Barbara

othello

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Barbara

Der schrille Ton des Weckers weckt Barbara unsanft aus dem Schlaf.
Wie immer fällt ihr erster Blick auf den Himmel – dann auf den riesigen Baum vor ihrem Fenster und sie atmet ganz bewusst die milde Luft tief ein. Ein neuer Tag – ein neues Glück? Was wird er bringen? „Wenn der Tag so wird wie er sich jetzt schon zeigt, dann wird er wundervoll“, denkt sie sich und läuft in die Küche um die Kaffeemaschine anzustellen.
Während diese schnaufend und ächzend das Wasser durch die verkalkten Poren laufen lässt, steht Barbara schon unter der Dusche. Das warme Wasser rieselt fast zärtlich über ihren Körper und sie fühlt sich einfach gut. Die geballte Energie in ihr wartet darauf, endlich freigesetzt zu werden. Der frische Kaffeeduft strömt in ihre Nase und sie findet, dass sie eigentlich mit ihrem Leben voll und ganz zufrieden sein kann. Sie kommt mit ihren Kollegen im Job gut aus, hat ein gutes Einkommen, nette Freunde und ihre Wohnung ist genau so, wie sie sich es immer erträumt hat. Kinder hat sie keine, denn eigentlich ist sie überzeugter Single.
Wenn der Körper es fordert, dann mal zwischendurch so einen One-Night-Stand, der ist unverbindlich und man muss anschließend keine Hemden bügeln.
Aber mit zunehmenden Alter fordert es der Körper komischer Weise öfter und Barbara fühlt sich manchmal ziemlich einsam wenn sie vor ihrem großen offenen Kamin sitzt und auf das knisternde Feuer sieht. Da wäre es doch schön einen Männerarm um die Schultern zu spüren und bei verträumter Musik an einem Glas Rotwein zu nippen.
Sie schneidet sich das Brötchen von gestern auf und bestreicht es mit Butter und Himbeermarmelade. Natürlich wieder eine Figursünde aber man kann ja nicht auf alle Genüsse verzichten. Schnell noch ein wenig Make-up, die kurzen Haare geföhnt, ein T-Shirt an und in die Jeans gezwängt, dann läuft sie los zur U-Bahn.
Überall an den Zweigen von Büschen und Bäumen sieht man die prallen, hellgrünen Knospen, die kurz davor stehen, ihr Inneres zu zeigen. In den Vorgärten blühen Tulpen und Narzissen um die Wette und Barbara genießt diesen Anblick der frischen Natur.
Sie liebt das Frühlingserwachen nach der langen Winterpause und wundert sich, dass auf der Chaussee gar kein Stau zu sehen ist. Sie geht über die Treppe hinunter zum Bahnsteig. Auch der ist leer, nur ein Herr im Anzug und mit Aktentasche ist zu sehen. Da fährt der Zug auch schon ein und beide betreten denselben Waggon und wählen auch noch die gleichen Sitzplätze. Ein Zufall?
Sie inspiziert ihn – heimlich, so - aus den Augenwinkeln.
Das was sie sieht gefällt ihr auf Anhieb gut.
Die Bahn hält bei der nächsten Station.
Gespenstisch, - es steigt keiner ein und auch keiner aus.
Wer auch? Sie sind alleine! Auch er schaut verdutzt.
Plötzlich verziehen sich seine schönen Lippen zu einem Lächeln.
Er sieht sie auffordernd an und fragt „haben Sie heute schon auf den Kalender geschaut?“ Fassungslos sieht Barbara in seine blauen Augen. So eine bescheuerte Anmache hat sie ja noch nie gehört.
„Nein, so alt bin ich noch nicht – wenn ich an einem Montag schlafen gehe, dann weiß ich beim Erwachen, dass es Dienstag ist“, antwortet sie schnippisch.
„Aber anscheinend wissen Sie nicht der wievielte Dienstag im Monat es ist, sonst würden Sie nicht hier sitzen“.
„Heute ist Dienstag der, der – mein Gott, der 1. Mai. Ich habe frei, es ist ein Feiertag!“
„Sehen Sie, so etwas kann auch passieren wenn man noch jung ist und noch dazu gut aussieht.
Übrigens, ich heiße Daniel Schulenburg und meine nächste Frage wäre, ob wir nicht gemeinsam diesen herrlichen Tag verbringen möchten“.
Jetzt sieht sie ihn nicht mehr an – nein sie starrt in sein Gesicht und hört ihre Stimme sagen:
„Ich heiße Barbara Lehmann und finde Ihre Idee ausgesprochen gut. Womit fangen wir an?“
