Begegnung in der U 1

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anbas

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Begegnung in der U 1

Neulich fuhr ich mit der U 1 aus der Hamburger Innenstadt hinaus. Es war nachmittags, kurz vor dem Berufsverkehr. An der Lohmühlenstraße stieg eine junge Frau ein. Sie war vielleicht gerade mal achtzehn Jahre alt, sah etwas ungepflegt aus, hatte einen unsicheren Gang und Mühe, ihre Augen offen zu halten. Ich war mir sofort ganz sicher, dass sie auf Droge war.
Sie setzte sich ein Stück weiter vor mir ans Fenster.
'Zum Glück hat sie sich nicht zu mir gesetzt', dachte ich, und ich war mir sicher, dass ich nicht der Einzige im Abteil war, der diesen Gedanken gehabt hatte.

Zwei Stationen weiter. Ritterstraße. Ein alter Mann stieg ein: hager, schlecht rasiert, langer blauer Mantel, zerschlissene braune Ledertasche, Prinz-Heinrich-Mütze. Er setzte sich mir gegenüber hin und begann sofort, laut über dieses und jenes zu reden.
'Oh Gott, wie peinlich', war mein erster Gedanke. 'Warum grade ich?' Ich bemerkte, wie sich außer mir auch der größte Teil der übrigen Fahrgäste krampfhaft darum bemühte, irgend woanders hinzuschauen.
"Jo, das is hier die Ritterstraße", erzählte er dann. "Die heißt so, weil früher hier immer die Ritter langgeritten sind. Aber das is ja nu nich mehr so."
Peinlich berührtes Flüstern auf den Sitzplätzen links neben mir - während sich mein Blick durch die Scheibe hindurch in die Dunkelheit des U-Bahntunnels bohrte.
'Hoffentlich spricht der dich jetzt nicht auch noch direkt an', schoss es mir durch den Kopf, und ich überlegte, ob es vielleicht taktisch klüger wäre, die Augen zu schließen, und so zu tun, als würde ich schlafen.
"Und nu", fuhr er fort, "werd ich euch ma was vorspiel'n. Aber nur ein Stück - das muss reichen." Er zog eine Mundharmonika aus seiner Tasche und spielte fröhlich drauf los.
Die übrigen Fahrgäste warfen sich verlegene Blicke zu, studierten zum achtunddreißigstenmal den an der Waggondecke hängenden Streckennetzplan des Hamburger Verkehrsverbundes oder starrten wie ich Löcher in die Dunkelheit des U-Bahntunnels. Nur wenige wagten den Blick hinüber zu dem alten Mann.
"So, das war's!", sagte er resolut, nachdem er zu Ende gespielt hatte. "Mehr gibt's nich'!" Dann schob er die Mundharmonika zurück in seine Manteltasche.

Während der ganzen Zeit hatte die junge Frau ihm aufmerksam zugehört. Nun stand sie auf und wankte zu ihm hinüber.
"Kannst du 'Lilli Marleen' spielen?", fragte sie mit müder schleppender Stimme.
Erstaunt blickte der Alte auf. Bevor er etwas erwidern konnte hatte sie sich schon neben ihn gesetzt.
"Bitte spiel das für mich! Ich singe auch mit", bat sie ihn und schaute ihn durch ihre halb geöffneten Augen flehend an.
"Na, wenn das so is, will ich ja ma nich so sein", sagte der Alte, zog seine Mundharmonika wieder aus der Manteltasche hervor und begann 'Lilli Marleen' zu spielen.
Die junge Frau stimmte in das Lied ein. Den Blick zum Boden gesenkt sang sie mit ihrer müden schleppenden Stimme zu dem zackig vorgetragenem und manchmal doch recht schrägem Spiel der Mundharmonika 'Lilli Marleen'.

