Begegnung auf den Steinstufen

ingridmaus

Mitglied
Hi leute,
heute werfe ich Euch zum erstenmal einen Text zum Frass vor, also seid nett aber vor allem schoen kritisch! ;)

Begegnung auf den Steinstufen
Sie saß auf den warmen Steinstufen und wartete.
Sie saß da, die Augen halbgeschlossen, und schaute müde in die Welt. Gleichgültig zerbröselten ihre Finger Birkenpollen und ließen die Samen auf die Steinstufen fallen. Auf der Stufe unter ihr saß eine Schnecke.
Auch sie wartete.
Sie bröselte und wartete und dabei bemerkte sie den Vogel nicht, der auf dem längsten Ast der gewaltigen Birke saß und sich mit dem Baum im sanften Wind hin- und herwiegte. Sie wartete lange und schließlich hielt es der Vogel nicht mehr aus. Er breitete die Flügel aus und warf sich in den Wind. Er stürzte hinab und landete dann vorsichtig auf ihrem Knie. Sie blickte nicht auf.
„Worauf wartest Du?“ fragte der Vogel.
Jetzt wandte sie den Kopf und sah ihn aus ihren halbgeschlossenen Augen an.
„Darauf, daß es beginnt.“ antwortete sie leise.
Der Vogel nickte.
„Wie lange wartest Du schon?“
„Solange ich hier sitze.“
Sie wandte sich wieder den Birkenpollen zu und zerbröselte sie über den Steinstufen. Aber der Vogel zeigte Kampfgeist.
„Warum fliegst Du nicht dem Beginn entgegen? Dann müßtest Du nicht so lange warten.“
Sie hielt irritiert inne und ein Windstoß fegte über die Steinstufen, nahm ihr die Birkenpollen aus der Hand und trug sie davon. Sie sah ihnen nach, einem tanzenden Kreisel aus glitzernden Punkten, wie er hüpfend und taumelnd dem Himmel entgegenflog.
„Ich kann nicht fliegen.“ sagte sie.
Der Vogel sprang entsetzt von ihrem Knie.
„Du kannst nicht fliegen? Aber was kannst Du dann?“
Sie suchte sich ein paar Kiesel und begann, sie zwischen ihren Fingern hin- und hergleiten zu lassen.
„Ich kann warten.“ erwiderte sie.
Der Vogel überlegte. Der Wind blähte sein Gefieder und wärmte seine Seele. Der Vogel rupfte sich schnell und entschlossen eine Schwanzfeder aus und legte sie ihr auf den Schoß.
„Nimm meine Feder,“ sagte er, „es ist meine Beste. Mit ihr kannst du gewiß fliegen.“
Sie starrte die lange geschwungene Feder an, die Sonne schien ihr ins Gesicht und ihre Augen leuchteten strahlend blau. Sie ließ die Kiesel fallen, nahm die Feder auf und folgte mit ihrem Zeigefinger vorsichtig dem Verlauf des schimmernden Gefieders. Der Wind fuhr sanft unter die Feder und ließ sie erzittern.
Da legte sie die Feder neben sich auf den Steinstufen ab.
„Und wenn Du mir hundert solcher Federn brächtest,“ sagte sie leise, „ich könnte trotzdem nicht fliegen. Es ist einfach nicht möglich.“
„Wie Du willst.“ antwortete der Vogel und fraß die Schnecke auf. Dann sprang er hoch, breitete die Flügel aus und ließ sich davontragen, höher und höher, bis er ganz verschwunden war. Der Wind wirbelte die Feder hoch, einen Moment lang stand die Feder in der Luft, direkt über ihr. Dann trug der Wind sie davon, weit weg, hinter die gewaltige Birke und noch weiter.
Sie saß auf den Steinstufen.
Die Steinstufen waren kalt.
Doch die Erinnerung hielt ihre Seele warm
Sie wartete.
Ilo


Vielleicht eine Frage zum Anstoss: Worauf glaubt Ihr, wartet sie?
Gruesse,
Ingrid
 

Antaris

Mitglied
Fliegen

Hallo Ingridmaus,

da ist Dir ja eine nette, poetische Geschichte gelungen. Sie ist auch gut erzählt, das einzige was mich sprachlich stört ist die häufige Verwendung von sie, er... das wirkt ein wenig monoton.

