Berliner Schlüsselerlebnis

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Der Bus 128 in Berlin verbindet den Flughafen Tegel mit drei von Nord nach Süd verlaufenden U-Bahnstrecken. So ist er einmal wichtiges Transportmittel für Fluggäste, zum anderen normale Stadtbuslinie quer durch ausgedehnte Wohnviertel des Nordens. Das ergibt eine recht bunte Mischung des fahrenden Publikums. Die gerade erst gelandeten Passagiere zeichnen sich häufig durch sehr gehobene Stimmung aus, während in der Gegenrichtung den Abreisenden oft die Sorge ins Gesicht geschrieben steht, ob sie noch rechtzeitig zum Abflug kommen. Unter die Euphorisierten wie unter die gestressten Pressierten mischt sich jeweils die Berliner Normalbevölkerung, unaufgeregt alltäglichen Dingen nachgehend. Und dann gibt es unter den Einheimischen noch gewisse Exoten …

Heute sitzt da ein dicker Mann mittleren Alters gleich neben der Eingangstür, allen Einsteigenden den Durchgang mit mächtig vorgestrecktem Knie halb versperrend, in sehr angeregtem Gespräch mit dem Busfahrer, auf den er heftig gestikulierend lautstark einredet. Hat man das Hindernis umgangen und weiter hinten Platz genommen, stellt man verwundert fest: Der Fahrer fährt nur, gibt nie Antwort, beachtet die geräuschvolle Suada gar nicht. Den Dicken stört das nicht im Mindesten, er palavert immer weiter. Er verkörpert den Typ Alleinunterhalter im höchsten, reinsten Grade - indem er fortgesetzt schnattert, unterhält er nur sich selbst. Was er erregt und dabei stark nuschelnd vorzubringen hat, versteht man hinter ihm nicht. Und es erregt bei den Mitfahrenden auch weiter kein Interesse.

Ein hübscher Kontrast: Gleich hinter dem Dicken sitzt ein Tourist mit Koffer neben sich und einem Faltblatt in der Hand, das man ihm am Flughafen gegeben hat: das metropolitane Schnellbahnnetz. Der Mann ist in den Dreißigern, gut, doch nicht auffallend gekleidet, dem Anschein nach ein gehobener Mittelschichtler, deutlich dem mediterranen Typ angehörend. Er kann aus Mailand oder Barcelona sein. Oder aus Buenos Aires. Er schaut ruhig durchs Fenster, sieht die Straßen, die Wohnblocks, das viele Grün vorbeiziehen.

Jetzt sind wir da, wo alles nach Schweizer Orten benannt ist, und zwar nach berühmten: Aroser Allee, Vierwaldstätter Weg, Grindelwaldweg … Die Haltestelle Brienzer Straße naht, und der Dicke erhebt sich, einen noch halb gefüllten Pappbecher mit Kaffee in der Hand. Er schwankt zum Ausgang, kehrt noch mal um und steigt doch vorn aus. Als er sich durch die Hineindrängenden schiebt, hat er auf einmal den Becher zwischen den Lippen. So trägt er ihn, wie ein Hund einen Stock oder die Zeitung, zwei Meter weiter, auf die Grünfläche gleich an der Haltestelle zu, schon vorne an sich nestelnd. Dann fällt die Hose, rutscht fast bis zu den Knien. Von einem Slip ist nichts zu sehen, nur viel nackte, weiße Haut. Er füllt nun, seine Blase erleichternd, genau das Blickfeld des fremden Südländers aus, halb Manneken Pis, halb Kröver Nacktarsch.

Sehn Se, dit is Berlin … Und keiner verliert die Ruhe.
 
B

bendemann

Gast
hallo,
was ich an diesem text schätze ist seine ruhige beobachtung der szene. allerdings kam mir die idee, dass womöglich einige erzählerkommentare eingespart werden könnten:

auf den er heftig gestikulierend lautstark einredet
(hier würde ich entscheiden zwischen lautstark oder heftig gestikulierend

Der Fahrer [strike]fährt nur, gibt nie Antwort, [/strike]beachtet die geräuschvolle Suada gar nicht
(hier würde ich "fährt nur, gibt nie Antwort" streichen - nicht beachten impliziert ja, dass er keine Antwort gibt, und dass ein fahrer fährt ist auch wenig überraschend)

[strike]
er palavert immer weiter
[/strike] (streichen)

im höchsten, [strike]reinsten[/strike] Grade
(da wusste ich nicht genau, was du mit reinstem grad" meinst.)

