Begegnung

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Rems Florian

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Begegnung



von Florian Rems



Die Dunkelheit hüllte den Bahnhof in eine gespenstische Stille. Keine Menschseele hielt sich hier auf. Um zwei Uhr Nachts war dieser Vorort wie ausgestorben. Ich glaube, ich war der Einzige der sich um diese Zeit noch draußen aufhielt. Genaugenommen wartete ich auf den Zug, der mich wieder in die Stadt bringen würde. Das Warten nahm nun bereits mehr Zeit in Anspruch, als es die Zugfahrt selbst tun würde.
Schließlich fuhr die Bahn ein und ich ließ mich müde in einen der gepolsterten Sitze fallen. Erst jetzt fiel mir auf, dass, soweit ich sehen konnte, sich auch niemand in diesem Zug befand. Was bei Tageslicht eine kaum bemerkenswerte Tatsache war, führte nachts zu einem stetigen Unwohlsein. Und so war es mir zu diesem Zeitpunkt auch unmöglich zu schlafen. Die Fahrt sollte noch meine volle Aufmerksamkeit erlangen. Radikaler und intensiver als es mir lieb war.
Plötzlich stellten sich die Haare auf meinem Arm auf. Es war ein Gefühl, als ob tausend und aber tausend Ameisen meinen Körper entlanglaufen würden. Beinahe, als würde ich frieren. Aber es war nicht kälter als vorher. Ich spürte, dass etwas nicht stimmte. Zu diesem Zeitpunkt war ich mir sicher, etwas Fremdes zu erleben.
Allmählich steigerte sich das Unwohlsein. Paranoia begann von mir Besitz zu ergreifen. Einige male meinte ich, hinter mir eine Gestalt erblickt zu haben. Plötzlich spürte ich etwas auf meiner rechten Schulter. Es war kalt. Ich drehte mich schlagartig um, aber da war nichts.
Während sich die Angst bis zur Panik aufschaukelte, versuchte ich mir zu erklären, was hier los war. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder war ich verrückt, oder es geschah etwas Übernatürliches aus einer anderen Welt. Das, worüber man in den unzähligen Klatschblättern lesen konnte. Das, von dem man immer glaubte, nur an den Haaren herbeigezogen zu sein.
Bei dem Gedanken, den Zug endlich zu verlassen, erstarrte ich. Plötzlich fühlte ich mich so hilflos, verloren. Hätte der Zug nicht bereits anhalten müssen? Waren da nicht schon einige Haltestellen gewesen?
Panisch blickte ich aus dem Fenster und sah - nichts. Es war nicht die nächtliche Dunkelheit. Da war einfach nichts. Als hätte jemand die Fenster mit schwarzem Papier zugeklebt. Ich war mir sich, dass ich durch die Fenster blicken hatte können, als der Zug noch im Bahnhof gestanden hatte. Was war hier los? Was konnte ich tun?
Entschlossen stand ich auf. Die Welle des tatkräftigen Mutes verflüchtigte sich allerdings schnell wieder. Trotzdem blieb ich stehen, schritt langsam durch den Zug und kontrollierte jedes Fenster, jede Tür, einfach jede Möglichkeit um den Zug verlassen zu können. Meine Suche blieb erfolglos.
Nun hatte ich schon jedes Zeitgefühl verloren. Es mochten nur Minuten gewesen sein, vielleicht waren es aber auch schon Stunden. Langsam begann ich eine leichte Schwäche zu fühlen. Immer noch wollte sich mein Puls nicht beruhigen. Die Schweißperlen standen mir auf der Stirn. Ich hatte panische Angst. Ja, Todesangst. Ich war fertig.
Im Geiste malte ich mir ein Szenario aus, in dem der Zug einfach hielt, und ich hinausspazierte, als wäre nie etwas passiert. Doch sollte es anders kommen.
Allmählich begriff ich, dass es keinen Ausweg gab. Je länger ich überlegte, desto aussichtsloser war meine Situation. Völlig entkräftet lehnte ich mich an eine Wand und lies die nächste Panikattacke über mich hinwegrollen.
Und auf einmal packte mich das Grauen, mehr als je zuvor. Ein Schrei! Es war ein Schrei, der durch den gesamten Zug jagte. Ein Schrei, der aus den Tiefen der Hölle zu kommen schien. Diese Stimme kam nicht von dieser Welt!
Nun rannte ich nur noch. Versuchte von diesem Ort wegzulaufen. Wie benebelt ignorierte ich die Tatsache, dass mich meine Flucht niergends hinführen würde. Aber ich rannte weiter. Abteil für Abteil. Wagon für Wagon.
Und dann traf es mich wie ein Blitz. Mit einem Ruck blieb ich stehen, fest angewurzelt. Der Anblick fesselte mein Gehirn, machte die einzelnen Gedankenstränge nutz- und ziellos. Wie in einem Schock gefangen, versuchte ich mir einen Weg in die normale Welt zu kämpfen. Krampfhaft suchte ich nach rationalem Denken.
Da vor mir auf dem Boden saß ein kleines Mädchen. Es trug ein langes weißes Kleid. Und es schrie. Es schrie, dass es mir durch Mark und Bein ging, dass mir dieses Mädchen grauenhafter erschien, als das der Teufel selbst vermocht hätte.
Sie schaute sich offenbar Schwarzweisphotos an. Ich trat näher heran. Langsam, Schritt für Schritt. Und was ich dort auf den Photos sah, ließ den Gedanken, dass es sich hier doch um eine normale Situation handeln könnte, schnell wieder verfliegen. Das Mädchen war nicht das, was sie zu sein schien. Auf den Photos, die sie nacheinander betrachtete, war ein Zugunglück, ein völlig zerstörter Wagon zu sehen. Man konnte eine Leiche erkennen, eine kleine völlig blutverschmierte Leiche. Und sie trug ein weißes Kleid.
Die ständigen Schreie und dieser Anblick vermischten sich zu einer Atmosphäre, die jegliches klare Denken verhinderte. Und dann, von einem Moment zum nächsten hörte das Mädchen auf zu schreien. Ebenso stoppte sie damit, die einzelnen Photos durchzusehen.
Die plötzliche Stille war noch viel shockierender und für diesen Augenblick schien mein Herz stillzustehen. Nun lag vor dem Mädchen ein Farbphoto. Es zeigte die gleiche Szene, ein zerstörter Wagon, ein Leiche. Nur diesmal war nicht sie das Opfer, sondern - ich. Ich!
Überwältigt von diesen Sinneseindrücken wich ich zurück. Die Angst ließ meinen Puls in die Höhe schnellen und erzeugte eine ätzende Übelkeit. Nun fühlte ich schon Schmerzen in der Brust.
Das Mädchen blickte auf. Ihre blutunterlaufenen Augen starrten mich an. Dann hob sie den Zeigefinger und begann zu lachen. Sie lachte mich aus. Sie lachte über mich. Ihre grässliche Fratze prägte sich in mein Gehirn, genauso wie mich ihr niederschmetterndes Lachen völlig durchdrang und meinen Lebenswillen aufzuzehren drohte.
In diesem Moment übernahm mein Überlebensinstinkt die Kontrolle. Denken konnte ich nicht mehr. Und doch warf ich mich intuitiv aus dem Fenster und schlug hart neben den Schienen auf.
Halb bewusstlos sah ich dem Zug nach, wie er auf eine völlig zerstörte Brücke zufuhr und schließlich in den Abgrund stürzte. Ich hörte keinen Aufprall, als ich endgültig das Bewusstsein verlor.

