Begegnungen mit der Vergangenheit

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M.Stimmler

Mitglied
Winternacht

Martin Stimmler

Jedesmal, wenn Sarah den Namen ihres Wohnortes aussprach, riss sie die Augen auf und vollführte mit den Pupillen eine halbe Drehung, bevor sie in affektierter Schwärmerei mit halb geschlossenen Lidern zu Boden blickte. In „Hamburg“ gab es alles. Läden die alles hatten, Läden die alles spielten, Läden in denen die „total abgefahrenen“ Szenetypen rumhingen, die definierten was gerade in war und was nicht. Auf die jüngsten Zeugnisse ihres schlechten Geschmacks vorsichtig angesprochen, war das Standardargument immer dasselbe: „Also, in HAMBURG (Augen auf, Drehung der Pupille, Augen zu Boden) ist das gerade total in.“ Wolfgang kam aus einem winzigen Kaff in Franken, genau wie Sarah eigentlich auch; er allerdings hatte es nur zu einer Studentenwohnung in der nächsten größeren Stadt Nürnberg gebracht, während seine Freundin seit einigen Jahren in der norddeutschen Metropole residierte. Sarah hatte gerade ihren monatlichen Besuch absolviert (das richtige Wort für die seit irgendeinem Punkt in den letzten zwei Jahren nur noch gewohnheitsbedingt gleichmäßig dümpelnde Beziehung) und fuhr in einem Intercity etwa auf halber Strecke nach Hause durch die kalte Winternacht, während Wolfgang noch immer in Gedanken versunken durch die leeren Straßen eines Nürnberger Vororts lief. Bürgersteige, Häuser und Straßen waren von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die vom halbvoll stehenden Mond beschienen wurde. Bis auf einige Schleier war es sternenklar.
In gewisser Weise bewunderte Wolfgang sich selbst dafür, wieder zwei Tage mit seiner Freundin verbracht zu haben, ohne sich zu offenen Sticheleien hinreißen zu lassen. An Angriffsfläche mangelte es keineswegs. Andererseits hatte seine Zurückhaltung auch durchaus mit dem Wissen um seine eigene Verwundbarkeit gegenüber Sarah und vor allem um ihre Fähigkeit zu gezielten und erbarmungslosen verbalen Tiefschlägen zu tun. Das wiederum beschämte ihn, zu Recht, wie er selber wusste.
Wolfgang blieb stehen, nahm einen tiefen Atemzug und betrachtete den Dampf, den er aus seiner vor Kälte geröteten Nase in die Januarnacht entließ. Obwohl er fror, verspürte er wenig Lust, den Heimweg anzutreten. Er kannte die Stimmung gut, in die er, seit er Sarah zum Bahnhof gebracht hatte, zusehends verfiel; der Notwendigkeit zur gesellschaftlichen Schauspielerei entledigt überkam ihn oft eine tiefsitzende Melancholie, der man sich besser im Freien hingeben konnte als umgeben von den Gegenständen des Alltags. Die waren geradezu aufgeladen mit der Notwendigkeit zum konstruktiven Fortschreiten, eine einzige Mahnung „etwas“ aus seinem Leben zu machen. Wolfgang war sich seit einiger Zeit ziemlich sicher, dass er wohl nicht besonders viel aus seinem Leben machen würde. Allerdings war diese Vorstellung mittlerweile gründlich jeder jugendlichen Romantik beraubt, was auch ein Blick in den klaren Nachthimmel nicht zu ändern vermochte; „nichts aus sich zu machen“ war gesellschaftlich geächtet, da konnten die Sterne so hell leuchten wie sie wollten.
Er beschloss, seinen nächtlichen Winterspaziergang diesmal weiter auszudehnen als sonst; dass er sich meistens nur in den ruhigeren Wohngegenden seinen Stimmungen hingab – immerhin zu ungewöhnlichen Uhrzeiten – kam ihm geradezu wie ein Symbol seiner kläglichen Überreste von Rebellentum vor. Er zog seinen Schal fester und begann in die Richtung zu laufen aus der er gekommen war, passierte eine Viertelstunde später ohne aufzublicken seine Wohnung in der Hansastraße und lief zielstrebig auf den Ortsausgang zu. Die Vorstellung, mit seiner völlig in schwarz gehaltenen Kleidung gegen die Weiße des Schnees wie ein dunkler Schatten zu wirken, erschien ihm passend und gefiel ihm auch in gewisser Weise.

