühl, aber das ist ja Geschmacksache.


Genau so...........Stephanie
 
Hallo Stephanie,

danke für die schnelle Antwort.

Für die "Mondkälber" ist Weihnachten halt dann, wenn sie vom Forstamt einen kleinen Baum kaufen, ihn über Weihnachten mit in die Wohnung nehmen und ihn Neujahr an einer ihnen vorgeschlagenen/vorgeschriebenen Stelle einpflanzen.

Die Mondbewohner leben unter anderen Bedingungen, haben dementsprechend eine eigene Kultur entwickelt. Frederick Danword hat ja ernsthafte Probleme, mit dem Erdenleben zurechtzukommen, ist aus diesem Grunde ja auch zurück zum Mond geflogen.

Ob Tanne oder Bambus/Birke - ein frohes Weihnachtsfest.

Marlene
 



 
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