Berlin, Wohnzimmer

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Ingwer

Mitglied
Berlin, Wohnzimmer.
(Ortsangabe mit geringen Einschränkungen austauschbar. Aachen, Egmonts. Köln, Schorschs Teestube, nur für den Fall, dass Sie mal herumkommen.)

Abgewetzte Sofas, altmodische Tischchen und Menschen, die irgendwie dazu passen. Den Milchkaffee holt man sich vorne bei Oma mit dem lässig geschlungenen dunkelweißen Haarknoten und, wenn man will, auch noch ein bisschen Käsekuchen mit Kirschen. Angebot heute.

Im Angebot sind auch die Schreibenden. Das Wohnzimmer ist voll besetzt. Natürlich selten mit mehr als einem Mensch pro Tisch, denn Luft braucht der Schreibende, mehr als den üblichen Halbmeterradius, der die Privatsphäre begrenzt und Menschen in der Bahn empört fauchen lässt, wenn man ihnen zu nah rückt, ohne (vorher, versteht sich) eine Entschuldigung verlauten zu lassen.
Wenn es fünf Tische gäbe und sechs Menschen draußen anklopften, müsste die kleine Oma wahrscheinlich händeringend wegen zu wenig Sitzgelegenheiten einen sechsten Tisch aus dem Hinterzimmer schleppen lassen oder wegen Überfüllung schließen.
Ansonsten braucht der schreibende Mensch nicht viel. Papier (die Semiprofessionellen verwenden gerne Blöcke und Kladden; geniale Chaoten oder solche, die den Anschein erwecken wollen, sie wären welche, bevorzugen einzelne, wenn möglich noch knittrige und fleckige Blätter, alte Kassenzettel oder Bierdeckel), Stifte (Auch hier gibt es kleine, aber bezeichnende Unterschiede. Merke: Füller sind out. Ebenso Werbekulis von Banken und Sparkassen. Man schreibt mit Blei- oder Filzstift, denn man ist sich seiner Vergänglichkeit bewusst).
Draußen hängt unsichtbar: Laptops müssen draußen bleiben.

Schreiben ist hier jagen und gejagt werden. Die Blicke schießen durch den Raum. Man wiegt das Wort, das kommt, in der Hand, schätzt Muskulösität und Schlagkraft, mustert es entweder aus oder schickt es aufs Schlachtfeld leere Seite. Sind die Worte nicht stark genug, verliert man den Krieg. Wenn Blicke sich kreuzen, wird Information gesucht. Inspiration.

Gesten sind groß. Durchstreichen und unspektakulär neu anfangen denkbar VIEL ZU einfach. Zerreißen und wegschmeißen. Merken Sie es? Alleine die Worte sind: aussagekräftiger. So muss man mal denken. Komplexe gehören dazu. Kennen Sie glückliche Künstler? Hier sitzen Plaths, Woolfs und Tucholskys in spe. Dies ist kein Ort für Werbetexter, Seifenoper-Drehbuchautoren, Medikamentenbeipackzettelschreiber und Leserbriefverfasser.

Aber vielleicht sind sie auch hier, als viele unter vielen. Und schneiden sich die Tränen aus dem Gesicht und malen brennende Wortzeichen aufs löschende Papier, bauen Wolkenschlösser, wandeln schwarz in weiß und trinken die Milch der wiedergeborenen Muse Unschuld.

Ein grandioses Schauspiel. Ich bringe brav mein Geschirr zur kleinen Oma, packe dann meine Sachen zusammen und trete auf die Straße hinaus. Von draußen sehe ich, wie mein Tisch sofort in Beschlag genommen wird. Dann erst merke ich, dass ich die Bühne verlassen habe.
 
G

Gabriel

Gast
Hallo Ingwer!

Der Text hat viel!
Viel Atmosphäre, viele Bilder ( 'Man wiegt das Wort, das kommt, in der Hand ...' Schön!) und vielleicht auch viel Klischee, was aber überhaupt nicht stört.
Lediglich zwei Dinge haben mich ein wenig gestört:

- der lässig geschwungene, dunkelweiße Haarknoten der Oma, den ich mir nicht vorstellen kann, denn ein Knoten muss fest sein, sonst geht er auf und dunkelweiß ist eigentlich hellgrau !?!

- '... mustert entweder aus oder schickt aufs Schlachtfeld leere Seite.'
Die Stelle habe ich zwei Mal gelesen. Ich denke, hier würde ein 'es' die Sache runder machen. Schickt ES aufs Schlachtfeld leere Seite.

Hat mir gefallen!

Gruß, Gabriel
 

Zefira

Mitglied
Hallo Gabriel, hallo Ingwer,

ich denke, es ist sicher ein lässig geschlungener Haarknoten gemeint?

Den gibt es sehr wohl; wenn man es geschickt macht, geht er nicht auf :)

Liebe Grüße,
Zefira (Strubbelkopf)
 

Ingwer

Mitglied
Hallo Ihr beiden,

erstmal vielen Dank für Eure Anmerkungen.
Zefira, Du hast recht, es soll ein "lässig geschlungener" Knoten sein. Werde ich gleich sofort ändern.
Gabriel; "dunkelweiß" ist sicherlich eine ähnliche Farbe wie "hellgrau". Aber atmosphärisch gefällt es mir besser.
Bei "mustert es entweder aus oder schickt es aufs Schlachtfeld" hast Du recht. Das ist vielleicht ein wenig schwierig zu verstehen. Ich werde noch ein "es" hinzufügen.
Und natürlich Danke für das Lob :)

Viele Grüße
Ingwer
 
R

Rote Socke

Gast
Ohne Holperstein in einem Rutsch gelesen! Und gern gelesen!