Der einsame Feldweg, dem Wolfgang nun seit etwa einer Dreiviertelstunde gefolgt war, führte an einigen alleine stehenden Bauernhäusern und kahlen, schneebedeckten Feldern vorbei; in einer Entfernung von etwa drei Kilometern rechts von ihm lag ein dichter Wald, der sich in unüberschaubare Weite erstreckte. Auf dem freien Feld war der Wind deutlich stärker als in den geschützten Straßen seines Wohnviertels, und Wolfgang fror trotz seines dicken Mantels und des gestreckten Schrittes, mit dem er ziellos dem beinahe schnurgeraden Verlauf des Feldweges folgte. Es schneite leicht; Wolken waren aufgezogen und dämpften das Licht des Mondes. Das letzte Haus, in dessen beleuchteten Fenstern gebastelter Weihnachtsschmuck vor weißen Gardinen befestigt war, hatte er vor zehn Minuten passiert. In der Ferne vor ihm war nichts zu erkennen außer der Weiße der sanft ansteigenden Landschaft und vereinzelt stehenden Bäumen.
Wolfgang war tief in Gedanken versunken, die ihn von der Betrachtung seiner eigenen Situation, über die in den vergangenen Wochen bereits des Öfteren vorgenommene – und eher mißgünstige – Analyse der Persönlichkeit Sarahs, schließlich zur recht düsteren Behandlung philosophischer Fragen geführt hatten. Gerade grübelte er entschlossenen Schrittes über den Begriff der Schuld; der Verknüpfung von Kausalität und Schuld, den Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung, die Rechtfertigung von Vergeltung, dem Sinn von Strafe... Beinahe hätte er den dunklen Schatten übersehen, der sich am rechten Wegesrand abzeichnete. Als er nahe genug herangekommen war – es konnten alte Reifen sein, oder vielleicht ein kleiner Stoß Holz – vernahm er zuerst ein Schnaufen, dass sich mit einem undeutlichen Brabbeln abwechselte, und dann den deutlichen, immer intensiver werdenden Geruch von hochprozentigem Alkohol. Offenbar war er hier, mitten in der einsamen Winterlandschaft, auf eine Alkoholleiche gestoßen – glücklicherweise nur im übertragenen Sinn, den Geräuschen nach zu urteilen.

