Bernhard und der Blinde

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Bernhard und der Blinde



Bernhard ließ den Kopf erschöpft nach vorn fallen, ließ den Blick über die dunklen Bäume auf der anderen Straßenseite schweifen. Behäbig wiegten sie sich in einer eisigen, sanften Böe. Nur ein leises, durchdringendes Rascheln war zu hören, bis ein Auto die Stille durchbrach und an ihm vorbeirauschte. Ein Blick auf sein Handy verriet ihm, dass es in Kürze fünf Uhr und der Akku bald leer sein würde. Mit einem erschöpften, aber zufriedenen lächeln, schob er es wieder in die Tasche und drückte sich an der Laterne hoch, an der er sich anlehnte. Es war nicht mehr weit, sagte er sich und sah in der Ferne eine Ortschaft, die durch schwach schimmernde Lichter auf sich aufmerksam machte. Schritt für Schritt, schleppte er sich durch die nächtliche Stille, um irgendwann ein Ziel zu erreichen, von dem er nicht einmal wusste, wo es sich befand. War es wirklich nur der Weg durch die Nacht, oder den Tag, das sinnlose Umherstreifen im Nirgendwo, was ihn davor abhielt nach Hause zu gehen? Er wusste es nicht.

Eine gemütliche Sitzgelegenheit auf einer Bank

Die Schuhe waren nicht mehr die besten. Der rechte war auf jeden Fall schwer herunter gewirtschaftet worden und es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis der große Zeh an die frische Luft kommen würde. Die Naht verabschiedete sich allmählich, so dass die abgenutzte Sohle wahrscheinlich irgendwann auf der Strecke bleiben würde. Beim linken, war es seltsamer Weise nicht so tragisch, auch wenn dieser seine besten Tage schon lange hinter sich hatte. Ob es wohl daran lag, dass Bernhard Rechtsfüßer war? Er war auf jeden Fall Rechtshänder und da lag es ja nahe, dass das für die Füße auch zutrifft. Oder wurde der linke Schuh von jemand anderem gefertigt, als der Rechte? Wobei sich diese Frage erübrigte, denn sie wurden in Vietnam hergestellt und dort womöglich von Kinderhänden. Die nächsten Schuhe, da war er sich gewiss, würde er einem heimischen Fachbetrieb abkaufen. Andererseits, so stellte er fest, sind doch die Leute aus solch armen Ländern, auf den Export ihrer Wahren angewiesen! Nach einiger Zeit des Laufens jedoch, interessierte er sich nur noch für eine Sache, wodurch das Problem mit der Fußbekleidung in den Hintergrund rückte.
Er war nun schon wieder ein gutes Stück auf den Beinen, als er die Bank sah, auf der er sich niederlassen, und mit seinem Projekt weiter machen konnte.
Als er vor ihr stand, atmete er tief durch und setzte sich. Das Holz war noch leicht feucht vom morgendlichen Tau, was ihn aber reichlich wenig störte. Er lehnte sich zurück, ließ die Arme über die Lehne hängen und legte sein rechtes Bein über sein linkes. Der Himmel war blau und kristallklar, nur ein paar kleine und unbedeutende Wolken, zogen ihre Bahnen.
Frohen Mutes blicke er nach vorn und entspannte sich, während er die Leute beobachtete, die an ihm vorbei kamen. Eine sportliche Joggerin, sprang den kleinen Feldweg entlang, als wäre der Leibhaftige hinter ihr her, indessen schlenderte ein älteres Paar gemütlich umher. Ein Radler überholte sie, ihnen entgegen kam eine stolze Mutter mit ihrem Kinderwagen.
Das war es! Das war der Ort, an dem er sein Buch weiter lesen konnte. Ungestört. Er griff in seine schwarze Handtasche, die er keines Wegs als lächerlich fand, sondern viel mehr als Bereicherung sah.
Seite 162:

„Meinen sie wirklich, ich rufe sie wegen irgend einem Blödsinn an?“ Calvin war außer sich vor Zorn und trank sein Glas leer. Der Whiskey brannte im Rachen.
„Hören sie zu Mr. Thompson, wenn sie die wollen, die sie suchen, dann wäre es doch nur klug, wenn sie persönlich vorbei kämen!“ Er konnte es nicht fassen! Er hätte vor Wut das Telefon an eine Wand werfen können. Doch es half nichts, er sammelte sich noch einmal zur Gänze und versuchte sich zu beruhigen.
„Noch einmal von vorn...“, sagte er, so förmlich, wie es ihm möglich war, „...es ist sehr wichtig, nicht nur für mich, sondern auch für sie und jeden verdammten Amerikaner, dass sie mir sagen wo man diese Frau zu Letzt gesehen hat.......

Bernhard schreckte auf, ein Mann setzte sich rechts neben ihn. Kein Hallo, nichts. Er machte sich einfach dort breit und störte seine Kreise. Er hatte eine Sonnenbrille auf der Nase, einen dichten Bart im Gesicht und einen Schwarzen Mantel an, aus dem er eine Pfeife zog.
„Guten Tag“, sagte Bernhard. Der Mann drehte seinen Kopf leicht nach links, schaute ihn aber nicht an.
„Tag“, sagte er regungslos und stopfte ordentlich Tabak in seine Pfeife, welcher recht angenehm roch. Aber gut, davon wollte Bernhard sich nicht ablenken lassen.

„...dass sie mir sagen wo man diese Frau zuletzt gesehen hat und ob sie ein Mädchen dabei hatte?“
Calvin presste angespannt das Feuer aus seinen Lungen.
„Verzeihen sie Mister, ich kann ihnen dazu keine Angaben machen! Ich werde sie nun weiter leiten an meinen Chef.“ Er konnte es nicht fassen! Sie hatte ihn abgewimmelt! Ihrem Vorgesetzten, würde er nun auf den Schlips treten.
„Mr. Calvin“, hörte er eine deutliche, aber rauschende Stimme sagen, „sie hören mir jetzt genau zu...