Kurz darauf erreichten wir die Station 'Wandsbek Markt'. Dort stieg der alte Mann aus.
"Tschüß und danke schön", hatte sie noch zu ihm gesagt.
"Tschüß, min Deern!", hatte er erwidert. Und während sich die Türen schlossen und die Bahn immer schneller werdend aus der Station hinausfuhr, blieb er auf dem Bahnsteig stehen und schaute ihr nach.
 
L

Larissa

Gast
Hallo anbas,

ich weiß nicht recht, was ich zu deiner Geschichte sagen soll.
Einesteils berührt sie mich, weil ich Sympathie für den alten Mann empfinde, der so leutselig und treuherzig seine ihm unbekannten Mitfahrer unterhalten will. Ebenso rührt mich das Verhalten der "etwas ungepflegten" jungen Frau, die sich das Lied "Lilly Marlen" wünscht und dann sogar noch mit unmelodischer Stimme eine Gesangseinlage zum Besten gibt.

Andererseits fühle ich mich vom pikierten Verhalten der übrigen Fahrgäste abgestoßen, besonders von dem des Protagonisten, dem es peinlich ist, dass der Alte "ausgerechnet" ihn in ein Gespräch verwickeln will. Solche Überheblichkeit ist mir ein Gräuel.
Vermutlich soll das lyrische Ich gar nicht herablassend erscheinen, es kommt aber so rüber.

Vielleicht kannst du die betreffenden Sätze ein wenig abwandeln und zumindest das LI mit mitfühlenderen Zügen ausstatten, denn die Geschichte hat was.

Schöne Grüße
Larissa
 

chrissieanne

Mitglied
hallo anbas und larissa,

das "pikierte" verhalten stört mich nicht. denn es ist tatsächlich so, dass menschen vor solchen randgestalten angst haben. geht mir auch so, obwohl ich meist mit ihnen sympathisiere.umso mehr schäme ich mich dafür, und immer wieder reagiere ich so. und ich beobachte es x-mal jeden tag in berlin in der u-bahn. (es gibt natürlich leute, die diese menschen tatsächlich verachten, aber ich denke nicht, dass das die mehrheit ist)

ich fänds nur gut, da diese berührungsangst einen recht großen raum hier einnimmt, dass die reaktion der vorher besorgten (feigen) peinlich berührten, leute angesichts dieser rührenden situation - junkiefrau und penner singen und spielen - überhaupt nicht beschrieben wird. ich bin mir sicher, dass die meisten gerührt sind, da sie keine angst mehr haben müssen, direkt angesprochen zu werden.

Ich musste sofort an Drogen denken - zumal sich in der Nähe der Lohmühlenstraße Teile der Drogenszene etabliert hatten.
Das ist etwas gestelzt. die beschreibung sagt klar:junkiebraut. und das denkt dein prot.auch so, da bin ich sicher. und die etablierung der drogenszene in der lohmühlenstr ist hier völlig uninteressant. und sowas denkt auch niemand, wenn er in der u-bahn sitzt.

hat mir gefallen, deine kleine alltagsgeschichte.

lg
chrissieanne
 

chrissieanne

Mitglied
allo anbas und larissa,

das "pikierte" verhalten stört mich nicht. denn es ist tatsächlich so, dass menschen vor solchen randgestalten angst haben. geht mir auch so, obwohl ich meist mit ihnen sympathisiere.umso mehr schäme ich mich dafür, und immer wieder reagiere ich so. und ich beobachte es x-mal jeden tag in berlin in der u-bahn. (es gibt natürlich leute, die diese menschen tatsächlich verachten, aber ich denke nicht, dass das die mehrheit ist)

