Baskos letzter Kindheitstag

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Echoloch

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Drei Wochen nach seinem achten Geburtstag erkannte Basko, dass Gefühle ihn in seinem Leben nicht unbedingt weiterbringen würden. Er saß mitten in der Nacht mit seinem Vater an einem Lagerfeuer im Wald und fürchtete sich vor grausamen Kobolden und raunenden Gespenstern – bei jedem Knacken im Geäst schreckte er zusammen; und immer, wenn die brennenden Zweige in sich zusammenbrachen und krachend Funken sprühten, blieb ihm vor Angst das Herz stehen, einen kleinen, qualvollen Moment lang. Doch tapfer sagte er nichts, denn er wollte nicht den Jähzorn seines Vaters provozieren. Aus diesem Grund hatte er sich auch dagegen entschieden, ihn auf die Gefahr eines Waldbrandes hinzuweisen. Er hatte in der Schule gelernt, wie gefährlich es für Jungen war, mit Feuer zu spielen, und im vergangenen Jahr hatte er von seinen Eltern zwei Wochen Hausarrest bekommen, als er mit seinen Freunden im Stall des Bauern Scheel zündelte und es fast zu einer Katastrophe gekommen wäre. Nur die Tochter des Bauern Scheel – Elvira, die Schweigsame – hatte Schlimmeres verhindert, als sie die Jungs entdeckte und geistesgegenwärtig den schwelenden Heuballen auf den Hof warf, bevor die Flammen hochschlugen und nach der Möglichkeit lechzten, sich ihren vernichtenden Weg durch den Stall zu fressen. Die 14jährige Elvira stand regungslos vor den Flammen, ihre dünne Gestalt schien zu zerschmelzen mit dem Rot, das bald erlosch.
Seitdem hatten die Jungen aufgehört, Elvira zu hänseln, sie genoss ihren heiligen Schutz und ihre schüchterne Ehrerbietung. Sie war nun nicht mehr die hässliche Pute, mit der niemand etwas zu tun haben wollte, sondern ein mächtiger Sonderling. Und selbst ihre Altersgenossen hatten von ihrer Tat gehört und ließen sie von nun an in Ruhe.
Basko zuckte einmal mehr zusammen, als ein weiterer Funken des Lagerfeuers durch die Luft stob und gefährlich nah an seinem Bein auf dem trockenen Waldboden landete. Es hatte seit Wochen nicht mehr geregnet, und die Erinnerung daran, wie freizügig sein Vater sich des Spiritus’ bedient hatte, bereitete ihm Herzrasen. Der gleiche Vater, der ihm im vorigen Sommer vor Wut zum ersten Mal mit Prügel gedroht hatte, als er erfuhr, was sich beinahe im Stall der Bauern Scheel ereignet hätte, der gleiche Vater, der so schlimm mit ihm geschimpft hatte, dass er zu platzen drohte, wie Baskos jüngere Schwester Camilla es ausdrückte – dieser Vater hatte nun nicht gezögert, mitten im Wald Spiritus auf das trockene Holz zu schütten, das er auf einer Fläche drapiert hatte, die nur notdürftig eine ganz und gar nicht gesicherte Feuerstelle bildete. Basko beschloss, dass Erwachsenenlogik für ihn unergründbar sei. Obwohl er kein Spezialist im Thema Lebensgefahren war, spürte er instinktiv, dass es in dieser Nacht völlig der Natur überlassen blieb, ob sie ihn und seinen Vater und mit ihnen all die Gespenster und Kobolde und Unterholztiere als Nachtmahl einfordern oder aber ob sie alle noch einmal entkommen lassen würde.
„Wenn das kein echter Männerabend ist“, verkündete sein Vater mindestens zum zwanzigsten Mal und schlug Basko gönnerhaft so hart auf den Rücken, dass es ihm weh tat. Dann verzog er sich ins Gebüsch, um seine Blase zu entleeren, und Basko atmete kurz auf, obwohl ihm die Nacht nun noch bedrohlicher erschien. Doch so lange sein Vater nicht bei ihm war, konnte er mit nichts seinen Zorn provozieren, und Basko spürte eine Nervosität in der Luft, die bereit war, sich bei der kleinsten Regung über ihm zu entladen, eine Nervosität, die sie begleitet hatte, seit sie am frühen Morgen aufgebrochen waren – und nicht erst, seitdem sein Vater daran gescheitert war, das Feuer mit alten Pfadfinder-Methoden, und zwar ohne Spiritus, zu entzünden.