Du meine Güte – wo ist mein Gehirn. Ah – da meldet es sich schon mit der Frage „warum sagst Du das“ aber sofort antwortet der restliche Körper mit „warum nicht?“
In einem kleinen Cafe am Alsterufer, das zufällig schon geöffnet hat, genießen sie die ersten Sonnenstrahlen und lernen sich bei einem Stück Apfelkuchen näher kennen. Alles was Daniel erzählt hört sich interessant und spannend an. Sie haben die gleichen Interessen wie Kunst und Literatur, lieben abendliche Spaziergänge am Strand und können stundenlang einen Sternenhimmel begutachten. Barbara hat das Gefühl, sie würde Daniel schon lange kennen.
Irgendwie ist er ihr vertraut. Er zahlt und sie schlendern weiter, entlang der alten Trauerweiden.
„Haben Sie Lust an die Ostsee zu fahren?“ fragt Daniel.
„Ja, das machen wir, mit meinem Auto oder mit Ihrem?“
„Welches ist näher?“
„Ich wohne am Tondernstieg“:
„Ich auch“.
„Und da haben wir uns noch nie gesehen“, fragt Barbara verwundert?
„Nun ich bin beruflich viel unterwegs und komme oft erst spät abends nachhause. Manchmal auch erst nach einer Woche.“
Barbara findet so eine Beziehung wesentlich spannender. Man ist ab und zu Single, freut sich mehr auf die gemeinsamen Wochenenden und es kommt nie Langeweile auf.
Sie leisten sich ein Taxi, denn die nächste Bahn ist ziemlich entfernt und beide möchten Zeit sparen. Natürlich nehmen sie Daniels Auto, einen schicken Wagen mit Ledersitzen.
Aber zu diesem Zeitpunkt ist ihr das schon ganz egal. Hauptsache neben ihm, denn neben ihm fühlt sie sich wohl. Nach einer Stunde sind sie in Travemünde und spazieren durch den Hafen. In einem kleinen Fischlokal essen sie eine Scholle und fahren weiter nach Niendorf. Dort ist schon mehr Leben in den Strandcafes.
Nicht nur die Großstädter, die diesen Feiertag nutzen, nein auch viele Kurgäste tummeln sich hier. Barbara zieht ihre Schuhe aus und geht mit den Zehenspitzen ins Wasser.
„Huch, das ist noch ziemlich kalt“ ruft sie Daniel zu.
Er lacht und legt ebenfalls Schuhe und Socken ab, um das kühle Nass zu testen.
Unbeschwert albern sie am Strand herum und spüren gar nicht, dass der Tag sich langsam verabschiedet.
„Da, der große Stern, schau mal“, Barbara zeigt mit dem Finger in die Richtung und merkt, dass Sie Daniel einfach duzt.
„Oh Entschuldigung, dass – Du - ist mir einfach so rausgerutscht“.
„Nein, nein, Du brauchst Dich nicht zu entschuldigen, so hört sich alles viel besser an.“
Es kam ein zweiter und ein dritter Stern dazu, selbst der Vollmond hing, orange leuchtend, tief am Himmel. Romantik pur, so wie es sein soll – denkt Barbara und fühlt ein angenehmes Ziehen in der Bauchgegend.
Der Strand ist mittlerweile ziemlich leer geworden.
Die Gäste sind längst zum Abendessen in ihren Kliniken und die anderen Besucher schon wieder auf der Heimfahrt.
Sie sitzt im warmen Sand und sieht hinüber zu Daniel, der mit hochgekrempelter Hose vorne am Wasser steht und sinnierend in den Himmel guckt. Abrupt dreht er sich um und kommt zu ihr. Er setzt sich neben sie und legt vorsichtig den Arm um ihre Schulter.
Beide sehen sich an. Bevor Barbara etwas sagen kann, legen sich seine weichen Lippen behutsam auf die ihren. Der lange Kuss ist zärtlich und fordernd zugleich. Seine Fingerkuppen streicheln wie Espenlaub ihre nackte Haut unter dem T-Shirt. Ihr Körper passt sich dem Frühlingserwachen der Natur an, denn auch ihre rosa Knospen sind inzwischen prall und hart in Erwartung.
Sie genießt das Vorspiel – die Ouvertüre zum Akt mit all den facettenreichen Tönen auf ihrem Körper.
Noch nie war sie von solchem Begehren erfasst.
Eng umschlungen bleiben sie danach erschöpft im Sand liegen.

Diesmal hofft Barbara, dass es nicht bei einem One-Night-Stand bleibt und Daniel hofft, dass ihm eine gute Ausrede gegenüber seiner Frau einfallen wird.
 



 
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