Vorsichtig näherte er sich dem Betrunkenen, der, flach auf dem Rücken liegend, eine Flasche in der auf seiner Brust ruhenden Hand hielt. „Hallo?“ fragte Wolfgang erst grundlos schüchtern, dann noch einmal mit festerer Stimme. Die Antwort war ein leises irres Kichern, unterbrochen von pfeifenden Atemgeräuschen und unverständlichen Lauten; der Mann versuchte anscheinend zu sprechen, reihte aber nur Vokale aneinander. Scheiße, dachte Wolfgang. „He, Sie können hier nicht liegenbleiben!“ Im völligen Bewußtsein der Sinnlosigkeit seines Versuches, an die Vernunft des Betrunkenen zu appellieren, fügte er dennoch leise und tonlos hinterher: „Sie erfrieren ja sonst...“
Der grüne Parka des Obdachlosen – offensichtlich handelte es sich um einen solchen – war völlig duchnässt und stank nach billigem, hochprozentigem Alkohol. Er war wohl mit der offenen Flasche in der Hand nach hinten gekippt und in seinem volltrunkenen Zustand einfach so liegen geblieben; lange hätte er hier sicher nicht mehr überlebt. Da Wolfgang aus Prinzip kein Handy besaß, was er jetzt zum ersten mal in seinem Leben bedauerte, konnte er keine Hilfe holen, und alleine zurück zum letzten Bauernhaus zu laufen schien ihm zu riskant zu sein. Es würde mindestens eine Viertelstunde dauern, bis er mit dem Bewohner wieder hier sein würde, auch wenn er rannte. Bis dahin könnte es vielleicht schon zu spät sein. Die einzige Möglichkeit war also, den Mann hier weg zu bewegen. Scheiße, Scheiße!!!, dachte er nocheinmal, drehte den Betrunkenen auf die Seite, legte dessen Arm um seine Schulter und hievte ihn mühsam auf die Beine.
Zum Glück wog der Kerl nicht viel, auch wenn er sich fast völlig hängen ließ. Den Kopf vorne übergebeugt, setzte er zumindest hin und wieder einen Fuß vor den anderen; verfilztes, fettiges dunkles Haar, das ihm bei aufrechter Körperhaltung wohl etwa bis zu den Schultern gereicht hätte, bedeckte sein Gesicht. Obwohl Wolfgang ihn fast tragen musste, kamen sie einigermaßen voran; in zwanzig Minuten sollten sie wohl das Bauernhaus erreicht haben.
Durch die erzwungene Bewegung schien der Betrunkene nach und nach etwas klarer zu werden. Wolfgang konnte einzelne genuschelte Wörter verstehen – „Danke, Mann, nett von dir... “ – wobei der erste Versuch des Mannes, sich zu artikulieren, allerdings von einem Hustenanfall unterbrochen wurde, der so heftig war, dass sie einige Minuten pausieren mußten. Krämpfe schüttelten seinen Körper, während er zwischen den Hustenattacken mit rasselndem Atem um Luft rang. Als der Anfall vorüber war, setzten die Beiden sich langsam wieder in Bewegung. Nach wenigen Metern begann der Mann erneut: „Danke, Wolfgang, echt nett von dir...“ – Woher kennt der Typ mich? Als Wolfgang auf diese Frage auch nach dem zweiten Mal keine verständliche Antwort bekam, blieb er schließlich stehen, richtete sich völlig auf und drehte sich mitsamt seiner Last in die andere Richtung. Der starke Wind blies das Haar aus dem Gesicht des Unbekannten, der mit halb geschlossenen, glasigen Augen durch Wolfgang hindurch zu sehen schien. Es dauerte einen Moment, bis Wolfgang seinen ehemaligen Mitschüler erkannte. „Jens?“ - „Klar... klar, Wolfgang. Ich bin‘s. Kennst mich doch.“, antwortete dieser lallend. Ein schwaches Lächeln zeichnete sich auf dem roten, aufgedunsenen Gesicht ab, während ein Faden Rotze aus seiner Nase lief und sich in dem struppigen braunen Bart verirrte. „Wie... Was machst du denn hier?“, fragte Wolfgang in einem ihm selbst absurd erscheinenden heiteren Tonfall, der wohl zu so etwas wie einem halbautomatischen Standardprogramm ‚Wiedersehensfreude‘ gehören musste; Mein Gott, was ist mit dem bloß passiert?!, schoss es ihm währenddessen bestürzt durch den Kopf.

Jens und er waren auf dem Gymnasium von der fünften bis zur zehnten in derselben Klasse gewesen, bis Jens dann schließlich sitzengeblieben war; fast jeden Morgen hatten sie sich schon im Bus getroffen, der die Schüler aus ihrem Heimatdorf in die nächste Kleinstadt beförderte. Eigentlich waren sie nie wirklich gute Freunde gewesen, gehörten aber beide zur halbstarken ‚Lokalprominenz‘, den mehr oder weniger gern gesehenen aber irgendwie auch dazugehörenden Komasäufern und Randalierern auf jeder Schülerparty. Als Jens‘ Eltern ein halbes Jahr nachdem er die Klasse wiederholen musste, weggezogen waren, hatten sie sich völlig aus den Augen verloren.
Er hat‘s zwar damals schon immer übertrieben, aber... Streng genommen hatten sie beide es regelmäßig ziemlich übertrieben, aber Wolfgang hatte letztendlich – entgegen der Prognose der meisten Beobachter – doch noch die Kurve und schließlich auch sein Abi gekriegt. Jens dagegen... irgendetwas musste fürchterlich schief gegangen sein.