Bernhard hörte die stolze Mutter fluchen, und schreckte auf. Ein Radler wäre fast mit ihr zusammen gestoßen, worauf sie ihn ausdrücklich maßregelte.
„Passen sie doch auf!“
„Tut mir leid“, meint der auf dem Fahrrad.
„Ja ja, Augen geradeaus.“
Bernhard kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Das war knapp!“ Der Mann neben ihm blickte jedoch stur gerade aus und genoss seine Pfeife, ohne dem Geschehen etwas hinzu zu fügen.
„Was war knapp?“, fragte er Bernhard völlig kühl und unbeeindruckt.
„Der Fahrradfahrer wäre gerade fast mit der Frau zusammengestoßen!“. Bernhard musterte sein Nebenan, wie er da saß, völlig Teilnahmslos und unbeeindruckt. Immer wieder mal zog er an seiner Pfeife, wonach jedes mal eine dicke Rauchschwade über seinen Bart rollte. Es erinnerte ihn an einen Pyroklastischen Strom, wie er bei einem Vulkanausbruch vorkommt, nur eben nach oben, statt nach unten.
„Ach so, interessant.“ Es interessierte ihn nicht wirklich was um ihn herum passierte.
„Ist ja nichts passiert! Es scheint dich ja auch nicht zu interessieren!“ Der Mann lehnte sich zurück und seufzte:
„Findest du?“
„Du hast ja nicht mal hingeschaut“, sagte Bernhard.
„Und? Sollte ich das?“ Bernhard schüttelte gelangweilt den Kopf und versuchte sich wieder seinem Buch zu widmen.
„Nein, war ja nicht so wichtig!“
Er konnte sich nicht wirklich auf das geschriebene konzentrieren und langte in seine Männerhandtasche um ihr eine Schachtel Kippen zu entnehmen. Ein fauliges Gebiss mit schwarzen und gelben Zähnen blickte ihm darauf entgegen, was ihn eigentlich am Konsum hindern sollte. Als er sie öffnete, erfasste ihn ein Schreck!
„Ach du Scheiße!“, murmelte er in sich hinein.
„Was ist passiert? Hat ein Hund sein Herrchen angefallen und ihm die Kehle durchgebissen, oder hat ein Vogel einem Glatzkopf auf den Kopf geschissen? Was hab ich verpasst?“ Bernhard sah traurig den begrenzten Inhalt seiner Packung an.
„Nein, ich hab nur noch vier Zigaretten!“
„Oh mein Gott, das ist ja schrecklich!“ Bernhard widmete ihm ein einen fragenden Blick! Er schaute immer gelangweilt und stoisch nach vorn. Das einzige was ihn zu interessieren schien, war, in regelmäßigen Abständen an seiner Pfeife zu ziehen.
„Darf ich dich was fragen?“ Bernhard konnte nicht anders und musste seinem Verdacht Bestätigung verleihen.
„Abgesehen davon, dass du mich eigentlich gerade etwas fragst, ja, du darfst!“
„Bist du eigentlich Blind?“ Wieder kam keine Regung von dem Mann.
„Wie kommst du darauf? Weil ich kein Voyeur bin, der das Leid seiner Mitmenschen nicht zum
lachen findet? Aus diesem Grund?“ Bernhard steckte die Zigarette in den Mund, zündete sie an, inhalierte tief und ließ den Rauch langsam aus seiner Nase entweichen.
„Nein Mann! Ich bin doch kein Voyeur! Natürlich habe ich gelacht, aber es ist ja auch nichts passiert. Gott sei Dank!“ Er zog erneut, musste leicht husten.
„Ich wollte niemanden auslachen, mich am Leid anderer erfreuen, oder was. Das war kein Lachen aus Freude, eher aus entsetzen. Es liegt mir fern, mich über die Probleme anderer lustig zu machen.“ Der Mann leerte die Asche aus seiner Pfeife und ließ sie in seiner Jackentasche verschwinden.
„Schon gut, ich glaube dir, alles wird gut. Beruhige dich!“ Er lehnte sich nach vorn und putzte sich lautstark, mit einem gut gebrauchten, braunen Taschentuch die Nase. Als er das gelbe, schleimige Sekret zu allen Teilen heraus geschnäuzt hatte, steckte er es wieder ein und lehnte sich zurück.
„Und?“, fragte Bernhard nachdrücklich.
„Was und?“
„Und? Bist du nun blind?“ Erst machte er eine gekünstelte Pause und verschränkte die Armee, doch dann beantwortete er ihm die Frage:
„Ja.“
„Ich wusste es!“ Bernhard hatte es geahnt.
„Wie das? Bist du Hellseher?“
„Ihre Sonnenbrille, ihr unbekümmerter Blick nach vorn, ihr Stock. Sie haben nicht mal gezuckt, als der Idiot fast einen Unfall verursachte.“ Bernhard legte sein Buch zur Seite, als er sich zu ihm drehte.
„Ich seh schon, dir kann man nichts vor machen!
„Ich bin vielleicht nicht der hellste Stern am Firmament, aber...“
„Ah welch gewählte Sprache!“
„In der Tat! Kann ich dich noch etwas fragen?“ Der Mann machte eine kurze Pause, wie er es scheinbar gerne tat.
„Nein.“ Mehr sagte er nicht.
„Was?“
„Ich sagte nein!“
„Okay...“ Mit gewisser Enttäuschung widmete sich Bernhard wieder seiner Sucht und versuchte in seinem Buch weiter zu lesen:

„Mr. Calvin“, hörte er eine deutliche, aber rauschende Stimme sagen, „sie hören mir jetzt genau zu...“
„Nein“, unter brach er ihn, „sie hören mir jetzt zu, und der Name ist Mr. Thompson...“ Das Freizeichen erklang, er hatte ihn aus der Leitung geworfen. Wütend hing er das Telefon in die Gabel und ging zurück an den Küchentisch, um sein Glas wieder auf zu füllen. Etwas stimmte hier nicht und das war auch das einzige, was er wusste...

„Junge, ich hab dich nur verarscht!“ Bernhard kam wieder zurück aus der Bücherwelt und glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Er hatte ihn nur verarscht?
„Was? Du mieses Arschloch, das gibt’s doch wohl nicht! Das ist doch wohl die beschissenste Art überhaupt!“ Der Mann wurde nun auch ein wenig lauter.
„Beruhige dich, okay!“
„Ich soll mich beruhigen? Du tust so als wärst du blind? Und was kommt als nächstes? Hast du dir schon mal Gedanken gemacht, wie das wohl für jemanden ist, der wirklich nicht sehen kann?“
„Hey Joe, where your´re going with that gun of yours!“
„Was zur Hölle?“
„Ich bin blind! Ich bin wirklich blind, okay? Ich kann nichts sehen, der hellste Tag ist für mich, wie die dunkelste Dunkelheit für dich!“ Bernhard kniff die Augen angestrengt zusammen.
„Wie?“
„Ja mein Freund, ich bin blind!“ Er buchstabierte es ihm, ließ ihm dann aber Raum zum Nachdenken.
„Oh!“ Er war für kurze Zeit sprachlos.
„Tut mir leid, ich...“
„Bleib locker! Ich meinte nur, dass du deine beschissen Frage stellen kannst!“, sagte der er und wollte damit die Spannung etwas lösen. Peinlich berührt legte Bernhard sich die Hand auf die Stirn.
„Ach das meintest du.“
„Wie war das noch mit dem Stern am Himmel?“
„Am Firmament.“
„Egal, was wolltest du wissen? Ich schenke dir mein Gehör, das funktioniert noch ziemlich gut.“
Nach einer kurzen Besinnungspause versuchte er seine Frage zu stellen:
„Ich glaub, ich hab den Faden verloren! Warum hast du denn keine Binde um den Arm? Die mit den drei Punkten?“ Der Mann kratzte sich an seinem krausen Bart und wirkte genervt, was Bernhard wieder unangenehm war.
„Warum? Das ich für meine Mitmenschen gekennzeichnet bin und sie mich gezielt umgehen können, damit ich sie nicht aus versehen anremple?“ Gelang weilt aber hart waren seine Worte.
Bernhard hielt beschwichtigend die die Hände hoch.
„Nein! Es würde doch nur deiner Sicherheit dienen, damit du unbeschadet umher laufen kannst!“
„Umher laufen? Das klingt als hätte ich sonst nichts zu tun und würde den anderen nur im Weg umgehen Als ob ich traurig am Straßenrand stehe und darauf warte, dass mich ein couragierter Mensch am Arm nimmt und auf die andere Seite bringt.“ Er schüttelte den Kopf und spuckte aus. Ein grüner, dickflüssiger Schleimbatzen klatschte gut hörbar auf den Weg und es schien, als könnte jemand darauf ausrutschen und sich beim Aufprall das Genick brechen. Er holte weiter aus.
„Vor so einem Fahrradfahrer, hätte mich eine Binde auch nicht geschützt!“ Bernhard ließ den Kopf hängen.
„Klar, aber hättest du einen Blindenhund, dann hätte er dich mit seinem Bellen auf die drohende Gefahr aufmerksam gemacht!“ Er zog fest an seiner Zigarette.
„Bist du verrückt? Ich hasse diese dreckigen Köter! Und abgesehen davon, wäre er dem Radler an die Kehle gefallen und hätte ihn zerfleischt!“
„Hast du deine Blindheit einem Hund zu verdanken? Das wäre ja schrecklich!“ Bernhard war ehrlich berührt, was seinen Banknachbarn nur leidlich interessierte.
„Guter Gott nein! Ich hätte niemals so ein floh-verseuchtes Vieh auch nur in meine Nähe gelassen!“
„Okay, du brauchst so etwas einfach nicht.“
„Ganz genau“, viel er ihm harsch ins Wort, „ich brauche und mag es nicht!“
„Aber gut ist, dass du eine Brille trägst! Heute ist es zwar nicht so grell, dass ich eine tragen würde...“
„Was soll denn das jetzt? Glaubst du dass mich Mode in irgend einer Weise interessiert?“Er musterte den Blinden und stellte fest, dass er das auf jeden Fall ernst meinte. Sein Auftreten, hatte auf jeden Fall nichts mit Karl Lagerfeld, oder David Beckham gemein. Weder der Bundeswehrparka noch seine ein-schichte Jeans, oder sein ungepflegter Bart.
„Ich kann mich ja nicht mal im Spiegel betrachten! Ich habe sie vielmehr an, da mir gesagt wurde, dass mein Blick, gelinde gesagt, ziemlich schräg sei!“
„Haben dich eigentlich schon viele auf deine Behinderung angesprochen?“ Dem Mann schien allmählich der Kragen zu platzen.
„Du weist nicht wann Schluss ist, oder? Meine Behinderung? Sabbere ich etwa und schlage mir stöhnend an den Kopf?“ Er machte es ihm vor, stand auf und schlug sich stöhnend und sabbernd an den Kopf. Zum besseren Verständnis, drehte er sich aufgeregt ihm Kreis und murmelte unverständliches. Als er seine Demonstration beendete, setzte er sich wieder und warf die Arme ruckartig nach oben.
„Scheiße ich etwa in meine Hosen und bewerfe andere damit? Mit meiner Scheiße?“ Bernhard biss beschämt die Zähne zusammen, schaute auf ihn und die fragenden Blicke der Passanten.
„Ist gut, dann nenne ich es eben Beeinträchtigung.“
„Ich bin blind, einfach nur blind!“ Bernhard warf seine Kippe, die schon bis zum Filter gebrannt war, weg und versuchte sich aus dem Gespräch zurückzuziehen.
„Okay, ich habe verstanden,“ sagte er geschlagen und versuchte weiter zu lesen:

