Berlin, abends, Großer Saal

Carlo Ihde

Mitglied
Gestern abend, Berlin, große Glasfronten, Holzinventar, Waschbeton, und auffallend und erschreckend viele gut gekleidete Leute. Die Kulturelite präsentierte sich bei der deutschen Erstaufführung von Steve Reichs "Double Sextett".

Im Foyer starrte ich etwas überfordert und überreizt auf den Schiefer-Fußboden, dann wieder auf die Leute, viele Frauen mittleren Alters mit mittelkurzen, grauen Haaren und auf "Ethno" gemachten Klamotten.

Viel englischsprachiges Publikum, denen sich der Humor in der genuin angloamerikanischen Musik genauso erschloss, wie ich hoffte und merkte, dass er sich mir erschloss.

Aber so viele Menschen, gekleidet in ihre Entwürfe falscher Genüsslichkeit, so viel Kulturhohn und sachlich rationalistische Exklusivität.

Ich betrank mich, im Foyer der Berliner Festspiele, rauchte mir draußen in der Pause "die da drinnen" weg, so als gäbe es nichts, was an menschlich Überkommenem sich jemals so leicht wegrauchen ließ.

Die Musik rettete mich vor den anderen Zuhörern und brachte mich nach Hause.
 

Carlo Ihde

Mitglied
Man täte merken, wie man über andere nachdenken tut. Man würde andere suchen, die man für wert hält, bedacht zu werden.
Ich schämte mich auch ein bisschen, mich dort wohl gefühlt zu haben, denn eigentlich atmete das dort einen ganz weltoffenen Geist, den ich mag. Ich weiß nicht, warst du schon mal im Haus der Berliner Festspiele? Ich bin ja anfällig für so eine Architektur, und frag mich dann immer, warum da solche Menschen rumlaufen. Inklusive meiner, geb ich ja zu, aber hey, es war Freitag abend und ich hatte mich so darauf gefreut. Aber mir wurde die gute alte Kritik von Horkheimer wieder bewusst: die Menschen gleichen sich gemäß ihres Einkommensstandes. Auch die intellektuelle Kulturelite. Sehen alle gleich aus, diese betont kulturellen Übermenschen. Das, was sie sich leisten können, ist das, was sie sich vermeintlicher Weise leisten wollen. Individuell ist da keiner. Aber alle fühlen sich so. Geht schon rein logisch gar nicht: nicht so wie alle sein zu wollen, aber allein in diesem Wollen schon genauso zu sein wie alle.

Soll'n se'doch alle, wenn'se mein'n. Ick war ja wegen de Musike da, nich wegen de Loite.
 
H

Heidrun D.

Gast
Nötigung
Die Musik rettete mich vor den anderen Zuhörern und brachte mich nach Hause.
Eben.
Darum sollst du jetzt endlich einmal etwas Neues einstellen! Und zwar bei uns.

Spornende Grüße
Heidrun

Wer Herrn Carlo noch nicht kennt, der möge sein "gereimtes Gedicht für verkrampfte Zeitgenossen" inhalieren (Diskussionsforum Archiv) mit all seinen herrlichen Kommentaren.
Mir ist deswegen gestern ganz wehmütig ums Herz geworden, weil dieser Beitrag eine so kurzweilige Forenzeit widerspiegelt, voller Esprit und eleganten (!) kleinen Florettstichen ...

Ob es wohl noch einmal sooo schön werden wird? *seufz)
 

Carlo Ihde

Mitglied
Nochmal deinen Kommentar gelesen liebe Heidrun. Aber die guten alten Zeiten kann auch ich nicht zurück bringen, die müssen schon irgendwie von alleine kommen, oder für immer wegbleiben. Wahrscheinlich geht es nicht anders.

:(
 

Der Andere

Mitglied
ich hasse diese veranstaltungen. aber es stimmt schon: was täten wir ohne diese menschen. sie sind diejenigen, die etwas am leben halten. keine ahnung, was.

alte zeiten, alte weiten, alte heiterkeiten: dieses forum hier wird immer spielplatz bleiben. auf allen ebdeutungsebenen. manche werden das interesse aran verlieren und gehen, andere werden bleiben. wobei ich im moment auch das gefühl habe, dass sich viel qualität verloren hat... aber das ist nicht weiter schlimm. insofern man kontakt hält zu denen, die man schätzen gelernt hat...
 



 
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