Berlin, Mehringdamm

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blaustrumpf

Mitglied
Berlin, Mehringdamm

Vor dem Szenetreff
sitzen einsame Männer,
jeder für sich.
Die Sommerglut lässt sie
welken vor ihrer Zeit.

Einsame Männer
mit trägen Gesichtern,
der Kampf längst aufgegeben,
das Rennen nie angetreten,
leeres Glas, voller Ascher.

Träge Gesichter
schauen dem Leben nach,
querfeldein das Rennen,
kein Rundkurs, nie eine Chance
zum zweiten Versuch.

Das Leben findet
beim Treff in der Szene
nur die Schlanken und Schönen.
Im Lärmen der Nacht
verklingt auch ihr suchender Ruf.

Vor dem Szenetreff
sitzen einsame Männer,
jeder an seinem Tisch,
jeder ein Kapitän,
auf den Lotsen wartend.
 
R

Ramona Linke

Gast
Hallo blauchen,

es ist sehr anspruchsvoll und
gefällt mir. Gut beobachtet und
zu Papier gebracht. Eigentlich
ein etwas trauriges Bild,
einsame Männer mit trägen Gesichtern.
Wünsche noch viel Spaß in Berlin
und dieses oder jenes fröhliche
Gesicht, vielleicht am Ku'damm ;)
liebe Grüße von RL.
 

george

Mitglied
Liebe blaustrumpf,

es tut gut, einen solchen Text zu lesen. Du hast das Verlorensein, die Apathie, die Selbstaufgabe gut beschrieben. Wie sie den Siegern, den Kämpfern nachsehen, seit Jahren schon aufgegeben haben.

Grüsse
 

Vera-Lena

Mitglied
Menschen

Liebe Blausrumpf,

das sind Personen, an denen immer vorbeigeschaut wird. Solche Gesichter will man nicht sehen, sie sind entpersönlicht im Bewußtsein Anderer, schicksalslos und einfach nur die Selbst-Schuld-dran-Dummen.

"Jeder ein Kapitän, auf einen Lotsen wartend."

Dieser Schluss gefällt mir sehr gut, denn damit hast Du deutlich gemacht, dass auch diese Menschen Träume haben, und dass manches in ihrem Leben hätte anders laufen können, wenn sich jemand gefunden hätte, der den Blick dafür hat, was jetzt helfen kann.

Solltest Du wirklich in Berlin sein, wenn es Dir möglich ist, besuche die Ausstellung."The story of Berlin". Die ist ganz außergewöhnlich, weil Du da auch akustisch in frühere Jahrhunderte mitgenommen wirst, manchmal sogar ganz körperlich, wenn der Boden plötzlich unter Deinen Füßen sich bewegt. Im obersten Stockwerk hast Du einen totalen Ausblick auf Berlin bis hin zum Fleming, einem bewaldeten Hügelzug. Und dann noch der Spreewald, wo die Leute die Briefpost mit einem Kahn bekommen müssen.

Liebe Grüsse Vera-Lena
 

blaustrumpf

Mitglied
Hallo, Ramona_Linke

Danke für deinen Zuspruch. Und den Spaß hatte ich dann auch noch. Sogar in einem Szenetreff. Auf dem Mehringdamm... ;)

Schöne Grüße von blaustrumpf

* * *

Hallo, george

Da ich deine atmosphärisch dichten Texte sehr schätze, freut es mich natürlich, dass dir dieser hier auch gefällt.

Schöne Grüße von blaustrumpf

* * *

Vera-Lena

Auch dir danke ich für den Zuspruch. Der Tipp kommt etwas spät, gleich fahre ich wieder ins Rheinische. Aber vielleicht klappt es ja beim nächsten Berlin-Besuch...

Schöne Grüße von blaustrumpf
 

Odyssee

Mitglied
Hallo Blaustrumpf,

das ist nun wirklich mal wieder ein Gedicht mit echtem Tiefgang. Du bleibst nicht nur an der Oberfläche, sondern bietest dem Leser die Möglichkeit tiefer in dein Gedicht einzusteigen, wenn er dazu bereit ist. Die Art deines Schreibens finde ich locker und ungezwungen ehrlich. Wirklich gut gelungen!

liebe Grüße
Odyssee
 

blaustrumpf

Mitglied
Hallo, Odyssee

Herzlichen Dank auch für deine positive Rückmeldung!

Schöne Grüße von blaustrumpf

* * *

Hallo, vetiver

Erstens habe auch ich schon so manchen Text für mich "entdeckt", indem ich ihn sozusagen blind anklickte. Das mit dem Rein in die und dem Raus aus der Bestenliste ging so schnell, dass ich selbst es gar nicht mitbekommen habe...