Etwas stimmte hier nicht und das war auch das einzige, was er wusste. Er schaute die Bilder der Opfer durch, während er an seinem Feuerwasser nippte. Beim Anblick der...

Bernhard konnte sich nicht recht auf die Zeilen konzentrieren. Im Augenwinkel betrachtete er immer wieder diesen Menschen. Er stopfte sich erneut eine Pfeife, zündete sie an und paffte sie gemütlich. Wieder stieg ihm der süßliche Duft in die Nase.

Er schaute die Bilder der Opfer durch, während er an seinem Feuerwasser nippte. Beim Anblick der verstümmelten Leichen überkam ihn ein äußerst unangenehmes Gefühl, nicht nur die verstörende Wirkung der Bilder, sondern weil er sich beobachtet fühlte. Als säße jemand direkt hinter ihm...

„Scheiße, ich kann mich nicht konzentrieren“, rutschte es Bernhard heraus, während Pfeifenrauchschwaden zu ihm hinüber schwebten. Er blickt zum Verursacher hinüber und fragte ihn nach einer kurzen Bedenkzeit:
„Noch eins! Fragen dich eigentlich viele Leute, ob du blind bist?“ Langsam blies er den Rauch über seine Lippen, der zwischen Augen und Brille glitt und an den Haaren hängen blieb.
„Nein, eigentlich nicht! Um ehrlich zu sein, du bist bis jetzt der einzige, der es nicht auch so gemerkt hatte!“ Eine vierköpfige Familie, wie sie aus einem Bilderbuch stammen könnte, spazierte an den beiden vorbei. Bernhard blickte ihnen nach. Der kleine Junge, vielleicht fünf Jahre alt, rannte in blauer Latzhose und einem Lachen im Gesicht, das von roten Bäckchen geziert wurde, seiner etwas älteren Schwester davon, die ebenfalls freudigen Ausdrucks war. Die beiden Elternteile unterhielten sich ungezwungen, händchenhaltend und mit lockerem Gang. Nachdem er kurz abgeschweift war, blickte er auf den Boden und sammelte seine Gedanken. Weiterlesen würde ihm jetzt nicht mehr gelingen, da müsste er sich schon einen anderen Platz suchen. Dabei schien dieser hier doch so treffend! Hätte sich doch nicht dieser Maulwurf neben ihn gesetzt! Aber gehen wollte er noch nicht, zuerst musste er ihm noch eine Frage stellen, die ihn unter den Nägeln brannte. Wenn hätte er auch sonst die Möglichkeit dazu, er kannte ja schließlich keinen andern blinden. Er würde ihn jetzt fragen, auch wenn er seinen kompletten Zorn auf sich ziehen würde. Er räusperte sich.
„Und was noch?“, fragte ihn der Blinde gelangweilt.
„Ich habe nichts gesagt!“ Bernhard wehrte die Anschuldigungen mit den Händen ab. Der andere schwieg und trug einen erneuten Sieg davon. So ein Mist dachte er sich und rutschte unruhig auf der Bank hin und her.
„Was ist denn?“
„Nichts! Ich sage doch nichts!“
„Könntest du bitte ruhig sein, ich genieße meine Pfeife gerne in Ruhe!“
„Bist du eigentlich schon immer blind gewesen?“ Der Mann warf den Kopf mit Schwung in den Nacken:
„Ich wusste es! Musst du eigentlich alles wissen?“
„Das war nur eine Frage mehr nicht! Ich habe mir hier dieses Plätzchen ausgesucht um mein Buch in ruhe zu lesen, ich wusste ja nicht, dass du kommen würdest!“ Der Faden der Zurückhaltung, schien bei Bernhard nun gerissen zu sein, aber der Andere schoss schnell zurück.
„Und? Ist das deine Bank?“
„Ich war als erster hier!“
„Und jetzt gehört sie dir und alle müssen sich an deine Regeln halten? Ich komme jede Woche mindestens einmal hierher um meine Pfeife zu Rauchen, hörst du!“ Er wurde etwas lauter, und wieder blickten die umherwandernden Personen mit leichtem Entsetzen in Richtung der Bank, vereinzelt blieben sie auch stehen, nur um kurz darauf mit großen Augen weiter zu gehen.
„Mindestens einmal die Woche bin ich hier, wenn nicht zwei mal. Ich brauche das, okay! Ich brauche die Ruhe, ich brauche den Abstand von meiner Frau, ich brauche den Abstand von meiner kleinen, zickigen Tochter und ich brauche, verdammt noch mal Abstand von meiner absolut schrulligen und durchgedrehten Schwiegermutter! Jetzt komm mir nicht damit, dass du als erster hier warst! Wenn jemand Anspruch auf diese Bank hat, dann bin ich das! Und wenn du nicht damit klar kommst, dass ich meine Pfeife in Ruhe rauchen möchte und so meinen temporären Abstand zu meiner Familie zu zelebrieren, dann solltest du dir einfach eine andere Bank suchen!“
Bernhard zog sich resigniert in sich selbst zurück. Sein Blick legte sich auf den Namen Calvin Thompson in seinem Buch. Ohne auch nur eine einzige Silbe zu lesen starrte er Auf die Seiten und auf das Gedruckte. Es wäre auch zu schön gewesen, das wäre der Ort, davon war er überzeugt.
Er klappte das Buch zu und betrachtete das heruntergekommene Deckblatt, dessen Ecken abgerundet und zerfleddert, ebenso wie die Farben verblichen waren. Komplett blau, war die Rückseite, die Beschreibung des Buches selbst war Gelb. Nur ein großes, weißes Rechteck unten rechts, das den Strichcode und die Verlagsnummer wie ein schützendes Feld vereinnahmte, verunstaltete den Gesamteinruck.
Zwölf Mark und neunzig Pfenning, hatte es einst gekostet. Neunzehnhundertdreiundachzig. Wer es wohl seit seinem Erscheinen alles gelesen hatte? Wer hatte es wohl schon in den Händen gehalten, fragte er sich, und wer hatte es wirklich beendet, und nicht einfach in der Mitte, irgendwo aufgehört zu lesen?
„Ich bin nicht immer blind gewesen!“, sagte der Andere überraschend, doch Bernhard untersuchte weiterhin den Roman, nach Abnutzungsstellen und dachte weiter über die ehemaligen Besitzer nach. Kurze zeit später legte er es aber in seine Handtasche zurück und betrachtete sein Nebenan.
Er klopfte die Asche wie gewohnt aus seiner Tabakspfeife und schob sie in die Jackentasche.
„Wann war das?“, fragte er mit leiser Stimme.
„Ich war, glaub ich, sechs, oder sieben Jahre alt!“. Er klang ein wenig nachdenklich.
„Und wie ist es passiert?“ Er blickte den Mann, forschend, auf der suche nach einer Regung an. Doch der zuckte nur beiläufig mit den Schultern.
„Hm, wie ist das passiert?“
„Ja, wurdest du geblendet, oder war es eine Krankheit?“ Der Andere schien seine Gedanken zu sammeln.
„Eine Krankheit?“, fragte er Bernhard, als wäre es eine Nebensächlichkeit.
„Ja, oder war es ein Unfall?“
„Ein Unfall? Nein, ein Unfall war das nicht, glaube ich!“