Sein Vater war kein Schläger, er hatte noch nie die Hand gegen eines seiner Kinder erhoben, und bis zu dem Vorfall im vorigen Sommer wäre Basko und seinen Schwestern nicht einmal die Idee gekommen, dass Erwachsene ein Kind verhauen könnten. In gewisser Weise wuchsen sie sehr behütet auf, denn obwohl zu Hause ein roher Umgangston herrschte und die Sitten der Familie den Nachbarn recht robust erschienen, war es ihren Eltern doch immer gelungen, die meisten Schrecken der Umgebung von ihren Kindern fernzuhalten. Trotzdem hatten Basko und seine Schwestern immer Angst vor den plötzlichen Momenten, in denen ihr Vater rot anlief und dann so laut schrie, dass die ganze Straße es hörte. Sie versteckten sich dann hinter Baskos Schreibtisch, in Camillas Schrank oder unter Sophies Bett und warteten, bis es vorbeiging. Dabei wurde nie ganz klar, wieso sie sich ausgerechnet unter Sophies Bett quetschten, denn Sophie war mit ihren fünf Jahren die Jüngste und ihr Bett das Kleinste. Obwohl Camilla nur ein knappes Jahr jünger war als Basko, ordnete sie sich ihm bedingungslos unter, so dass es immer an ihm lag, die Zeit zu überbrücken. „Männer brauchen das manchmal“, erklärte er ihnen. „Damit zeigen sie der Frau, dass sie sie lieben“, denn so hatte er es einmal von den größeren Jungs gehört. „Aha“, bemerkte Camilla dann ehrfürchtig. Und Sophie, die für ihr Alter über einen ausgeprägten Wortschatz und erstaunliche analytische Fähigkeiten verfügte, wetterte mit ihrer hohen Kinderstimme: „Das ist ja voll bescheuert! Ich zumindest werde später keine Frau!“ Sie besaß von allen Dreien den kraftvollsten Willen.
Basko schrie auf, als sich ihm plötzlich ein weicher Gegenstand über den Kopf stülpte und hörte als nächstes das röhrende Gelächter seines Vaters, der offensichtlich von seinem Nachtgang zurückgekehrt war. Panisch zerrte er das Ding von sich weg und stellte dann fest, dass es nur ein Pullover war. „Musst Dich wohl noch an die Nacht gewöhnen“, schlussfolgerte sein Vater, der sich vor Lachen kaum einkriegen konnte, dann aber doch den verwaisten Pullover vom Boden aufsammelte und ihn sich überstreifte, merkwürdig elegant, dachte Basko, und prägte sich das Bild ein, dass ihm aus irgend einem Grund unpassend erschien, „so grazil für einen Arbeiter“, hatte eine Freundin seiner Mutter dieser einmal zugeflüstert, doch sie hatte nur geantwortet: „Er ist kein Arbeiter; er ist Vorsteher!“ Seitdem fragte sich Basko, was wohl grazil bedeuten könnte.
„Basko“, hob sein Vater an, und mit einem Mal verstummte der Ort, stand die Zeit, verzog sich die Kälte. In der Stimme lag etwas so Bedeutungsvolles, dass Basko deutlich spürte, dass nun endlich der Moment gekommen war, der seine Spannung vorausgeschickt hatte, der Moment, wegen dem sein Vater überhaupt diesen Ausflug mit ihm eingerichtet hatte. Offiziell hatte er ihm dieses „Männerwochenende“ zum Geburtstag geschenkt, doch Basko wusste gleich, dass mehr dahinter steckte, als er feststellte, dass seine Mutter von dem Geschenk gar nichts wusste. „Wieso willst Du unbedingt mit dem Jungen in den Wald?“ „Das verstehst Du nicht!“ „Dann erklär es mir!“ (Seine Eltern konnten solcherlei Gespräche ohne jede Aggression bestreiten.) „Jeder richtige Junge sollte mal mit seinem Vater in den Dschungel. Es ist wichtig, die uralten Jagdinstinkte zu fördern.“ „Du spinnst.“ „Willst Du den Jungen denn zum Weichei erziehen?“ „Von mir aus geht doch, wenn’s Euch Spaß macht.“
Und so war die Verabredung getroffen. Basko wurde nicht zu seiner Meinung befragt. Er war darüber auch ganz froh, denn er wusste nicht so recht, was er von der Aussicht halten sollte, ein Wochenende lang mit seinem Vater durchs Gestrüpp zu kriechen, kleine, friedliche Tiere zu jagen und dann doch fertigverpackte Würstchen über einem Spirituslagerfeuer zu essen – schon damals hatte Basko sehr viel Sinn für Konsequenz. Der Ausflug fand genau drei Wochen nach seinem Geburtstag statt, bis dahin hatte Basko in ständiger latenter Nervosität gelebt und war schon ganz blass, so blass, dass seine Mutter sich Sorgen um seine Gesundheit machte und ihn beinahe zu Hause behalten hätte, statt ihn mit ihrem Mann aufbrechen zu lassen. Und dann