Außer einem rasselnden Husten bekam Wolfgang keine Antwort auf seine unangebracht heitere Frage; bevor wieder Augenkontakt zustande kommen konnte, drehte er sich um, und setzte sie beide wieder in Bewegung. Erst jetzt begann Jens‘ Körper, gegen die Kälte anzukämpfen. Das ungehemmte Zittern, das hektische Atmen und Zähneklappern kamen Wolfgang fast übertrieben vor, aber sicher hatte sein alter Bekannter schon eine ganze Weile hier gelegen. Und seine klatschnasse Kleidung machte die winterlichen Temperaturen wohl kaum angenehmer.
Teilweise um die unangenehme Situation erträglicher zu machen, teils um seinen frierenden Begleiter abzulenken, aber auch aus ehrlicher Neugier versuchte Wolfgang nach ein paar mühsam zurückgelegten hundert Metern erneut, ein Gespräch in Gang zu bringen. „Sag mal...“ Er musste sich stark räuspern, da seine belegte Stimme ihm beinahe den Dienst verweigerte, „sag mal Jens... wieso... was machst du eigentlich hier, mitten in der Nacht bei dem Wetter?“ Die einzige Antwort bestand in fortgesetztem Keuchen und Zähneklappern. „Du wärst hier fast... Mann, was ist eigentlich passiert?“ Wolfgang stoppte abermals ihren Marsch durch die Winternacht und versuchte, Jens so weit wie möglich aufzurichten. „Ich meine... bist du nicht wenigstens arbeitslos gemeldet oder so? Wohnst du irgendwo?“
Jetzt zeigte Jens eine Reaktion. Schniefend strich er sich das fettige Haar nach hinten über den Kopf und begann, reichlich undeutlich zu lallen. „Ach nee... weiste... Das... also... ich war mal arbeitslos gemeldet, aber... sollte so‘n Scheißjob machen... jetz häng ich hier halt einfach auf der Straße rum... is mir auch scheißegal wennich erfrier, weiste... voll...kacke!“ Plötzlich griff Jens sich mit beiden Händen in die Haare und beugte seinen Oberkörper vor, offenbar ein gewohnter Bewegungsablauf. Immerhin mit dem Wind ergoss sich ein nicht unbeträchtlicher Schwall Flüssigkeit in die dünne Schneedecke; Wolfgang hatte es gerade noch fertig gebracht, die ihm ebenfalls nicht unbekannten Zeichen richtig zu deuten und aus der Schusslinie zu treten. Tatsächlich setzte Jens sich anschließend stöhnend von selber wieder in Bewegung, sehr unsicher auf den Beinen und stark nach links und rechts schwankend, aber immerhin. Seinen Ekel überwindend griff Wolfgang von hinten wieder zu, schnappte sich den rechten Arm seines alten Partykollegen und versuchte, diesen einigermaßen auf Kurs zu halten. Allerdings hatte er nicht den Eindruck, aus Jens noch eine einigermaßen plausible Erklärung für seinen offenbar bodenlosen Absturz zu erhalten, zumindest nicht mehr heute.
Schließlich näherten sie sich dem Bauernhaus, dessen beleuchtete Front von Weitem geradezu klischeehaft einladend aussah. Hier kann man noch eine Ahnung davon bekommen, was „Zivilisation“ eigentlich bedeutet, dachte Wolfgang. Bis vor ein paar hundert Jahren waren alle menschlichen Siedlungen genau das, was sie heute in diesem vereinzelt stehenden Bauernhaus erblickten: Einigermaßen ruhige und warme Inseln inmitten eines lebensunfreundlichen, erbarmungslosen Ozeans des Fressens und Gefressenwerdens. Oder des Erfrierens, in dem Fall. Wobei natürlich abzuwarten blieb, wie sich die Bewohner dieser friedlich wirkenden „Insel“ gegenüber zwei ungebetenen, nicht gerade den Idealtypus des angepassten Schwiegersohns verkörpernden Herumtreibern verhalten würden, die sich mitten in der Nacht erdreisteten, mit ernsthaften existenziellen Nöten Nachtruhe und Reinlichkeitsempfinden einer hoffentlich harmlosen Bauernfamilie zu stören... Wolfgang nahm sich vorsorglich schon einmal vor, später auf all jene Elenden zu trinken, die im Laufe der Menschheitsgeschichte vor den geschlossenen Toren irgendwelcher Städte oder Dörfer krepiert waren.
Mit einem leichten Ruck seinen geradeaus stolpernden Begleiter zur Hofeinfahrt ausrichtendend – was dieser kaum zu registrieren schien, da er die unkoordinierte aber stetige Vorwärtsbewegung fast nahtlos fortsetzte – steuerte Wolfgang schließlich auf das allein stehende Haus zu.