Gruss
Socke
 

Zefira

Mitglied
Rhöner Literaturwerkstatt, Biergarten

16. 5 2003 in der Rhöner Literaturwerkstatt: die Belegschaft schwärmt aus in den Mai, die Sonne scheint, Arbeitsauftrag: „irgendwas zum Thema Grün“. – „Aber bitte nicht in jedem Satz dreimal das Wort grün verwenden!“ ruft uns der Werkstattleiter noch besorgt nach.

Wir teilen uns auf, ein paar gehen zu Fuß, in den Wald oder auf den nahegelegenen Friedhof; ein Teil verdrückt sich ins Auto, um den nächsten Biergarten anzusteuern. Wenig später, im Gartenrerstaurant Fohlenweide: eine Stunde haben wir Zeit. Zu viert sitzen wir um den Tisch, albern herum, treiben Brainstorming; natürlich verbietet es die Ehre, eine Ode an den Mai oder Blümchenpflückerlyrik zu schreiben, es muß was Ausgefallenes her. Ausgefallen und grün. Die Kellerin kommt, mit einer großen grünen Schürze. Wir bestellen drei Berliner Weiße mit Waldmeisterschuß, nur Günther mag das Zeug nicht, er wünscht einen Kaffee, „aber bitte einen grünen“. Katharina fragt, ob nicht was Verschimmeltes in der Küche läge, das dürfe dann auch gleich mitgebracht werden. Ich verlange nach einem Kellner mit grünen Haaren.

Endlich wird das Bestellte gebracht, grünes Bier und Günthers Kaffee. Mittlerweile drängt die Zeit. Jeder nimmt seinen Schreibblock und sein Getränk und verzieht sich an einen freien Tisch; rasches Arbeiten erfordert Ellbogenfreiheit. Grüne Haare – mir ist kürzlich ein vergessenes Pizzastück im Backofen vergammelt – wie konnte das passieren? Ich war abgelenkt. Vier Tage lang. Ja, aber wodurch? Warum habe ich vier Tage lang den Backofen nicht aufgemacht? Zu viel grüner Veltliner vermutlich. Jeden Abend. Oder Waldmeisterbowle. Kleine grüne Männchen … Alle krakeln jetzt wie wild; Katharina produziert nun doch ein Stück Prosalyrik über grünende Hoffnung, Günther zeichnet die Buchsbaumhecke, Michaela dichtet über Berlin und Bier, ich beginne eine brandheiße Story über grüne Haare. Das Bierglas leert sich. Eine halbe Stunde haben wir noch Zeit, dann müssen wir zurück in die Werkstatt und das Geschriebene vorlesen, wenn wir es dann noch entziffern können. Die Kellnerin schenkt zum Abschied jedem einen Rührlöffel aus grünem Plastik.

:D :D Zefira, grün :D :D
 

Ingwer

Mitglied
Hallo Flammarion,

doch, es geht beides. Das Wohnzimmer ist eine Gaststätte in Berlin. Hat aber sehr viel von einem gemütlichen Zuhause. Da verschwimmen die Grenzen gern ein wenig ;-)

Viele Grüße
Ingwer
 

Ingwer

Mitglied
Hallo Kabelkolb,

Vielen lieben Dank für Dein Lob. Bin schon ganz rot und 10 Zentimeter gewachsen ;)

Also, als Nur-Semesterferien-Urlaubs-Berlinerin werde ich nun versuchen, Dir den Weg ins Wohnzimmer zu beschreiben.

Du fährst mit der Bahn bis zur Haltestelle "Eberswalder Straße und gehst an der linken Seite raus. Dann gehst Du am "Humana"-Laden vorbei in die Danziger Straße, dann die erste links in die Lychenerstraße, dann die zweite rechts in die Lette Straße. In dieser Straße ist ein Hostel (Lette'm Sleep). Daran gehst Du vorbei bis zur Ecke. Dort (auf der Ecke) befindet sich das Wohnzimmer.
Vielleicht gibt es kürzere Wege, aber ich kann nur diesen rekonstruieren, weil ich in eben diesem Hostel ein paar Tage gewohnt habe.
Und natürlich: Mein Text ist nicht hundertprozentig ernstzunehmen. Natürlich sitzen dort nicht zu allen Zeiten nur Schreiberlinge. Also nicht enttäuscht sein...
Aber es wäre der richtige Ort dafür. Schau's Dir einfach an und erzähl' mal, wie es Dir gefallen hat. :)

Viele Grüße
Ingwer
 

Kabelkolb

Mitglied
Danke.

Ds gisbt doch nicht: Nur zwei Minuten weg von hier und hab davon noch nie was gehört. Danke, ich schau mir das mal an.

Pfirty, und viel Spass noch...

Der Kabelkolb!!!
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
also

ich krieg mich ja überhaupt nicht wieder ein! lettestraße, die überquere ich fast täglich! allerding nicht an DER ecke. das von dir beschriebene cafe ist neu und hat kein großes schild, daher mir noch nicht aufgefallen. ich bin heute vormittag hingetigert und hab mal reingeschaut. da saß ein mensch und las, aber es gab einen geräumigen nebenraum, toll, die unterschiedlichen tische und stühle!
heute war eine sehr junge frau am ausschank, die mir auch nicht eine frage in bezug auf das etablissement beantworten konnte. draußen waren auch etliche tische aufgebaut, alle voll besetzt. ja, jetzt verstehe ich deine geschichte und sie gefällt mir. und wenn du noch mal nach berlin kommst, dann kommste mich besuchen, ich wohne da um die ecke.
ganz lieb grüßt
 



 
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