„Bestimmt war es eine Krankheit! Man kann doch durch die Masern erblinden. Hattest du die Masern?“
Kopfschüttelnd schnaubte er:
„Schwachsinn, durch Masern wird man nicht blind, ich hatte auch nie die Masern und ich glaube nicht, dass ich mein Augenlicht durch eine Krankheit verloren habe. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht mehr, warum ich blind bin.“ Bernhard kam sich verarscht vor, so wie vorhin.
„Wie, du weist es nicht mehr, so etwas vergisst man doch nicht! Und du hast bestimmt schon mal gesehen?“ Mit Bestürzung versuchte er ihn davon zu überzeugen, dass er sich nicht mehr daran erinnern konnte.
„Ja, sag ich doch! Ich war sieben! Ich weiß nur nicht mehr warum!“
„Oder doch sechs? Also das gibt es doch nicht!“
„Was, glaubst du mir nicht?“Bernhard stützte sich angestrengt auf seinen Oberschenkeln ab, um das unfassbare zu ertragen. Der Typ hatte seiner Meinung nach ein gewaltiges Problem. War er überhaupt blind, oder führte er ihn tatsächlich an der Nase herum? Wie könnte jemand so ein einschneidendes Erlebnis vergessen? Leise richtete er sich aus seiner gekrümmten Haltung auf und hielt ihm die Hand, mit leichten Kreisbewegungen vor die schwarze Sonnenbrille, doch auch nach dem er sie zur Faust ballte und einen Schlag vortäuschte, kam keine Regung.
„Hey, bist du noch da?“
„Also ich bin der Meinung, so etwas kann man doch nicht vergessen und falls doch, dann fragt man doch nach. Ich würde auf jeden Fall wissen wollen, warum ich blind!“
„Woher willst du das wissen? Du kannst doch auch nicht von dir auf andere schießen, du kannst ja noch sehen. Es bringt mir auch nichts, wenn ich es weiß, denn die scheiße ist einfach die, dass ich dann immer noch blind bin.“ Fragezeichen schwirrten ziellos in Bernhards Kopf umher, aber er stellte fest, dass diese Diskussion niemals enden würde.
„Gut, du weist nicht mehr warum du blind bist, das habe ich richtig verstanden, du hast es einfach vergessen, so wie jemand nicht mehr weiß, wo er die Autoschlüssel, oder den Geldbeutel zuletzt hatte?“
„Ich hab es nie gewusst und es interessiert mich auch heute nicht, Punkt. Mir reicht der Fakt, dass ich nicht sehen kann und das nun schon seit fünfundzwanzig bekackten Jahren!“
„Das heißt“, sagte Bernhard verwundert und mit kurzer Rechenpause, „dann bist du erst einunddreißig?“
„Zweiunddreißig...“
„ Echt zweiunddreißig, du siehst viel jünger aus!“
„Danke, aber drauf geschissen. Ist ja nicht so, dass ich mich im Spiegel anschauen kann und meine langanhaltende Jugend bewundern kann!“ Da musste er ihm zustimmen. Er griff wieder in seine Herrenhandtasche, um sogleich wieder in den Rachen des von Verfall gekennzeichneten Mundes zu blicken.
„Okay, ich muss mir jetzt schnell meine vorvorletzte Kippe anstecken. Wie heißt du eigentlich?
Ich bin Bernhard, Bernhard Odenkirch“. Er entflammte den Glimmstängel am äußersten Ende, zog einmal und reichte ihm seine Hand, was er auf Grund eines gewissen Defizits nicht erwiderte.
„Bernhard Odenkirch?“
„Genau. Und du bist?“ Der Mann drehte den Kopf zu ihm.
„Du hast nicht zufällig etwas mit Robert Odenkirch zu tun? Voller Schmach, biss sich Bernhard auf die Unterlippe.
„Das ist mein Bruder!“, sagte er leise.
„Der, der für das fantastische Magazin Funtastico schreibt?“. Ja genau, dachte er sich, für das dämlichste Blatt, das zur Zeit gedruckt wird, angefüllt mit angeblichen Augenzeugen Berichten über die Beobachtung unbekannter Flugobjekte, oder besonderen Fabelwesen, wie dem Yeti, oder dem Bigfoot und seinem Lebensraum, in nordamerikanischen Nadelwäldern.
„Ja, genau der! Und dein Bruder ist?“
„Ich muss schon sagen, das ist doch ein sehr interessantes Blatt! Ich habe es abonniert!“ Bernhard war erstaunt, gab es doch jemanden, der diese Schriften nicht als kompletten Blödsinn abtat.
„Okay, wenn es dir gefällt, was die da schreiben...“
„Wenn es mir gefällt? Ich fiebere jetzt schon der nächsten Ausgabe entgegen. Schade eigentlich, dass es nur einmal im Quartal erscheint! Wenn du ihn das nächste mal siehst, kannst du dann einen Gruß von mir und meiner Tochter ausrichten, sie liest mir immer daraus vor. Wir sind wirklich riesige Fans!“
Wahrscheinlich auch die zwei einzigsten, dachte sich Bernhard.
„Falls ich ihn mal wieder sehe, dann mache ich das. Von wem soll ich ihn grüßen?“
„Kevin, mein Name ist Kevin und meine Tochter heißt Amalia!“ Bernhard musste sich beherrschen, um nicht in voller Lautstärke los zu lachen.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Kevin. Da brach es dann doch aus ihm heraus, er konnte sich nicht mehr zurück halten und begann voller Inbrunst zu lachen!
„Kevin? Du sagst dein Name ist Kevin? Tut mir leid, aber das gibt’s doch nicht!“ Kevin schüttelte bestürzt den Kopf und richtete seinen Blick wieder nach vorn aus.
„Ich kann nichts für meinen Namen, ich weiß wirklich nicht was daran lustig sein soll?“ Bernhard schaute ihn an, wie er so da saß, mit seiner grünen Jacke und seinem ungepflegten Bart, seiner Allerwelts-Jeans, in verwaschenem Königsblau, seine seltsam wirkenden Lederschuhe, die er, wären sie ein paar Nummern größer, einem Clown gestohlen haben könnte. Fritz wäre ein guter Name, oder Günther, aber Kevin? Hans, Martin, oder Michael, aber Kevin? Bernhard beruhigte sich allmählich.
„Schon okay, aber der Name passt einfach so gar nicht zu dir!“ Kevin verschränkte die Arm vor sich.
„Ach ja, zu wem passt den der Name Kevin?“ Bernhard nahm einen kräftigen Zug an seiner vorvorletzten Zigarette.
„Ich weiß nicht? Vielleicht zum Sänger einer Boygroup? Aber egal, wir wollen uns ja nicht an einem Namen aufhängen!“
„Sehe ich auch so!“ Beide ließen das geschehene erst einmal sacken und kehrten in sich zurück. Bernhard rauchte genüsslich fertig, während Kevin sichtlich beleidigt wirkte.
Das geschäftige Treiben der Spaziergänger wurde mit der Zeit immer mehr und auch der Amok-Radler fuhr noch einmal vorbei, den Bernhard mit einem bösen Blick abstrafte, was dieser aber nicht erwiderte.
„Was mich jetzt noch interessieren würde...“