Nachdem auf die ersten Versuche, sich mittels höflichen Anklopfens bemerkbar zu machen, keinerlei Reaktion erfolgte, donnerte Wolfgang schließlich mit der Faust so lange an die massive Holztür – an der ein mit kitschigen Engelsgesichtern verzierter Weihnachtskranz allen Besuchern ein „Frohes Fest“ wünschte – bis diese von innen mit einem Ruck geöffnet wurde. Der im Eingang stehende massige Hausherr, mit einem struppigen Oberlippenbart inmitten des breiten, roten Gesichts, drückte durch seine Mimik eine Kombination aus Müdigkeit und Verärgerung aus, der sich wenige Sekunden nach der ersten Inaugenscheinnahme der nächtlichen Besucher so etwas wie Ekel hinzugesellte. Ohne ein Wort zu sagen, die halb geöffnete Tür mit einer Hand festhaltend, blickte er abwechselnd Wolfgang und Jens mit aufgerissenen Augen an.
„Äääh... Hallo... entschuldigen Sie die späte Störung“ - eigentlich waren Wolfgang Höflichkeitsfloskeln wie diese von Herzen zuwider, aber in dieser Situation wollte er wirklich nicht riskieren, den Bewohner des einzigen Hauses in einem Umkreis mehrerer Kilometer noch mehr zu verärgern, als dies offenbar ohnehin schon geschehen war - „aber mein Fr... dieser Mann hier ist sehr betrunken und wäre bestimmt erfroren, wenn ich ihn nicht gefunden hätte. Könnten Sie vielleicht einen Krankenwagen rufen?“
Nach einem kurzen Moment des Zögerns öffnete der Mann die Tür ganz und brummte „OK, von mir aus. Kommt rein. Ihr könnt hier vorne in der Diele warten.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ den kleinen Eingangsraum für einen Moment, kam aber sofort mit einem Telefon in der Hand zurück. Die Diele war eher spartanisch eingerichtet, Sitzmöglichkeiten gab es keine, aber immerhin war es hier warm und windstill. Wolfgang beschlugen augenblicklich die Gläser seiner Brille und während der Bauer telefonierte half er Jens mehr oder weniger im Blindflug dabei, sich auf den mit einem einfachen und ziemlich abgetretenen mintgrünen Läufer ausgelegten Boden zu setzen. Er selbst blieb lieber stehen.

Während sie auf den Krankenwagen warteten, was sicherlich eine halbe Stunde dauerte, verließ der Bewohner des Hauses für keine Sekunde den Raum und beobachtete schweigend, mit missbilligendem Gesichtsausdruck, Wolfgang und insbesondere den am Boden kauernden Jens, der mindestens einmal kurz davor war, den Rest seines Mageninhaltes in seiner direkten Umgebung zu verteilen. Zum Glück hatte er sich beherrschen können, was auf das Vorhandensein gewisser Basiskenntnisse gesellschaftlich angemessenen Verhaltens schließen ließ – und darauf, dass er sich zusehends seiner Situation oder zumindest seines Aufenthaltsortes bewusster zu werden schien. Mehrmals richtete er seine Augen auf Wolfgang und versuchte wohl, mit einem ziemlich unsicheren Lächeln so etwas wie ein Gespräch einzuleiten.
Nachdem Wolfgang eine Weile schweigend in der Diele gestanden hatte – eine umso unangenehmere Situation, als er abwechselnd darum bemüht war, den missbilligenden Blicken des Bauern und den hilfesuchenden seines alten Bekannten auszuweichen – ging er schließlich neben Jens in die Hocke. Vorsichtig berührte er dessen Schulter, wobei ihm das immer noch starke Zittern des völlig durchfrorenen Körpers auffiel. Die Berührung bemerkend, wandte Jens langsam seinen Kopf um und sah Wolfgang mit einem Ausdruck innigster Dankbarkeit an. Dieser war sich nicht darüber im Klaren, ob dafür die Tatsache ausschlaggebend war, dass er ihn gefunden und wahrscheinlich vor dem Erfrieren gerettet hatte oder vielmehr, dass er ihm durch seine Geste das Gefühl gab, wahrgenommen zu werden. Wahrscheinlich eher Letzteres, dachte Wolfgang; ihm ist es ja angeblich egal, ob er erfriert oder nicht... Unangenehm war ihm dieser Blick trotzdem, vielleicht auch gerade deswegen. Irgendwie lag etwas Verpflichtendes darin.