waren sie endlich losgefahren, und Basko hatte sich den ganzen Tag, während er auf Wurzeln umknickte, von Insekten zerstochen und von Zweigen geschlagen wurde, gefragt, welch dunkles Geheimnis ihm sein Vater wohl anvertrauen wollte. Denn irgend etwas würde passieren, so viel stand fest. Baskos Lieblingsmöglichkeit bestand darin, dass sein Vater Geheimagent war und ihn nun auf eine gefährliche Mission mitnehmen wollte, doch besonders überzeugend fand er diese Idee nicht. Auch eine Ufo-Entführung verwarf er schnell und kam immer öfter auf die Möglichkeit einer männlichen Tradition zurück, die sein Vater ihm offenbaren wollte und von der seine Mutter nichts wissen durfte. Besonders beruhigend fand er diese Vorstellung allerdings nicht.
„Basko“, hob sein Vater erneut an, und in seiner Stimme lag eine Ernsthaftigkeit, die Basko erzittern ließ. Ihn war schlagartig klar, dass das, was sein Vater ihm nun mitteilen würde, seine eigenen kühnen Ideen bei weitem übertraf. „Ich habe Dir etwas Wichtiges zu sagen, und ich werde es kurz machen, denn wir Männer brauchen nicht viele Worte“, beschloss sein Vater, dessen Stimme dabei jedoch so stark zitterte, dass er eine Pause machen musste. Derweil bemühte sich Basko, das Gesicht seines Vaters zu erkennen, aber das Feuer war beinahe abgebrannt, nur ein winziger Streifen Licht fiel noch quer über den Mann, der unerreichbar weit weg auf der anderen Seite der Lagerstätte sprach, und ließ seine Züge noch gespenstischer wirken. Nicht einmal zwei Meter trennten die beiden, doch für Basko waren sie unüberwindbar. Er zitterte heftig, nicht nur, weil er Angst hatte; ein neues Gefühl, eine mächtige Schwere, zerdrückte seinen Magen.
Dann ging es plötzlich ziemlich schnell, sein Vater schien sich gefangen zu haben, seine Stimme war nun sicher und emotionslos und bereit, ihre Botschaft ohne weitere Störungen zu übermitteln: „Ich möchte nicht, dass Mutti etwas erfährt, denn sie würde sich nur unnötige Sorgen machen. Sie wird es noch früh genug erfahren, und dann musst Du sehr stark für sie sein, denn Du bist dann der Mann im Haus. Du wirst für Deine Mutter und Deine Schwestern sorgen, das musst Du mir versprechen. Ich weiß, dass Du das wirst, Du bist ein guter Junge. Frauen sind schwach – sie sind wunderschön, und Du wirst noch vielen von ihnen erliegen, und Du wirst Fehler machen, aus denen Du lernen wirst, aber Du darfst dabei nie vergessen, wie zerbrechlich sie sind und dass Du immer ihr Beschützer bleibst. Behandle sie gut, und verachte sie nicht, denn Du wirst sie brauchen, und ohne ihre Reize wird Dein Leben sehr leer sein; aber vergiss dabei nie, dass sie Dir nicht gewachsen sind – versprichst Du mir das?“
„Ja, Paps“, flüsterte Basko, der überhaupt nichts verstand und dessen rasende Angst ihm beinahe die Worte verschnürte. Dann stand sein Vater auf, und für einen kurzen Moment dachte Basko, das sei’s gewesen, mehr gebe es nicht zu sagen; und er wurde wütend, weil er das Geheimnis nicht verstand, und er war erleichtert, weil es kein schlimmes Geheimnis war. Doch dann redete sein Vater weiter. Er sprach sehr leise, aber Basko prägte sich jedes Wort auf alle Zeiten ein: „Ich werde sterben, mein Sohn. Die Ärzte lassen mir keine Hoffnung, sie können nichts machen. Ich werde sterben, und Du sollst es als Einziger wissen, bis es soweit ist. Und wenn ich dann von Euch gegangen bin, sollst du Deine Schwestern beschützen und Deiner Mutter jeden Tag sagen, wie sehr ich sie liebe.“ Er drehte sich zum Gehen und murmelte seinen letzten Satz, schon gar nicht mehr wirklich da im Reich des Lebens: „Es gibt eine Versicherung, die sollte für einige Zeit genügen; ich habe für Euch gesorgt.“
Dann verschlangen die Schatten seine Gestalt und ließen ein Kind zurück, dessen Kindheit ein jähes Ende gefunden hatte. Im nächsten Moment ging das panische Herzrasen des Jungen in ein betäubtes, kaum mehr wahrnehmbares Pochen über. Mit einer gewaltigen Anstrengung schluckte er seine Tränen herunter und verdrängte sie dann für immer.
 