Ja worauf wartet sie... Ich sehe in der Geschichte eine Parabel über Kreativität und das Entstehen von Kunst. Du bist auf dem richtigen Weg.

Mit feurigen Grüßen

Antaris
 

klara

Mitglied
Schöne Geschichte.
Worauf sie wartet? Ich weiß es nicht.
Ich glaube, es geht um den Begriff "Warten" allein. Es ist hier in deiner Geschichte nicht wichtig, auf was sie wartet. Der Vogel, der Wind, die Samenkörner... Sie sind in Bewegung.
Die wartende Schnecke ist gefressen worden.
Was blüht dem wartenden Mädchen?
Ich hörte mal jemanden sagen, dass das Warten das Gegenteil vom Leben sei.
Ich las so eine -ähnliche- Botschaft aus deiner Geschichte.
Liege ich völlig daneben?
Herzliche Grüße.
 

ingridmaus

Mitglied
Hi Antaris, hi Klara,

danke fuer das Lob *freu*

Was das stupide "er" und "sie" angeht - ja, ich weiss, mir gefaellts auch nicht so gut, allerdings weiss ich keine Alternative. Persoenliche Namen will ich ihnen nicht geben, sonst wird das ganze zu spezifisch und es soll ja allgemein bleiben. "Sie" koennte ich ja hin und wieder mit "Maedchen" oder "Frau" bezeichnen, aber da tut sich das naechste Problem auf - mir ist es eigentlich fuer die Geschichte ziemlich wurscht, ob "sie" alt oder jung, maennlich oder weiblich ist - sie ist einfach jemand der wartet, koennte jeder sein. Deshalb hab ich so ein Problem mit der Benennung. Wenn jemand eine Auswegsbezeichnung wuesste, waere ich recht dankbar.
Wow, Antaris, "eine Parabel ueber das Entstehen von Kunst" - ich wusste gar nicht, dass ich sowas schreiben kann ;) Wo liest Du das denn?
Klara, Du bist ziemlich nah dran an dem, was ich auch empfunden habe, als ich die Geschichte geschrieben habe - meine Antwort waere gewesen, sie wartet darauf, dass das Leben beginnt. Aber nachdem jeder, der die Geschichte liest, bis jetzt etwas anderes darin gesehen hat (siehe Antaris), gibt es wohl mehrere Botschaften, von denen ich beim schreiben gar nichts wusste. :)
Ist die Geschichte nicht zu kurz? Ich hab sie vor zwei Monaten geschrieben, und seitdem ungefaehr 200 - 300 Woerter rausgekuerzt, langsam krieg ich Zweifel ob das nicht zuviel war.
 
G

Guest

Gast
Hallo Ingridmaus!

Auch wenn dein Beitrag schon eine Weile her ist, hier kommt jetzt meine Resonanz auf deine Worte.
In allem finde ich deine Story völlig in Ordnung. Für mich hat sie genau die richtige Länge. Wenn sie 200-300 Worte länger war, so scheinst du echt die Kunst des Weglassens zu beherrschen. Ich finde das schwieriger als das endlose Hinzufügen von Worten.
Das "SIE" und "ER" mit dem - wie ich finde - passgerechten Gebrauch in der Story, stört mich persönlich überhaupt nicht. Eine Namensgebung oder Bezeichnung wäre nur unnötiger Ballast, der vom eigentlichen Thema, ja sogar von der Handlung, ablenkt.
Und jetzt muss ich gezwungenermaßen meinen "Mut zur Lücke" beweisen: wo um Himmels Willen soll denn die "Parabel über Kreativität" stecken? Und das Entstehen von Kunst? Die Kunst ist hier doch schon entstanden! So siehst du es ja auch:)
Zurück zu deiner Story: ganz hervorragend fand ich deine Wortwahl, den in sich harmonischen Klang beim Lesen, was das Ganze dem Leser so richtig ins Herz wachsen lässt!
SUPER!!!!
Worauf die Protagonistin wartet??? Ich weiß es nicht, ich finde das hier auch nicht unbedingt so wichtig. Sie kann eigentlich auf alles warten. Vielleicht ist es auch einfach nur Sehnsucht nach etwas, was sie selbst nicht kennt.
Liebe Grüße,
Guido
 