„Das investigative Interesse, scheint wohl in eurer Familie zu liegen“, fuhr er ihm entgegen.
„Eigentlich nicht, ich bin nicht so der gesprächige Typ“, sagte Bernhard warf seine Kippe auf den Boden und drückte sie mit dem Fuß aus.
„Ach, findest du?“
„Was soll ich machen, du musst mir ja nicht antworten!“ Kevin winkte mit der Hand ab und gab ihm freies Geleit, seine nicht enden wollenden Fragen zu stellen.
„Nur zu, fahr fort, was willst du wissen?“
„Weist du noch wie Farben aussehen?“ Damit hatte Kevin nicht gerechnet, der sich zurücklehnte und sammelte.
„Ja, ich denke schon. Ich sehe dauernd irgend welche Farben, die in meinem geistigen Auge aufblitzen. Besonders intensiv ist es, wenn ich mich abends ins Bett lege und zur Ruhe komme, dann sehe ich alle möglichen Farben: Rot, Blau, Gelb, Grün, Rosa, Lila, Indigo, Magenta, Orange, Beige, Ocker, Braun. Ich weiß, dass Gras grün ist und der Himmel Blau, ich weiß nur nicht, ob du diese Farben genau so siehst.“ Bernhard war erstaunt, über die Redebereitschaft, dieses zuvor noch so garstigen Menschen.
„Da kann man nur mutmaßen. Aber du hast ja schon mal gesehen, da würde es mich interessieren, wie sehen dann für dich Gesichter aus? Ich meine, die von Fremden?“
„Ich habe die Gesichter meiner Eltern, oder meiner Schwester nach wie vor im Kopf und sobald ich ihre Stimmen höre, dann stell ich sie vor, wie sie heute aussehen. Bei fremden, sehe ich nur grobe Umrisse eines Gesichtes, das von einem Schatten bedeckt ist, sonst nichts!“
„Das ist echt heftig!“
„Ja, das kann man sagen, aber man gewöhnt sich daran!“ Bernhard schaute in den Himmel, sah ein paar Vögel umherfliegen und wurde nachdenklich.
„Ich weiß nicht, ob ich das könnte. Wenn ich mir vorstelle, nie wieder sehen zu können, da wird mir direkt übel! Und das liegt nicht daran, weil ich dann unser vortreffliches Fernsehprogramm nicht mehr verfolgen könnte, sondern eher, weil es doch irgendwie existenziell ist. Allein schon die Filme, die heute ins Kino kommen, hasst du schon mal gesehen, was heute für Effekte möglich sind?“ Plötzlich war Kevin sehr angespannt und fing an, hörbar mit den Zähnen zu knirschen.
„Könntest du bitte aufhören über Filme zu reden?“ Bernhard zuckte zusammen, er wollte ihn eigentlich nicht daran erinnern, was er alles verpasste.
„Oh, das tut mir leid, das wollte ich nicht!“
„Schon okay,“ Erneut kehrte die Stille zurück und legte sich über die Beiden. Kevin ergriff wieder einmal seine Pfeife und rauchte, während Bernhard das Treiben der Leute um sie herum mit ausdrucksleerem Blick verfolgte.
Eine junge attraktive Dame kam vorbeigelaufen, in die sich Bernhard blitzartig verliebte. Mit lüsternem Blick betrachtete er die holde Maid, wie sie grazil und anmutig an ihnen vorbei schritt. Dem vielsagenden Gesichtsausdruck, konnte sie nur mit einem kalten und bösen Blick entgegnen.
„Oh ja...“, sagte Bernhard.
„Was ist?“
„Schau dir die die an!“ Er blickte nach hinten über seine Schulter und folgte ihren Schritten.
„Was soll ich sagen, ich bin blind!“, sagte Kevin nüchtern und zog an seiner Pfeife.
„Entschuldigung ich habe es vergessen.“ Sein Blick haftete nach wie vor an der stolzen Schönheit.
„Du hast es vergessen? Was bist du? Ein Goldfisch?“
„Ich war abgelenkt! Ich hab einfach nicht daran gedacht!“
„Ich schon! Ich hab daran gedacht, kann es nicht vergessen! Ich erinnere mich jeden Tag daran, ich kann nicht vergessen, dass ich blind bin!“ Bernhard fragte sich, ob er nun zu weinen beginnen würde.
„Oh man, ich weiß und es tut mir leid, verdammt noch mal, ich bin so ein Idiot!“ Kevin stöhnte.
„Hör auf, sag mir wie sie aussah!“
„Du möchtest wissen wie sie aussah?“
„Ja, beschreibe sie mir, alle Details!“ Bernhard beugte sich nach vorn und stützte den Kopf mit beiden Händen ab.
„Okay, sie hatte wunderschöne braune Augen!“
„Oh ja...braun!“
„Ganz genau und ihre Haare waren schwarz wie Ebenholz!“ Genüsslich zählte er ihre Eigenschaften auf, während Kevins Mund sich immer weiter öffnete.
„Wie Ebenholz?“
„Genau wie Ebenholz!“, sagte Bernhard.
„Wunderbar!“
„In der Tat, und ihre Lippen waren rot!“
„Rot wie Blut?“
„Ja, rot wie Blut!“
„Wunderschön!“. Kevin seufzte.
„Und einen Arsch hatte die, ich sag es dir, der war so knackig!“
„Erzähl weiter!“
„Sie trug eine Bluse und eine enganliegende, dunkle Jeans!“
„Was hatte sie für Brüste?“
„Ihre Brüste? Weiß ich nicht, die habe ich wegen ihren Rehaugen nicht richtig sehen können. Das waren Augen, so schön. Jetzt, da ich sie gesehen habe, könnte ich auch blind sein.“
„Wie sah ihr Kopf aus?“ Kevin wollte tatsächlich viele Details wissen. Seine Neugier war geweckt.
„Ihr Kopf?“. Bernhard wusste nicht recht was er sagen sollte. Was hatte sie für einen Kopf?
„Ja, sag mir, wie sah ihr Kopf aus?“
„Ihr Kopf war...schön! Ich weiß nicht, er passte auf jeden Fall zum Gesamtpaket!“
„Wie groß war er?“. Kevin ließ nicht locker.
„Ich weiß nicht, fünf Hand voll? Keine Ahnung!“ Bernhard war zu weiten Teilen, ziemlich verwirrt.
„Was hatte sie für eine Hutgröße?“, fragte Kevin mit Nachdruck.
„Woher soll ich das wissen, seh ich wie ein Hutmacher aus?“. Was waren das für merkwürdige Fragen? Als nächstes würde er ihn über ihre Schuhgröße ausfragen.
„Ich weiß nicht, siehst du wie einer aus?“
„Mach mir jetzt bitte kein Drama, auf Grund deiner... du weißt schon. Ich weiß nicht, was für eine Hutgröße sie hatte, wen interessiert das überhaupt?“
„Mich! Hast du etwa ein Problem damit?“Kevin, blies den Rauch heraus und leerte seine Pfeife.
„Nein, das ist mir eigentlich egal, aber es klingt schon ziemlich schräg!“
„Warum, ich steh halt auf Köpfe!“
„Versteh mich nicht falsch, aber das klingt so, als hättest du zuhause eine Sammlung schöner Köpfe!“ Bernhard bereute seine Worte schon während dem aussprechen,als Kevin wieder einmal auf Angriffsstellung ging.
„Und du? Hast du in deiner Schublade knackige Ärsche liegen? Neben braunen Augen und blutroten Lippen?“
„Nein, übertreib doch nicht gleich! Ihr Kopf war schön, gar kein Zweifel! Zufrieden? Er war gerade richtig, für sie und ihren schönen Körper.