Der erste Sonnenstrahl des Morgens weckte mich. Bis auf einige, ziemlich schmerzhafte blaue Flecken war ich unverletzt. Ein paar Minuten lang versuchte ich in den Abgrund zu blicken, aber das Gelände war zu locker und ich konnte nicht nahe genug herankommen.
Also lief ich die Schienen entlang zurück, bis in den nächsten Bahnhof. Dort begegnete ich einer älteren Dame, die ihren Einkauf gerade nach Hause trug. Voller Freude einen anderen Menschen zu sehen, teilte ich mich ihr sofort mit: „Wir müssen sofort Polizei und Notarzt rufen. Diese Nacht ist hier ein Zug in den Abgrund gestürzt!”
„Junger Mann, aber junger Mann, beruhigen sie sich erst einmal! Sie sind ja völlig fertig. Welchen Zug meinen sie überhaupt?”
„Er müsste hier etwa um drei Uhr oder so, vorbei gefahren sein.”
„Oh, das glaube ich nicht! Hier, auf dieser Strecke fährt schon lange kein Zug mehr. Ich wohne in dem Häuschen da drüben, und wenn hier ein Zug vorbeifährt, dann würd’ ich das sicherlich mitkriegen.”
„Aber der Zug ist auf die zerstörte Brücke gefahren und in den Abgrund gestürzt. Ich...”
„Ja, natürlich. Das ist aber schon . . . 57 Jahre her.”
„Was?”
„Gehen sie nach Hause. Schlafen sie sich aus. Sicherlich wird sich dann alles aufklären.”
Ich befolgte ihren Rat. Doch kam ich zur der Einsicht, dass ich dieses Erlebniss einfach nicht begreifen kann. Mir war eine Welt begegnet, für die das menschliche Gehirn wohl noch nicht reif genug ist. Und deswegen bewahre ich mir das Wissen, dass es passiert ist, ohne daran glauben zu können.
 