ich finde es nur schade, da diese berührungsangst einen recht großen raum hier einnimmt, dass die reaktion der vorher besorgten (feigen) peinlich berührten, leute angesichts dieser rührenden situation - junkiefrau und penner singen und spielen - überhaupt nicht beschrieben wird. ich bin mir sicher, dass die meisten gerührt sind, da sie keine angst mehr haben müssen, direkt angesprochen zu werden. zumal es ja auch eine sehr besondere situation ist.
und sozialromantik pur. da stehen wir doch drauf. die yunkiebraut hat keine angst vorm penner. sie sind beide melancholiker, leben in ihrer welt, und scheißen auf konventionen. die "kaputte" jugendliche spricht den alten harmonikaspieler an, dass er ihr "lili marleen" spielen möge. eine achtzehnjährige die "lili marleen" hören will! allein das reicht doch schon ums taschentuch zu nötigen.: jung in jahren uralt in der seele.
auf abstand gehalten ist das doch sooo schön.

Ich musste sofort an Drogen denken - zumal sich in der Nähe der Lohmühlenstraße Teile der Drogenszene etabliert hatten.
Das ist etwas gestelzt. die beschreibung sagt klar:junkiebraut. und das denkt dein prot.auch so, da bin ich sicher. und die etablierung der drogenszene in der lohmühlenstr ist hier völlig uninteressant. und sowas denkt auch niemand, wenn er in der u-bahn sitzt.

hat mir gefallen, deine kleine alltagsgeschichte.

lg
chrissieanne



p.s.: entschuldige diesen doppelkommentar, anbas. hatte ihn geändert, zwischendurch anruf bekommen - egal. diese 15 min. regelung nervt echt.
 

anbas

Mitglied
Hallo Larissa, hallo chrissieanne, hallo Gorgonski!

Ich danke Euch für Eure Rückmeldungen. Die Geschichte ist in etwa so wie beschrieben tatsächlich geschehen. Auch mit den, von Larissa so kritisierten, eigenen Gedanken des Protagonisten - also meinen. Es ist also tatsächlich eine reale Geschichte.

Ich erlebe es bei mir oft so, dass diese Art von Überheblichkeit eigentlich nichts anderes als Unsicherheit und Befangenheit ist. Von daher geht es mir ähnlich wie chrissieanne - ich habe Sympathie und Mitgefühl für diese Menschen und reagiere dann doch völlig anders. Ich denke aber, dass es wichtig ist, sich diesen inneren Widerspruch auch einzugestehen, wenn man sich tatsächlich ändern will.

Hinsichtlich des kritisierten Satzes werde ich noch mal in mich gehen.

Schöne Grüße
Andreas
 
B

Burana

Gast
Okay, anbas, die 'Begegnung' finde ich gelungen, es ist auch okay, dass das literarische 'ich' sich so pikiert darstellt. Als Beobachter ist dieses 'ich' sehr gut beschrieben. Der Schluss gefällt mir auch sehr gut. Viel ist nicht zu verändern, vielleicht einfach den monierten 'gestelzten' Teil durch ein einziges Wort aus der Drogensprache ersetzen, das das Mädchen 'beschreibt'? Ich mag Dich erst bewerten, sobald Deine 'Endfassung' hier drin steht. Liebe Grüße! Burana
 
N

no-name

Gast
Hallo Anbas,

eine berührende und in sich stimmige Geschichte, die ich in etwas abgewandelter Form schon öfters selbst "erleben" durfte. Ich habe Deine Geschichte als sehr realistisch empfunden, fahre ich doch als Hamburgerin oft selbst mit der U1 - also darf ich das sagen... ;-)

Liebe Grüße von no-name.
 
B

Burana

Gast
Jeder der, wie ich, öfter U-Bahn oder S-Bahn fährt, war bestimmt auch schon mal in einer ähnlichen Situation. Es steigt jemand ein - der nicht dem "normalen Ideal" entspricht - und man hofft "Oh Gott bitte nicht zu mir setzen!" Tut der "nicht Normale" das dann doch, ist einem das total peinlich. Ich kenne das nur zu gut. Ich finde daher, daß das Werk absolut dem Leben entspricht. Super... sagt Burana's Tochter.
 



 
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