„Gut, ich bin zufrieden. Es ist schon anstrengend mit dir zu reden!“. Bernhard musste sich schwer beherrschen, ihm nicht alle möglichen Worte, an seinen blinden Schädel zu werfen.
„Was? Das sagt der, der immer alles auf seine Behinderung abwälzt und sollte jemandem einmal etwas herausrutschen, das ihn daran erinnert, wird die ganze Zeit darauf herum gehackt!“ Kevin fiel ihm ins Wort.
„Noch einmal! Ich hab dir vorhin schon gesagt, dass ich nicht behindert bin, ich kann nur nicht sehen! Ich bin kein sabbernder Hirni, der wie ein Seehund aufgeregt klatschen muss, wenn er sich freut!“ Bernhard wich ein bisschen zurück, um aus der Schussbahn zu kommen, falls es zu einem Konflikt auf physischer Ebene kommen sollte.
„Ist gut, ich hab es verstanden, aber könntest du, um Himmelswillen aufhören, so über geistig beeinträchtigte Menschen zu reden?“
„Warum? Meinst du das stört irgend so einen Mongo?“
„Das macht man einfach nicht! Dich nenn dich ja auch nicht einen Grottenolm, oder Maulwurf!“
„Das will ich dir auch geraten haben!“
„Siehst du, das gefällt dir auch nicht!“
„Ich bin geistig auch voll da! Einen behinderten Spasti, den würde es niemals stören, sollte ich ihn einen behinderten Spasti nennen!“
„Aber für die beteiligten ist es doch sicher schwer zu ertragen?“
„Keine Ahnung und das interessiert mich auch nicht!“ Kevin musste angestrengt durchatmen und seine Wut kanalisieren, die dieses Thema hervorbrachte. Bernhard wollte die Diskussion beenden und holte sein Buch wieder hervor um darin zu lesen, doch die Ruhe hielt nicht lange an.
„Was bist du eigentlich für einer?“, fragte er Bernhard angespannt. Er blickte auf die Gestalt neben ihm, sagte aber nichts und widmete sich wieder seinem Buch.
„Was macht du hier eigentlich?“. Kevin konnte es nicht lassen und wollte wissen, wer ihn maßregelte.
„Das selbe wie du, ich sitze hier nur, mehr nicht!“ Bernhard, versuchte sich auf nichts mehr ein zu lassen.
„Du setzt dich hier her und schraubst jedem, der vorbei kommt eine Geschichte ins Knie? Du sagst mir, wie man über irgendwelche Deppen reden sollte und versuchst mich zu korrigieren und willst mir Poltische Korrektheit aufzwingen? Machst du das öfter?“ Bernhard holte tief Luft und schloss die Augen. Er wollte niemanden, in keinster Weise belehren, oder irgendwem sagen, wie es richtig geht, oder wie man etwas machen sollte. Soll er doch über alle möglichen Menschen sagen, oder denken was er wollte, Bernhard war es egal.
„Nein, ich bin nicht hergekommen, um irgendwen in seine Schranken zu verweisen. Das ich hier sitze, hat sich einfach so ergeben! Es war eine Fügung des Schicksals, wenn man so will!“.
„Ich finde es nur komisch“, merkte Kevin an, „denn ich komme jetzt schon eine ganze Weile hierher, und da war sonst niemand da! Auf jeden Fall keiner, der mir die ganze Zeit irgendwelche Fragen stellte!“
„Soll ich gehen? Kannst du dich dann besser entfalten?“. Kevin zuckte mit den Schultern und winkte ab.
„Pah, das ist mir egal, interessiert mich nicht!“
„Okay, dann ist ja alles geritzt! Du könntest du dann bitte leise sein, damit ich endlich mein Buch lesen kann?“
„Was ist das für ein Buch?“. Was sollte das nun schon wieder für eine Frage sein, dachte sich Bernhard.
„Interessiert dich das?“
„Sonst hätte ich wohl nicht gefragt!“
Bernhard legte das Buch wieder zur Seite und steckte sich die vorletzte Kippe in den Mund. Genervt schaute er nach unten zu seinen kaputten Schuhen, ließ seinen Blick über seine fleckige Hose schweifen. Bald wäre es wohl angebracht, dachte er sich, wenn er sich neu einkleiden würde., alles an ihm schrie nach Erneuerung.
Bernhard schaute erneut zu ihm.
„In diesem Buch geht es um eine Ärztin und ihre 14-jährige Schwester, die zurück in ihr Heimatdorf kommen. Dieses Dorf war einst ein idyllisches Plätzchen in den Rocky Mountains, doch war dort in deren Abwesenheit etwas Merkwürdiges passiert!“
„Klingt doch interessant!“. Bernhard entzündete seine Zigarette.
„Auf jeden Fall, ist keine Menschen Seele mehr da und schon nach kurzer Zeit, finden die Beiden die erste Leiche“, sagte er und schnaubte den Rauch aus.
„Ist das ein Thriller?“, fragte ihn Kevin und wirkte tatsächlich interessiert.
„Keine Ahnung, eher Mystery, würde ich sagen. Mystery und Horror.“ Bernhard fuhr sich wiederholt, mit der Hand durch die verfilzten Haare und ließ seinen Blick durch die Gegend schweifen.
„Ist es gut?“
„Weiß nicht“, sagte Bernhard und zuckte mit den Schultern, „Ich glaube, eher nicht.“
„Dann hör doch auf, es zu lesen!“
„Noch nicht, ich bin erst auf Seite 162! Hundert lese ich noch, dann werde ich es zur Seite legen und mich einem anderen Buch widmen. Also, wenn es nicht besser wird.“. Bernhard, lehnte sich entspannt zurück und streckte die Beine aus.
„Du meinst also, dass es noch besser wird?“, meinte Kevin.
„Das hoffe ich zumindest.“
„Wie lange liest du denn schon an diesem Buch? Also meine Frau, die sagt zu mir, wenn du länger als zwei Tage daran liest und danach noch nicht gefesselt bist, dann kannst du es unbesorgt weg legen! Nimm dir lieber ein anderes, vor du deine Zeit mit einem schlechten verschwendest. So würde sie das zumindest sagen.“
Bernhard strich sich fragend über den Dreitagebart und paffte von Zeit zu Zeit.
„Witzig, dass du das erwähnst“, stellte er fest, „denn ich habe vor zwei Tagen damit angefangen. Etwas mehr als zwei sogar!“ Kevin breitete die Hände wie ein Prediger vor sich aus.
„Siehst du, da haben wir es!“
„Vielleicht“, stimmte er zu, „aber dass ich solange damit beschäftigt bin, ist eher meinem Umfeld geschuldet. So kam es mir vor.“
„Hattest du einen Haufen Leute um dich herum? Deine Frau vielleicht, oder deine Kinder? Vielleicht deine Schwiegermutter? Das kenne ich...“
„Nein, um Gottes Willen! Ich bin nicht verheiratet und Kinder habe ich auch keine. Es war vielmehr die Tatsache, dass ich schon lange in meiner Bude irgendwelche Bücher lese. Allein und ungestört!
„Eigentlich die beste Voraussetzung, sollte man meinen.“, unterbrach ihn Kevin.
