Berlin - Sportlich dank BVG

3,30 Stern(e) 6 Bewertungen

spectacle

Mitglied
Männer und Straßenbahnen soll man nie nachlaufen, es kommen immer wieder neue.
Eva Zeller


Ich bin wirklich kein Autofreund. Autos sind was für andere. Bin mit der BVG befreundet, gelb ist sowieso meine Lieblingsfarbe und ein warmes Fahrzeug weiß man doch wirklich erst zu schätzen, wenn man bei minus 15 Grad im Winter nach 20 Minuten warten an der Haltestelle endlich in den kuschlig warmen Bus einsteigen darf.
Sagte ich kuschelig warm? Das bezog sich dann eher auf die Berliner Busse, die noch im Winter beheizt werden. Wie altmodisch. Macht doch heute keiner mehr. Ist doch völlig out.

Schließlich sind ja alle Fahrgäste warm angezogen. Wir würden doch nur anfangen zu schwitzen und dann fürchterlich herummurren. Die BVG will schließlich zufriedene Kunden. Dafür legt sie sich mächtig ins Zeug. Unsere öffentlichen Verkehrsbetriebe können sich zu Recht rühmen, dass ihre Kunden sportlicher sind als die bequemen Autofreunde. In wöchentlich abwechselndem Rhythmus wird dazu an U-Bahnhöfen mit mehr als einem Aufgang jeweils eine der Rolltreppen abgeschaltet. Das sorgt für den nötigen Ausgleich an täglichem Bewegungsmangel. Als zusätzliche Maßnahme hat die BVG inzwischen eingeführt, dass immer einer der Bahnhofaus- bzw. -eingänge ganz gesperrt ist, sodass man mal locker bis zu einem halben Kilometer zum anderen Eingang zurücklegen darf.

Da auch dieses zusätzliche Angebot die Kunden nicht vollends glücklich machte, ist man auf die Idee gekommen, pro Linie auch mal mehrere Bahnhöfe ganz zu sperren, sodass diese nur mit einem Bus-Ersatzverkehr zu überbrücken sind. Das bedeutet, wieder Treppen hinaufsteigen (die Rolltreppe ist natürlich defekt) und weitere mehrere 100 m zurücklegen, bis man die Ersatzhaltestelle gefunden hat, die natürlich aus sportlichen Gründen nicht ausgeschildert wird.
Die BVG liebäugelt damit, auf den Ersatzverkehr ganz zu verzichten und die Kunden über die gesperrten Streckenabschnitte mit Zugbegleitern zu Fuß durch die U-Bahntunnel zu führen. Das hätte einen zusätzlichen kulturellen Effekt und würde bestimmt noch mehr Touristen nach Berlin bringen.
Doch leider wurde aus Gründen der baulichen Sicherheit dieses noch nicht genehmigt. Aber man arbeitet daran, alles wegen der Kundenzufriedenheit.

Als Übergangslösung bietet die BVG gesperrte Zugtüren an. Auf denen ist ein großer Zettel geklebt, mit dem Hinweis, die Tür sei beschädigt, man möge doch bitte die nächste benutzen. Doch auch auf der nächsten Tür befindet sich ein Zettel identischen Aufdrucks. Inzwischen beginnt ein kleiner Sprint, da der Zug kurz vor dem losfahre. Was ist das für ein Spaß! Eine echte sportliche Herausforderung für jeden Kunden, schafft man es noch, einzusteigen? Risiko! Denn auch diese Tür ist wieder gesperrt. Fantastisch, das macht richtig gute Laune und stachelt den persönlichen Ehrgeiz an, Du oder ich. Ich zeige es Dir. Wenn man gewinnt, heißt es dankbar: „BVG you made my day, thanks a lot.“

Auf ein besonderes Highlight möchte ich noch hinweisen. Es nennt sich „Spaß und Unterhaltung mit den Gelben“. Die BVG hat mal schlau nachgedacht, denn es wurde beobachtet, dass immer noch viele Kunden ihre Lektüre oder ihren ipod/mp3
o. ä. musikbegleitendes Zugprogramm zuhause vergessen.
Schleunigst wurden für arbeitslose Musiker ABM-Stellen gebastelt, die uns Kunden mit Musik in den Zugabteilen beglücken dürfen. Mit der Qualität der Musik hapert es beizeiten noch, hier wären Qualitätskontrollen unbedingt angebracht.

Außerdem verkaufen arbeitslose Schauspieler, als Obdachlose verkleidet, Zeitungen in den Waggons, sodass niemand mehr auf Lektüre verzichten muss. Das ist fast genial, nur leider vergessen diese arbeitslosen verpeilten Schauspieler meist ihre Obdachlosenzeitungen, sodass sie improvisieren und faszinierende Geschichten über ihr brotloses Dasein erzählen, während sie dafür Geld einsammeln. Ja, die BVG tut einiges für uns zahlende Gäste.
Bei den Touristen kommen diese Aktionen inzwischen so gut an, dass ich schon von welchen gehört habe, sie kämen extra nach Berlin, um ihren Urlaub in der U-Bahn zu verbringen, dieses einmalige Veranstaltungsprogramm in vollen Zügen genießend. Da hätten sie zuhause aber was zu erzählen.