Zweitens: Schuldig in allen Punkten. Und dann auch noch mit Vorsatz, also keine Chance zur Nachbesserung. Tss Tss Tss...

Drittens: Dankeschön. Und ja. Oh oh ja! Wenn Sie wissen, was ich meine...

Viertens kann ich dir in Sachen Stimmung auch zustimmen. Die ist abhängig von der Tagesform (oder der Nachtstimmung) oder der Sommerschwüle oder dem Abfüllgrad der Gläser respektive der Männer. Oder so.

Nundenn.
Herzlichen Dank, dass du dir mit diesem kleinen Gedicht so große Mühe gemacht hast. Es ist natürlich bedauerlich, dass ich mich derzeit so gar nicht daran machen will, in dem Text die Grammatik wenigstens ein klitzepetites bisi mehr zu respektieren. Natürlich bewege ich deine Hinweise in meinem Herzen, aber einstweilen... Und damit ist es auch wieder ganz gut, dass das Gedicht nimmer in der Bestenliste steht und die heranwachsende Jugend verwirrt.

Schöne Grüße von blaustrumpf
 
K

kaffeehausintellektuelle

Gast
ich finde, das werk hat sich zweifellos einen platz in der bestenliste verdient.

es ist gelassen-traurig, aber auch einfach annehmend.
und einnehmend. weil bilder entstehen in meinem kopf beim lesen. und gefühle in meiner seele.
handwerklich fand ich besonders gelungen, dass die zweite zeile einer strophe immer die erste zeile der letzten strophe ist.

und die frage, ob die jungen schönen wirklich glücklicher als die alten verlorenen sind, die beantwortet sich ohnehin von selbst.

mir hat das gedicht ausgesprochen gut gefallen. bestnote.

die k.
 
V

vanHoughten

Gast
Kapitän steuert Schiff
Steuert es auf das Riff

Jetzt sitzt er hier fest
Für den schmutzigen Rest
Seines erbärmlichen Lebens
Und wartet vergebens
Darauf ...

dass ein Lotse kommen mag

Er wartet ...
Bis zum jüngsten Tag

Dann ist’s zwar zu spät
(Was ihm keiner verrät)

Doch erst dann hat er begriffen
Das gute Lotsen ...

das Riff umschiffen
 

blaustrumpf

Mitglied
Hallo, vanHoughten

Es gibt Leben, in denen ist
nirgends ein Riff, keine Klippe.
Die Abgründe zeigen sich nie.
Und der Mensch
geht zugrunde in endloser Steppe.

Es gibt Menschen, die sehnen sich,
dass etwas am Horizont erscheint,
und wissen, dass sie dort nie
hingelangen.
Doch schaffen sie es manchmal zum Mehringdamm.

Es gibt Leben, in denen ist
alles Riff, Klippe, Abgrund.
Eine Ebene zum Rasten zeigt sich nie.
Und der Mensch
geht weiter, weil er andere Wege nicht kennt.

Es gibt Menschen, die sehnen sich,
nach Abwechslung, nach Auswegen,
suchen eine Landschaft, die sie in sich nie
entdeckten.
Sie finden sie manchmal am Mehringdamm.


Mit anderen Worten: Danke für deinen Beitrag. Zuweilen setzen auch Lotsen das Schiff aufs Riff, damit die Seeleute eine Chance haben, von Bord zu kommen, bevor der Kahn im Sturm untergeht.
Ob sie allerdings den Mehringdamm als Heimathafen betrachten, entzieht sich meiner Kenntnis.

Schöne Grüße von blaustrumpf
 
H

HerZPiraT

Gast
hi, blaustrumpf,
bravo!:D
nicht nur das werk ist spitze, auch deine kommentarekommentare!;)
da capo! mee(h)eer!
der
PiraT
 

San Martin

Mitglied
Das Gedicht gefällt mir sehr, allerdings ist es mir zu offensichtlich, und ich kann den Finger nicht auf die Stellen legen, an denen das der Fall wäre. Vielleicht "Das Leben findet / beim Treff in der Szene / nur die Schlanken und Schönen." Dem Leser wird nicht recht die Chance gegeben, das Gedicht zu verstehen, weil die Intention übergenau ausformuliert ist - man muss nicht verstehen, das tut der Text bereits für einen. Die sprachlichen Bilder wie "leeres Glas, voller Ascher" und "Sommerglut lässt sie welken vor ihrer Zeit" finde ich klasse, nur deutet mir der Zeigefinger des Autors gar zu direkt auf die Szene. Mir wäre es lieber, wenn der Text sich nicht selbst deuten würde.
Ist sicher Geschmackssache. Dennoch bin ich begeistert. ;)
 



 
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