„Genau, die Beste Möglichkeit, um entspannt und konzentriert zu lesen. Aber irgendwann, hatte ich einen Punkt erreicht, an dem mich diese Totenstille mehr ablenkte, als sonst etwas.“
„Und das war vor zwei Tagen?“
„Ja, genau! Kennst du das, wenn du ein Buch liest und du nach einer Seite nicht mehr...“. Kevin wiegelte ab:
„Ich fange jetzt nicht wieder damit an“, sagte er, „mit einem Hörbuch, hast du das Problem nicht unbedingt!“
„Ach, da war ja was! Egal, ich konnte mich auf alle Fälle nicht mehr konzentrieren! Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Ich war schon lange nicht mehr unterwegs und das störte mich. Ich wollte nicht mehr nicht unterwegs sein, nein.“
„Und dann bist du hier her gekommen!“
„Nicht direkt! Ich bin losgelaufen, Richtung Norden, da geht es leicht bergab und bin dann nach einiger Zeit des Fußmarsches in einer beschaulichen Kneipe aufgeschlagen. Dort feierte ich meine Erkenntnis ausgiebig, bis in die frühen Morgenstunden.“ Kevin musste lachen, das erste Mal, seit er sich auf der Bank breit gemacht hatte.
„Du hast dir voll die Kante gegeben!“
„Nach allen Regeln der Kunst. Ich habe meiner Leber eine Herausforderung nach der anderen zugemutet. Irgendwann, verlor ich dann aber den Faden.“
„Klingt nach einem klassischen Filmriss“, meinte Kevin.
„Hattest du das auch auch schon?“
„Ich bin blind, kein Mormone. Erzähl weiter.“ Er hing ihm an den Lippen, Bernhard stellte es mit Bewunderung fest.
„Ich kam zu mir:
Mir war auf jeden Fall saukalt, es war dunkel und ich frage mich, wo ich bin. Ich habe aber keine Ahnung wo ich bin, du weißt schon, klassischer Filmriss. Ich sitze auf kaltem Asphalt, angelehnt, an einer Laterne, die so ein Kaltes und trauriges Licht auf mich wirft. Auf jeden Fall fange ich nach einiger Zeit zu frieren an und schaue rein Interesse Halber auf mein Handy, das mir auch gleich verrät, dass es schon bald Fünf Uhr ist. Nach einiger Zeit, richte ich mich dann auf, um meinen Marsch Fort zu setzen.“ Bernhard zog an seiner Zigarette und warf sie fort.
„Und wo ging es dann hin?“
„Ich hatte keinen Plan, ich wusste nicht mal woher ich kam! Auf jeden Fall stehe ich auf und gehe den Weg weiter Bergab. In dieser Richtung, sehe ich dann auch Lichter, die mich auf ein Dorf hinweisen.“
„Nicht schlecht, da hast du ja richtig die Sau raus gelassen!“
„Für wahr, für wahr. Ich war, trotz aller Umstände, aber ziemlich glücklich. Ich war froh wieder unterwegs zu sein. Auch dann, als ich vor der Laterne saß und mir wirklich kalt war!“
„Ich weiß was du meinst, glaube ich. Aber was machst du, wenn du nicht mehr unterwegs sein willst? Irgendwann, wäre eine Dusche nicht schlecht oder vielleicht möchtest du wieder in deinem Bett schlafen.“ Bernhard zuckte nur mit den Schultern und schürzte die Lippe.
„Dann fahr ich nach hause. Sollte der Fall eintreten, dass ich keine Lust mehr auf meine Odyssee habe, und irgendwann, wird dass der Fall sein, dann begebe ich mich stehenden Fußes zum nächsten Bahnhof und trete meine Heimreise an.“ Kevin lachte und schüttelte den Kopf.
„Das mit der Dusche, wäre übrigens keine schlechte Idee“, sagte er. Bernhard grinste verlegen und seufzte leise.
„Ist es schon so schlimm?“
„Meiner Nase machst du nichts vor, die muss immerhin meine Augen zu einem Teil ersetzen!“
„Ich bemühe mich darum, in nächster Zeit meiner Körperpflege wieder nach zu gehen. Ehrenwort.“
„Du scheinst es damit auch nicht so genau zu nehmen“, bemerkte Kevin.
Und? Nach zwanzig Tagen ohne waschen, reinigt sich der Körper von selbst.“ Kevin schüttelte sich angewidert und gab Würgelaute von sich, worauf Bernhard unweigerlich lachen musste. Aber er musste ihm schon recht geben, denn diese zwei Tage, haben ihn schon ganz schön verfallen lassen.
„Auf jeden Fall, bin ich dann in die nächstbeste Sparkasse rein und habe mich schlafen gelegt.“
„Aber nur mal so am Rande, bist du eigentlich zum Lesen gekommen?“ Bernhard wurde kurz nachdenklich und musste feststellen, dass das nicht wirklich zu traf.
„Nein, nicht wirklich! Und die Tatsache, dass mir das Buch nicht wirklich gefällt, macht es auch nicht besser.“
„Dann schmeiß das Buch weg, oder verschenke es, oder sonst etwas und lies ein anderes!“
„So schnell, gib ich nicht auf. Ich hoffe immer noch, dass die letzten Seiten spannend sein könnten, da die Geschichte an sich nicht schlecht wäre. Und außerdem, verdanke ich ihm, das ich mindestens zwei schöne Tage hatte, mit echt merkwürdigen Begegnungen.“
„Zum Beispiel?“
„Du gehörst auch zu ihnen!“
„Na vielen Dank“, sagte Kevin und verschränkte seine Arme, als wäre er persönlich betroffen.
„Ich habe auf alle Fälle noch keinen blinden getroffen, der behinderte nicht mag!“
„Ich habe nie gesagt, dass ich sie nicht mag!“
„Es klang auf jeden Fall so! Aber auch in der Kneipe waren ein Schwung höchst interessanter Charaktere. Einer von denen aß sein Schnitzel mit Senf!“ Kevin musste laut würgen.
„Widerlich!“
„Wirklich wahr, der hat es in der Tunke ersäuft!“ Bernhard schüttele die Hände, als hätte er sie sich verbrannt und bis sich angewidert die Zähne zusammen.
„Was stimmt denn da nicht“, meinte Kevin, „da bekomme ich direkt Gänsehaut!“
„Ich weiß nicht, ich schätze, in seiner Kindheit ist etwas total schief gelaufen“.
„Du sagst es, dem kann ich nur zustimmen!“ Bernhard kniff sich voller Ekel die Augen zusammen und verzog sein Gesicht zu einer hässlichen Fratze.
„Aber der Hammer kommt noch! Als ich irgendwann in der Sparkasse geweckt werde. Da kommt so ein Typ und stupft mich an. Ich öffne meine Augen, sehe noch alles ganz verschwommen. Du weißt doch wie das ist? Ich habe halt verdammt gut geschlafen, a blickt mich dieser Typ an, mit diesem besorgtem Blick, der mich an meine Mutter erinnert. Du weißt sicher, dieser Blick, der dir automatisch ein schlechtes Gewissen bereitet!“
„Ja, an so was, kann ich mich doch tatsächlich erinnern!“
„Genau. Der Typ war gepflegt, trug einen dunkelblauen Anzug und eine rote Krawatte, hatte jedoch einen Dreitagebart.“
„Das geht ja gar nicht!“, fuhr es aus Kevin. Bernhard erzählte ihm ausführlich von seiner Begegnung der seltsamen Art