Als ich Rathaus Spandau einstieg, freute ich mich schon, denn es war Samstagabend und dann immer besonders viel los, weil der Verdienst für unsere ABM-Kräfte am Wochenende wesentlich höher ist. Zum einen bekommen sie eine Schichtzulage, zum anderen sind die Kunden spendabler.
Ich wurde nicht enttäuscht. Hörte viele russische Lieder auf selbstgebastelten Balalaikas, tschechische Trompetenspieler und südamerikanische Panflöten. Dank dem Karaoke-Hype der letzten Jahre schleppten viele einfach ihre Musik in großen Boxen mit und sangen dazu mal besser, meist schlechter. Trotzdem, für so ein Unterhaltungsprogramm macht man normalerweise schon einige Euro mehr locker, hier gibt es das quasi gratis dazu.

Nicht unerwähnt sei auch noch der sportliche Run durch die Abteile. Seitdem sich die Bauweise der Züge geändert hat, kann man vom Anfang des Zugs bis zum Ende durchlaufen oder auch umgekehrt, was in der alten Baureihe nicht möglich war. Auch das ist natürlich für die Sportbegeisterten unter uns eine große Bereicherung, für die, die ihr Joggingprogramm gern unterwegs so nebenbei auf dem Weg zur Arbeit absolvieren möchten, weil sie sonst wenig Zeit haben. Hut ab vor der BVG, da hat sie wirklich mal toll mitgedacht.

Leider hat das auch einen Nachteil, der genauso passierte, als ich am besagten Abend schon einen Teil des musikalischen Unterhaltungsprogramms genossen hatte.
Ein Obdachloser schlenderte durch den Zug, natürlich mal wieder ohne Zeitung, erzählte in einem absolut perfekt geschulten monotonen Singsang seine Geschichte, also ohne völlig überbewertete Satzzeichen wie Punkt, Komma, Bindestrich, Heben der Stimme etc., während schon etwa 10 m hinter ihm der nächste Obdachlose genau das gleiche tat und weitere 10 m dahinter ein dritter seine Krankengeschichte besonders hervorhob, indem er deutlich sichtbar ein Bein nachzog. Das war jetzt etwas schlecht organisiert. Wenn man dem Ersten noch einen Euro gab, war man beim Zweiten schon auf 50 Cent runter und der Dritte bekam gar nichts ab. Man hatte einfach keinen Bock oder/und kein Geld mehr.
Ich hätte von der BVG schon eine bessere Logistik erwartet.

Daher schrieb ich der BVG am nächsten Tag diesbezüglich eine konstruktive E-Mail und bekam auch am übernächsten Tag sofort eine Antwort.
Darin stand, dass man sich für meinen Hinweis bedanke, doch da die Osterferien kurz bevorständen, hätte man auf diese Maßnahme zurückgreifen müssen. Man müsse mehr Schauspieler für die kommenden Wochen schulen, daher hätte immer ein bereits angelernter Obdachloser bis zu drei Lehrlinge im Schlepptau, damit diese noch rechtzeitig auf den Touristenansturm der kommenden Wochen vorbereitet werden könnten.
Das verstand ich nur zu gut, die BVG tat echt unglaublich was, um die Leute bei Laune zu halten. Ich kann nur sagen, die Gelben in Berlin sollten den bundesdeutschen Fahrverbandorden oder so was in der Art in diesem Jahr gewinnen. Gewaltig beeindruckend, wie die sich ins Zeug legen. Da kann man sich eine Scheibe von abschneiden. Alles nur, damit wir Kunden weiterhin glücklich durch die Unterwelt brausen können, fit und belesen, da kann man das Autofahren wirklich anderen überlassen.
Wir treue Monatskartenabonnenten sind darauf gespannt, was die BVG uns noch die nächsten Jahre bescheren wird.
Doch ich, ich werde lieber wieder, sobald die Minusgrade vorbei sind, auf mein Rennrad umsteigen, denn der Unterhaltungswert, den man als Rennradfahrerin in Berlin hat, wenn man durch die City radelt, was eigentlich schon fast selbstmörderisch ist, hebt meinen Adrenalinspiegel bei weitem mehr, als das sportliche BVG-Programm. Aber davon ein andermal, wenn es wärmer wird in Berlin.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo,

da fehlen aber noch die trapezkünstler, die an den haltegriffen turnen und die jungen mütter, die die singstimmen ihrer kinder schulen.
lg
 
Gute Idee, Nervendes als von oben geplante Bespaßung aufzufassen. Ich hätte es insgesamt etwas straffer erzählt. Habe mich dennoch über manche Details gut amüsiert.

Auch bewundernswert: Fahrgäste, die durch sich schließende Türen hechten. Ist fast so aufregend wie Löwen, die durch Feuerringe springen. Neulich in der S-Bahn an der Friedrichstraße: Er, über fünfzig, schafft es. Die Bahn fährt an, Türen beginnen sich zu schließen. Aber sie, kluge Frau, will nicht hinterher. Da packt er sie von innen am Arm und zerrt sie durch den sich schon bedrohlich verengenden Türspalt herein. Ging gerade noch mal gut.

Arno Abendschön
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo spectacle,

die arme BVG muss aber auch für alles herhalten ...

Einiges von Deinen Schilderungen ist aber Schuld der ... wir ahnen es schon - Bahn. Insbesondere die S-Bahn steht in der Dauerkritik; letztens las ich, der Bahn soll die Zuständigkeit für die S-Bahn entzogen werden, habe aber nicht mehr gelesen, was daraus geworden ist.

Der Text hat Längen - wie Arno schon sagte - und die Beispiele von Flammarion haben gezeigt, wie witzig so ein Text noch werden kann, wenn man ein bisschen überspitzt.

Liebe Grüße
Petra
 



 
Oben Unten