ingridmaus

Mitglied
Danke

Hi Guido,
vielen Dank fuer die lobenden Worte *nochmalfreu* - ich finds auch sehr nett, dass Du meinen Beitrag von ganz unten noch mal ausgebuddelt hast. :)
Das mit der Parabel ueber die Entstehung von Kunst hab ich auch nicht ganz kapiert, trotz Antaris' genauerer Emailerklaerung ;), aber ich freu mich, dass jeder was anderes in meiner Geschichte entdeckt!
Liebe Gruesse
Ingrid
 

Breimann

Mitglied
Überrascht

bin ich - und erfreut. Bis zum Schluss wartet man auf die nicht erfolgende Auflösung. Warum wartet sie? Ja, und dann stellt man fest, dass es unerheblich ist. Es kommt nicht darauf an! Nicht alles muss beantwortet werden. Rätsel müssen bleiben können, und man muss sich eigene Fortsetzungen machen dürfen. Du machst wundervolle Stimmungen.
Bis bals
Eduard
 

McFire

Mitglied
Begegnung auf...

Hi,
Ingridmaus,
das war wirklich gut vom Guido, daß er die Story nochmal hochgeholt hat. Hätt ich wohl sonst aus Zeitgründen nicht angesehen. Wär schad gewesen.
Kurz gesagt: Eine hübsche runde Sache.
Guido (dank zu ihm) hat mir auch die "Kritikerarbeit" abgenommen, seh ich auch alles so. Auch den Schluß laß mal lieber "offen".
Besonders gut find ich aber dieses wunderbar Selbstverständliche im Ton des Dialogs.
Und - schade, daß sie es nicht mal versucht hat, ob's klappt...
Aber sie wußte wohl auch: Nur bei Erfolg wird heute merkwürdiges Benehmen entschuldigt, sonst - ab in den Keller...
 

ingridmaus

Mitglied
Auch Euch beiden nochmal ein dankeschoen fuer die lobenden Worte! *freunochmehr*

Fuer mich ist der Schluss eigentlich gar nicht offen - sie kriegt ihre Chance, vielleicht die einzige Chance ihres Lebens, und sie laesst sie sausen. Irgendwann wird ein groesserer Vogel kommen und sie fressen... Ich bin ein wohlmeinender Autor - haette sie sich getraut, haette ich sie wahrscheinlich nicht in ein offenes Messer laufen lassen. Aber so..

Schon beim schreiben war mir der Vogel eh viel symphatischer.. ;)
 

bassimax

Mitglied
hallo ingrid!

ich glaube sie wartet auf den beginn des lebens. auf
den beginn des "richtigen" lebens. und ich glaube auch,
das es tatsächlich vielen so geht, nach dem motto: "später,
wenn das richtige leben losgeht, dann werde ich..."
sie wartet, weil sie glaubt es selbts nicht tuen zu können, wartet darauf das es von selbst passiert, das leben.
sie ist sich ihrer gestalterischen macht nicht bewusst,
hat kein vertrauen in sich, und nicht mal in den vogel.
sie zerbröselt den samen, zerstört ihn. pflanzt ihn nicht
ein. die schnecke soll vielleicht ein spiegelbild ihrer
eigenen situation sein. "use it, or loose it" das leben.
sehr gut hat mir auch gefallen, das der vogel sie nicht
überzeugen wollte, ihre eigenverantwortlichkeit anerkannt
hat, nur einen anstoss gab.
sprachlich finde ich es manchmal ein kleines bischen
holprig. da ich aber philosophische geschichten liebe,
wenn sie gelungen sind, finde ich das nicht so wichtig.
eine sehr gute geschichte. nachdenkenswert. dankeschön!
gruss
sebastian
 



 
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