Beobachtung zweier Menschen

TausendTN

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Der Mann an der Bushaltestelle drehte sich gerade um, um seinen nächsten nervösen Gang zu machen. Er lief mit langsamen Schritten hin und her, mal auf den Boden schauend, mal kurz den Blick nach oben wendend, um ihn sofort wieder zu senken wenn er einem Augenpaar begegnete. Er sah nicht nur deplatziert aus, er schien nicht einmal recht in seine Kleider zu passen. Sein Wollmantel saß schlecht, als wäre er ein wenig zu klein dafür, und das obwohl er mindestens einen Kopf größer war als Amelie. Seine Jeans hing ein wenig zu tief, war ein wenig zu weit, und mündete auf Lederschuhen die nicht billig aussahen, seinem Auftreten allerdings trotzdem nicht halfen.

Und wenn sie einmal die Gelegenheit hatte, in seine Augen zu blicken, wirkte er fassungslos. Als würde von einem Geschehnis verfolgt das er einfach nicht glauben konnte.

\"Entschuldigung\", sagte sie. \"Sie haben etwas fallen lassen.\"
Er stockte inmitten seines Schrittes und drehte sich herum. \"Wie bitte?\".
\"Ihnen ist etwas aus der Tasche gefallen\".
Schon während sie antwortete wanderte sein Blick schnell und abgehackt über den Boden. Noch im letzten Wort antwortete er \"Oh. Vielen Dank\". Er bückte sich und nahm seine Karte in die Hand. Er wirkte dabei so angespannt, als wären tausend Augen auf ihn gerichtet. Während er die Karte in seine Jackentasche steckte, zeigte er ein entschuldigendes *Lächeln*, und begann etwas unruhiger seine nächste Runde um die Bushaltestelle.

Seit anderthalb Jahren sah Amelie diesen Mann fast jeden Morgen an der Bushaltestelle. Was für ein armes Geschöpf. An manchen Tagen sah er ausgeschlafen aus, seine Kleider schienen ihm ein wenig besser zu passen; obwohl es die gleichen waren. Er sah so aus als müsse er beinahe lächeln, er sah Leute mit einem erwartungsvollen Blick an. Am Tag danach sah er niemals gut aus.

Der Bus kam. Amelie trat als erste ein, zeigte ihre Fahrkarte und setzte sich an einen Fensterplatz in der Mitte. Er stand. Sie hatte ihn nie sitzen sehen. Sobald er an seinem Platz stand, zog er ein Buch aus seiner Tasche, das er im Stehen las. Sie hat auch noch nie sehen können, was er las, doch sie konnte immerhin ungefähr sehen, wie das Buch aussah.
Manchmal hatte er zwei Wochen lang jeden Morgen das selbe Buch in der Hand. Manchmal hatte er jeden zweiten Tag ein anderes Buch in der Hand. Sie beobachtete ihn gerne wie er so da stand, denn sobald er eines geöffnet hatte schien die Angespanntheit ein wenig nachzulassen. Sieh sah zu wie seine Augen über die Zeilen flogen, manchmal stockten, hin und wieder auch eine Zeile zurück sprangen. Und nach einer Weile zog er seine Augenbrauen zusammen, sobald er merkte, dass er beobachtet wurde.

Amelie glaubte wirklich, dass jede einzelne Regung dieses Mannes bis ins kleinste Detail kalkuliert war. Wenn er seine Augenbrauen zusammenzog, dann nicht, weil er gerade etwas kontroverses las, oder über etwas nachgrübelte. Nein, er zeigte dem Beobachter seine Missbilligung ohne ihn Anzusehen. Amelie glaubte, er würde in diesen Momenten kein Wort von dem was er liest verstehen. Seinem Blick nach, schien er nur zwischen Verwirrung und Wut zu wandern.

Sie stiegen an der gleichen Haltestelle aus. Sobald der Bus hielt, trat er als erster durch die Tür. Und er hastete davon.

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Er sah sie jeden Morgen, schon seit einer Ewigkeit.

Jeden Morgen stand sie an seiner Bushaltestelle. Er wusste, dass sie ihn ansah, und er hörte nach eine Weile auf, zu versuchen, ihren Blick einzufangen. Wenn er beim Warten hin und her lief, sah sie ihn an. Wenn er sich herumdrehte, und sie direkt ansah, blickte sie ins Nichts geradeaus. Was für ein armer Mensch.

Sie sah gut aus. Nicht nur rein körperlich; ihre Haare waren stets frisiert. Sie trug häufig einen Blazer, ein einfaches paar Jeans und Schuhe, alles saß perfekt. Und sie strahle eine Ruhe und Selbstsicherheit aus, die ihn wieder und wieder verwirrte.
Jeden Morgen, wenn der Bus kam, setzte sie sich ein paar Reihen hinter ihn, während er stand. Und er wusste, dass sie ihn beobachtete.

Manchmal, während er las, zog er seine Augenbrauen zusammen. Was gab es zwanzig Minuten an einem Mann zu beobachten, der die ganze Fahrt das gleiche tat? Und, seltener, blickte er von seinem Buch auf und sah nach rechts, in ein Gesicht das ohne jede Emotion aus dem Fenster blickte. Mitunter kam es vor, dass sie ihren Blick vom Fenster abwandte und ihn ansah als wollte sie sagen \"Gibt es hier irgendetwas zu sehen?\". Ihr Blick schien sich stets zwischen Hilfsbedürftigkeit und absoluter Ablehnung zu bewegen.

Und sobald er sich wieder seinem Buch widmete, spürte er ihren Blick auf sich.

Sie stiegen an der gleichen Haltestelle aus. Sie stand direkt hinter ihm. Die Tür öffnete sich, und er hastete davon.
 



 
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