Begraben und vergessen

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„Warum erzählst du es ihnen?“ fragte er mich.
Ich habe darüber nachgedacht, wie es damals gewesen ist; und wenn ich damals sage, dann meine ich damit etwa vor fünf Jahren. Viele werden sagen, fünf Jahre, das ist noch gar nichts. Doch für mich bedeutet diese Zeitspanne mehr als ein Viertel meines bisherigen Lebens, deshalb werde ich „damals“ sagen. Wie bin ich damals gewesen? Anders als heute, das wohl auf jeden Fall.
„Warum erzählst du es ihnen?“ fragte er damals. Ich fand keine Antwort. Das war ungewöhnlich, für damals, da ich unüberlegt einfach drauflos redete, wie es bei den meisten meines Alters üblich war. Ich fand keine Antwort. So wie heute kramte ich in meinem Gedächtnis, aber klug wurde ich daraus nicht. Zum ersten Mal begann ich, über mich selbst nachzudenken. Ja, warum erzählte ich es ihnen eigentlich? Er wusste mehr über mich. Schließlich hatte ich viel Zeit mit ihm verbracht, tagsüber und auch in meinen Träumen. Er hatte eine Antwort auf seine Frage. Aber er sagte sie nicht. In seinen Augen lag ein Ausdruck von Sorge, Sorge darüber, wie ich wohl reagieren würde, sollte er mir Antwort geben.
Das erst machte mich wirklich nachdenklich. Wahrscheinlich nachdenklicher als seine Frage. Warum diese Sorge? War ich nicht ein aufgeklärter, offener Mensch? Glaubte er, mir etwas nicht sagen zu können? „Ja, das denke ich“, war seine Antwort. Ich spürte, dass ich wütend wurde, ja, ich erinnere mich, dass ich erbost war über ihn. Ich spürte übermäßigen Zorn, wie er mir heute nicht mehr begegnet.
Gleichzeitig war ich enttäuscht. Ich war unglaublich tief enttäuscht von ihm, der mich besser kennen sollte als alle anderen. Ihm galten meine Gedanken in freien Minuten, und doch enttäuschte er mich. Erst jetzt habe ich gemerkt, dass ich nicht von ihm enttäuscht gewesen bin. Diese Enttäuschung galt eher mir selbst.
Warum fragte er mich? Was hatte er davon? Wenn ich mir diese Frage stellte, musste es zwangsläufig auch ihn betreffen, so eng, wie er mit mir verknüpft war. Aber ich war ihm eine Antwort schuldig, für all die Antworten, die er mir gegeben hatte. Ich konnte nicht ausweichen und er wusste, dass ich es nicht konnte. Er hatte mir diese Frage gestellt, weil er wollte, dass ich mir selbst eine Antwort gab. Und das habe ich getan.
Ich habe ihn begraben. Ich habe ihn nicht mehr gebraucht. Ich weiß jetzt, dass ich es ihnen erzählt habe, weil ich wollte, dass sie mir zuhören, weil ich wollte, dass sie mich beachten, mich sehen. Mir war es egal, wie sie mich sehen, deshalb habe ich es ihnen erzählt, ich wollte nur gesehen werden. Ich war einsam, und ich wollte nicht einsam sein, ich wollte nicht die kleine Blüte sein, die in der Fuge einer Mauer blüht.
Aber ihm war ich eine Antwort schuldig, und mir ebenfalls. Also habe ich es ihnen erzählt. Sie haben mich nicht gesehen. Sie sind von mir gewichen. Ich habe es ihnen erzählt, und ihn habe ich begraben. Er war es, der mich auf den Weg brachte. Ich habe ihn begraben.
Heute weiß ich eines. Es hat ihn nie gegeben. Er war nichts als eine Schöpfung der Phantasie. Das habe ich ihnen erzählt. Sie sind von mir gewichen, aber ich habe andere gefunden. Heute wünsche ich manchmal, er wäre nie gewesen, aber wäre er nie gewesen, würde ich heute diese Worte nicht schreiben. Ich würde nicht darüber nachdenken. Denn das habe ich von ihm gelernt, von jemandem, der nicht existiert und den ich letztlich begraben habe.
 
L

loona

Gast
Hallo,

vergessen stimmt ja nicht ganz, hm? Die Thematik dieser Reflektion ist interessant. Auch der Umgang mit Sprache klappt wunderbar. Und trotzdem fiel es mir schwer, die Konzentration aufrecht zu halten, beim Lesen. Zu lange war das "es", das erzählt worden war nicht greifbar. Zu verwirrend bleibt die Beziehung des Ichs mit dem Ihm, wer "führt", wer lernt, das ist noch ungefähr nachvollziehbar. Das Spannende, daß "er" trotz seiner Führungsposition viel abhängiger vom "Ich" ist, wird leider nicht erkannt und entsprechend umgesetzt.

Insgesamt habe ich den Eindruck, ganz subjektiv, daß dieser Text der Autorin / dem Autor viel mehr zu sagen vermag, als der Leserschaft. Ich habe das Gefühl, einen Code zu lesen... Worte, die ich kenne, aber mit einer weiteren, tiefer reichenden Bedeutung, die mir fremd bleibt. Das Essentielle, quasi die Praxis, bleibt hinter der Theorie (der Nachbetrachtung) versteckt.

Das finde ich ausgesprochen schade. ("A Beautiful Mind" hat beispielsweise eine richtig tolle Darstellung für den fiktiven Begleiter gegeben.) Mich spricht diese Thematik unheimlich an. Der letzte Absatz zum Beispiel, erzählt mehr, als der gesamte Text davor (auch wenn z.B. das Zurückweichen und die "anderen, neuen" weiterhin diffus bleiben). Aber im letzten Absatz macht das "Ich" auf einmal lebendig.

Es mag ein autobiographischer Text sein (das eine Vermutung, die ich nur wegen des Hinweises auf das Schreiben dieses Texts im letzten Absatz wage), aber er verträgt denselben Mut, den es damals brauchte, um von "ihm" zu erzählen. Vielleicht ist die gewählte Form der Nachbetrachtung und Analyse zu austrocknend und zu unpersönlich... Ich fände es wirklich schön, eine überarbeitete oder neue Version zu lesen.

Internette Grüße

loona
 



 
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