[strike]Ein hübscher Kontrast:[/strike]
(streichen - das ist meiner meinung nach ein unnötiger kommentar des erzählers, zumal ein wertender. der kontrast wird ja ohnehin klar und ob er hübsch ist, kann ja der leser selbst entscheiden)

Oder aus Buenos Aires
(das mag vielleicht übertrieben sein, aber ich bin dabei mit dem "meditteranen Typ" kollidiert)

liebe grüße,
costja
 
Geschätzter Kollege Bendemann,

vielen Dank für deine Verbesserungsvorschläge. Sie leuchten mir für sich genommen zum guten Teil ein, aber ich möchte ihnen dennoch ungern folgen. Das Streichen oder Abmildern, worauf sie hinauslaufen, würde dem Text eine objektivere, korrektere Tendenz geben - und genau die hatte ich nicht im Sinn. Er sollte sich vielmehr an die Art anlehnen, in der man ein solches Erlebnis bald darauf mündlich wiedergibt, also leicht übertreibend und ein wenig flapsig. Gerade der "Erzählkommentar" war mir hier wichtig, als Protest gegen diese fatale "Und keiner verliert die Ruhe"-Mentalität. (Die letzte Zeile ist ja ein bekanntes Zitat.)

Nur noch zum Punkt Buenos Aires: Die Haupteinwanderung nach Argentinien kam aus Spanien und Italien.

Freundlichen Gruß
Arno Abendschön
 

Asfariel

Mitglied
Du nennst eine hervorragende Art des Erzählens dein Eigen. Das Ende hat mich als Nichtberliner zuerst ganz schön erwischt, dann zum Lächeln gebracht. :D

Sehr gern gelesen, danke.
 
Der Bus 128 in Berlin verbindet den Flughafen Tegel mit drei von Nord nach Süd verlaufenden U-Bahnstrecken. So ist er einmal wichtiges Transportmittel für Fluggäste, zum anderen normale Stadtbuslinie quer durch ausgedehnte Wohnviertel des Nordens. Das ergibt eine recht bunte Mischung des fahrenden Publikums. Die gerade erst gelandeten Passagiere zeichnen sich häufig durch sehr gehobene Stimmung aus, während in der Gegenrichtung den Abreisenden oft die Sorge ins Gesicht geschrieben steht, ob sie noch rechtzeitig zum Abflug kommen. Unter die Euphorisierten wie unter die gestressten Pressierten mischt sich jeweils die Berliner Normalbevölkerung, unaufgeregt alltäglichen Dingen nachgehend. Und dann gibt es unter den Einheimischen noch gewisse Exoten …

Heute sitzt da ein dicker Mann mittleren Alters gleich neben der Eingangstür, allen Einsteigenden den Durchgang mit mächtig vorgestrecktem Knie halb versperrend, in sehr angeregtem Gespräch mit dem Busfahrer, auf den er heftig gestikulierend lautstark einredet. Hat man das Hindernis umgangen und weiter hinten Platz genommen, stellt man verwundert fest: Der Fahrer fährt nur, gibt nie Antwort, beachtet die geräuschvolle Suada gar nicht. Den Dicken stört das nicht im Mindesten, er palavert immer weiter. Er verkörpert den Typ Alleinunterhalter im höchsten, reinsten Grade - indem er fortgesetzt trompetet, unterhält er nur sich selbst. Was er erregt und dabei stark nuschelnd vorzubringen hat, versteht man hinter ihm nicht. Und es erregt bei den Mitfahrenden auch weiter kein Interesse.

Ein hübscher Kontrast: Gleich hinter dem Dicken sitzt ein Tourist mit Koffer neben sich und einem Faltblatt in der Hand, das man ihm am Flughafen gegeben hat: das metropolitane Schnellbahnnetz. Der Mann ist in den Dreißigern, gut, doch nicht auffallend gekleidet, dem Anschein nach ein gehobener Mittelschichtler, deutlich dem mediterranen Typ angehörend. Er kann aus Mailand oder Barcelona sein. Oder aus Buenos Aires. Er schaut ruhig durchs Fenster, sieht die Straßen, die Wohnblocks, das viele Grün vorbeiziehen.

Jetzt sind wir da, wo alles nach Schweizer Orten benannt ist, und zwar nach berühmten: Aroser Allee, Vierwaldstätter Weg, Grindelwaldweg … Die Haltestelle Brienzer Straße naht, und der Dicke erhebt sich, einen noch halb gefüllten Pappbecher mit Kaffee in der Hand. Er schwankt zum Ausgang, kehrt noch mal um und steigt doch vorn aus. Als er sich durch die Hineindrängenden schiebt, hat er auf einmal den Becher zwischen den Lippen. So trägt er ihn, wie ein Hund einen Stock oder die Zeitung, zwei Meter weiter, auf die Grünfläche gleich an der Haltestelle zu, schon vorne an sich nestelnd. Dann fällt die Hose, rutscht fast bis zu den Knien. Von einem Slip ist nichts zu sehen, nur viel nackte, weiße Haut. Er füllt nun, seine Blase erleichternd, genau das Blickfeld des fremden Südländers aus, halb Manneken Pis, halb Kröver Nacktarsch.

Sehn Se, dit is Berlin … Und keiner verliert die Ruhe.
 



 
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