wondering

Mitglied
Hallo Maja,

sprachlich geprägt von einem großen und sorgsam eingesetzten Wortschatz, gelingt es dir sehr gut, dieses Kinderschicksal glaubhaft darzustellen. Die schnörkellose Distanz, mit der du erzählst, fast berichtest, unterstützt die Glaubhaftigkeit so, dass ich als Leserin mich umso näher am Geschehen fühlte und wirklich ergriffen zurück bleibe.

Ich habe nichts, aber auch gar nichts zu meckern.

LG wondering
 

Hetära

Mitglied
Hallo Echoloch,

auch ich finde die Geschichte sehr schön. Der Vater und das Feuer. Die Andeutung von 'durchs Feuer gehen' und das er dieses dem Sohn beizubringen versucht. Und mit solch einer Krankheit zum Tode ist wirklich und tatsächlich die Kindheit für den Sohn zuende.

Liebe Grüße
Hetära
 

Gandl

Mitglied
wir Männer brauchen nicht viele Worte...

Oh Maja,
großartig! ... und so traurig... so schön...
Wondering hats (wie so oft) auf den Punkt gebracht.
Danke!
Liebe Grüße
Gandl
 

Echoloch

Mitglied
Hallo Ihr Drei - was kann ich dazu sagen? Danke danke danke für Eure durchweg lobenden Worte.
Das gibt dem Tag einen sehr schönen Abschluß.

Herzlichst und verbunden, Maja
 
M

Minouche

Gast
so, da bin ich wieder....

Hallo !

Danke erstmal für die wunderbare Geschichte, das vorweg.

Das zweite,was ich gern erzählen mag. Vielleicht packe ich es mal in eine Geschichte, ich weiß noch nicht, denn ich bin voller Geschichten.....

Mein Opa. Der nahm mich manchmal mit zu den Gleisen. Nicht dort, wo es sicher war, meine ich. Er legte einen Pfennig drauf und sagte mir: "So, nun warte ab. Der Zug wird entgleisen, sicherlich !" Ich wartete. Der Zug fuhr. Ich hörte das Surren Minuten vorher, ich lag mit den Ohren auf den Gleisen, um besser zu hören und starb gleichzeitig vor Angst, dass ich plattgewalzt würde. Der Zug entgleiste nie. Das Pfennigstück war platt, wie eine Flunder. Ich habe ihn geliebt, meinen Opa. Ich habe ihn gehaßt manchmal. Für seinen Wagemut, für seinen Sadismus, für seine Zwiespältigkeit. Aber die Abenteuer mit ihm, das waren wenigstens Abenteuer !

Ein Beispiel nur. Angst vor Zügen habe ich noch immer. Doch das, ist eine andere Geschichte.

Nur eines noch. Es gibt so etwas wie Liebe, die gleichzeitig Hass ist. Vorsicht ist. Und das Nicht-Kennen eines Menschen. Für mich war es auf den Punkt gebracht.
Und es war ein Schluss, den ich erwartete, irgendwie. Vielleicht ahnte ich es. Es kam nicht überraschend. Zu sensibel hast du es erklärt, vielleicht. Ich hatte einen Opa, der ähnlich gestrickt war, wie der Vater in deiner Geschichte. Mag sein, dass es daran liegt.

Danke.

Liebe Grüße
Minouche

P.S. @Gandl: Ein Mann, ein Wort (in deinem Fall wenige, die auch alles Wesentliche sagen !)
eine Frau: ein Wörterbuch.
Beschämt: Minouche, herzlich grüßend.
Was soll's ? Ich kann nicht anders. ;-)
 

Echoloch

Mitglied
Liebe Minouche, völlig egal, ob mit vielen oder wenigen Worten: Es freut mich, wenn "Basko" berührt, eigene Erinnerungen trifft und zum Weiterdenken anregt. Das ist das größte Kompliment an mich.
Vielen Dank dafür!

Eine schöne Woche wünscht schon jetzt Maja
 
M

Minouche

Gast
Hallo Echoloch !

Sie branden wie Wellen an meine Klippen, die Erinnerungen!
Ich bin voll davon. Mag sein, eines Tages, dass ich den Mut habe, davon zu erzählen. Ein wenig habe ich nun erzählt. Das schaffen Geschichten wie deine, dich mich dort wieder heranführen und die Erinnerungen lebendig werden lassen.
In Basko habe ich in der Tat etwas wiedergefunden. Und so eine Kraft steckt in manchen Geschichten. Ist das nicht schön ?

Ich wünsche dir was !

Liebe Grüße
Minouche
 



 
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