Ein Gespräch zwischen den beiden kam während der verbleibenden Viertelstunde bis zum Eintreffen des Krankenwagens nicht mehr zustande. Wolfgang wusste einfach nicht, was er sagen sollte und Jens schlief bereits nach kurzer Zeit an die Wand gelehnt ein. Erst als die beiden Fahrer des Krankenwagens – man war unnötigerweise mit Blaulicht und Sirene den völlig menschenleeren Feldweg entlanggefahren – eintrafen und mit der flüchtigen und etwas herablassenden Untersuchung des volltrunkenen Patienten begannen, wachte dieser wieder auf. Während er schließlich, mit einer silbernen Rettungsdecke über dem gesamten Körper halsabwärts, auf der Trage festgeschnallt wurde, begann er wieder damit, Wolfgangs Blick zu suchen. Da darauf keine Reaktion erfolgte, sprach er ihn schließlich mit sichtlicher und angesichts seiner leisen, etwas weinerlichen und belegten Stimme auch hörbarer Überwindung an. „Du, Wolfgang?“ - „Hmm?“ - „Kannst Du mir... könntest Du mir Deine Nummer geben oder sagen wo Du wohnst? Vielleicht können wir ja mal... irgendwas machen oder so...“
„Klar“, entgegnete Wolfgang mit tonloser Stimme. Einen Stift hatte er immer in der Tasche, und da er sein Portemonnaie nur sehr unregelmäßig ausmistete, fand sich auch ohne Probleme ein Stück Papier. Dabei handelte es sich um eine Zugkarte nach Hamburg und zurück, von letztem Monat. Nach einigem Zögern schrieb er etwas auf die Karte und gab sie seinem alten Bekannten.
Jens sah sich den beschriebenen Zettel ziemlich lange an, im Verhältnis zu den wenigen Informationen darauf jedenfalls, und hielt sie sich mal näher, mal weiter entfernt vor sein Gesicht. Mit einem plötzlich aufstrahlenden Lächeln sah er von unten herauf in Wolfgangs Gesicht. „Danke, Mann... Prinzenstraße 25, alles klar... Wir sehen uns dann!“ - „Ja, wir sehen uns dann. Mach‘s gut.“

Es hatte wieder angefangen zu schneien, als Wolfgang zusammen mit den Krankenwagenfahrern und ihrem Patienten das Haus verlies. Jens winkte ihm mit einem leichten Lächeln zu, als er in das Innere des Wagens geschoben wurde. Wolfgang winkte zurück und versuchte ebenfalls, so etwas wie ein Lächeln zustande zu bringen. Mit Blaulicht, aber immerhin ohne Sirene fuhr der Wagen los. Auf dem schnurgeraden Feldweg konnte Wolfgang ihn noch eine ganze Weile mit den Augen verfolgen, bevor er sich schließlich in der nächtlichen Ferne verlor.
 

nachts

Mitglied
Hallo Martin
- first off all - ich finds gut geschrieben, dein Schreibstil lässt einen dran bleiben und ist lebendig
der Schluß allerdings - ich hätte ja keinen Knalleffekt erwartet - aber das war n bisschen so, wie wenn du nem Fluß folgst und plötzlich merkst, dass er einfach versickert ist - wenn du weißt was ich meine - halt n Tag im Leben von Wolfang, den man kennen lernt. Vielleicht könnte die Geschichte um den Suffkumpel auch noch mehr Eindruck auf Wolfgang machen?
- nur so n Eindruck -

LG Nachts
 

Kafkarules

Mitglied
Gute Beschreibung

Mir hat die Geschichte außerordentlich gut gefallen. Sie ist gut und kompakt erzählt und was Du erzählst hat mich interessiert. Besonders gefallen haben mir die Passagen über Sarah und Wolfgang. Hier gelingt es Dir, die beiden Personen in wenigen Absätzen zu charakterisieren. Wolfgang kann ich mir mit den typischen Verhaltenweisen eines (gesellschaftskritischen und intellektuellen) antibürgerlichen Verhaltens gut vorstellen, er wirkt aber auch wenig lebensbejahend.
Sprachlich finde ich die Geschichte top. Mir sind keine sprachlichen Schnitzer oder misslungenen Bilder aufgefallen.
Allerdings finde ich nicht nicht alle Passagen der Geschichte gleich interessant. Als Wolfgang Jens kennenlernt, wird die
Geschichte für mich etwas weitschweifig, sie ist dann deutlich beschreibender und Du verwendest mehr Worte für einzelne Beschreibungen als bei der Darstellung der Beziehung zwischen Sarah und Wolfgang, die ich wesentlich spannender fand.
Aber trotzdem möchte ich gerne mehr von Dir lesen, denn ich denke, dass Du auch an den Texten feilst und gut daran arbeitest.
 



 
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