P

Phantom

Gast
Ich glaube wir hatten schon eimal das Vergnügen, oder??? Im Krimi-Forum???

Deine Geschichte gefällt mir richtig gut, der Zug - das Gefängnis, das Mädchen mit den Bildern, das erinnerte mich an "The Others", sehr gut gemacht... kompliment, wirklich!

Doch ein paar Kritiken hätte ich da noch:

"Plötzlich spürte ich etwas auf meiner rechten Schulter. Es war kalt. Ich drehte mich schlagartig um, aber da war nichts. " ... Hier würde ich noch ein bisschen mehr den Moment ausleben, du brichst, obwohl nicht der Höhepunkt der Geschichte, viel zu schnell ab...

"In diesem Moment übernahm mein Überlebensinstinkt die Kontrolle. Denken konnte ich nicht mehr. Und doch warf ich mich intuitiv aus dem Fenster und schlug hart neben den Schienen auf." ... Das geht irgendwie zu einfach... Dann hätte ja dein Protagonist vorher schon eine Fensterscheibe einschlagen können...

Der "Epilog" am Schluss bräuchtest du eigentlich nicht, ich glaub, es ist jedem klar, dass das ein "Geisterzug" ist... Ich würde eigentlich den Protagonisten nicht entkommen lassen... :)

Gruss Phantom
 

Rems Florian

Mitglied
Danke für deine Kritik,

außerdem freue ich mich über das quasi "erneute Treffen".

Der Schreckmoment mit der Kälte auf der Schulter kommt nicht richtig raus. Da hast du recht. Erscheint mehr als eine kurze Nebensächlichkeit. Sollte ich ändern.

Mit dem Fenster hatte ich irgendetwas vor, hab's aber leider vergessen. Natürlich ist es Schwachsinn, wenn er schon vorher nicht raus gekommen ist. Und überhaupt sind Glasscheiben nie so "weich", dass man da einfach durchfliegen kann. Mir wird schon was einfallen.

Der Schluss: Also eigentlich sollte der Protagonist schon überleben. Vielleicht ist das Ende nicht notwendig. Aber stört es? Bin mir nicht ganz sicher.

(Mystisches und Science-Fiktion liegen mir irgendwie besser, und machen mir vorallem mehr Spaß als Krimis. Vielleicht beschränk' ich mich drauf.)

Nochmal Danke.

Gruß Rems Florian
 
P

Phantom

Gast
Na ja, ich fand das Ende ein bisschen konventionell, das ist alles.

Betreff des Schicksals des Protagonisten muss ich anmerken, dass es deine Geschichte ist und du entscheidest was, wo und wie passiert. Ich frage mich einfach bei den meisten Geschichten, was ich gemacht hätte, dass ist alles. War nur ein kurzer Gedankenblitz meinerseits :) ... Bei mir wären jetzt zwei Schatten hinter den Fenstern des Zuges zu sehen gewesen, in alten Fotos "blätternd"... quatsch, geht ja gar nicht, die sind ja alle zugeklebt... :)

Deine Mystery-Geschichte ist wirklich besser, aber nur weil du einmal ein "schlechtes Erlebnis" mit dem Krimi hattest, musst du ihn nicht ganz aufgeben. Freu mich schon auf deine nächste Geschichte :)

Gruß Phantom
 



 
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