Eine gemütliche Schlafgelegenheit in einer Bank

Seine Füße schmerzten und er fror, doch das konnte seine Zuversicht nicht trüben. Mit zitternden, blauen Lippen, einer tropfenden Nase, den Händen in den Taschen und den Armen fest an den Körper geschmiegt, wanderte er durch die frühen Morgenstunden durch die Dunkelheit. Erneut durchbrach ein Auto, die angenehme Stille. Die roten Rücklichter konnte er noch aus einiger Entfernung erkennen und schienen sich über ihn lustig zu machen, wie er da so Mutterseelenallein durch die Kälte spazierte und niemand auch nur auf die Idee kam, ihn mit zu nehmen. Aber vermutlich würde er es genauso machen. Man nimmt doch nicht jeden ein Stück mit, der irgendwo umherläuft. Im Gegenteil, so einem ginge man eher aus dem Weg. Es betraf ihn eigentlich auch nicht, denn beim Laufen, konnte er seine Gedanken aus dem Kopf verdrängen und der Leere Platz machen. Gedanken, die ihn zurück ließen auf einer Welt, die er sich niemals hatte erklären können. Gedanken, die ihn durchzuckten und an ihm nagten, die in ihm Fragen aufkommen ließen, die er niemals zu beantworten vermochte. Nun waren sie weg, nur durch das stetige und ziellose umherstreifen, irgendwo im Nirgendwo, waren sie der Leere gewichen. Der Leere und der Stille, die sich immer mehr an die Umgebung anglich.
Nach einiger Zeit, kam er an Einem Ortsschild vorbei und betrat ein verschlafenes Nest, in dem er mit freudiger Erwartung, einen wärmenden Platz zum schlafen entgegen fieberte. Eine Sparkasse, würde ihm das bieten, was er brauchte. Eine sicher Umgebung, die ihn vor der Kälte beschützen und das elektrische Summen der Automaten, das ihn in den Schlaf wiegen würde. Schon bald sah er den roten Schriftzug, der ihm entgegen prangerte und ein Glänzen in seinen Augen verursachte, wie es sonst nur die Geschenke an Weihnachten konnten, als er noch ein kleiner Bernhard war.
Er öffnete die Tür und schon empfing ihn gleißendes Licht und hieß ihn willkommen. Erschöpft und ausgelaugt, legte er sich hinter einen Geldautomat und entfloh sogleich der Wirklichkeit. Wie ein Schleier, legten sich Träume über seine Wahrnehmung, die Augen fielen zu und alle Strapazen dieser Welt, konnten ihm nichts mehr anhaben.
„He, alles klar?“, hörte er eine Stimme zu ihm sprechen. Bernhard lag wie gelähmt am Boden, nur allmählich kehrten seine Motorischen Fähigkeiten zurück. Zögerlich öffnete er die Augen, doch nur unscharfe Umrisse einer Person, waren zu sehen, alles andere verschwamm zu einem farbigen Brei.
Von draußen, konnte man vorbeifahrende Autos hören.
„Na, gut geschlafen?“, fragte die Person. Hätte er ihn nicht geweckt, hätte er noch länger und ausgiebiger schlafen können. Bernhard rieb sich schlaftrunken die Augen und versuchte klarer zu sehen.
„Brauchst du Hilfe?“ Er streckte ihm die Hand entgegen, was Bernhard gleich darauf erwiderte und nach oben gezogen wurde. Auf wackeligen Beinen, stand er nun vor ihm, das Gesicht weiß wie Schnee, die Augen rot wie Blut.
„Was ist dir denn zugestoßen?“
„Guten Morgen...“, kam ihm Bernhard mit gebrochener Stimme entgegen. Der Mann streckte seine Linke Hand aus, schob den Ärmel seines Sakkos ein Stück zurück und blickte auf eine silbern glänzende Armbanduhr. Bernhard fragte sich, wie lange er wohl arbeiten müsste, um sich einen Zeitmesser dieser Qualität anschaffen zu können.
„Ich würde eher sagen Mahlzeit!“, entgegnete er ihm mit zugekniffenen Augen. Ein Gepflegter Mann war er, wie er da so da stand, mit seinem Dunkelblauen Anzug. Er musterte Bernhard und suchte nach Indizien, die seinen Verdacht, welcher es auch immer war, bekräftigen würde.
„Was hast du dir ein geschmissen?“. Wenn er sich etwas ein geschmissen hatte, was er nicht nicht hatte, dann würde ihn das nichts angehen, dachte sich Bernhard, der in diesem Moment heftig aufstoßen musste. Der Anzugträger vor ihm verzog angeekelt das Gesicht und wedelte mit der Hand vor selbigem herum.
„Lass mal deine Arme sehen“, sagte er mit Nachdruck und packte ihn unverhohlen am Arm. Bernhard leistete keine Gegenwehr, im Gegenteil, er ließ es geschehen und schaute ihn nur fragend an, ohne zu verstehen, was gerade passierte.
„Okay, keine Einstichstellen...“. Ruckartig, befreite er sich wieder aus seinem Griff.
„Hey...“, stöhnte Bernhard, „Finger weg, klar!“
„Hast du es geraucht?“ er schüttelte den Kopf und schnaubte aus. War das sein Ernst? Er hatte nur da gelegen und geschlafen!
„Was geraucht?“; fragte er ihn und konnte nicht fassen, was er über ihn dachte. Sah er wirklich so fertig aus?
„Du hast es geschnupft, nicht wahr?“
„Ich nehm doch keine Drogen“, sagte Bernhard empört und kratzte sich an seinen verfilzten Haaren.
„So siehst du aus! Kannst du mal deine Taschen leeren?“ War er etwa ein Polizist in zivil? Nur zu, dachte sich Bernhard, er hatte nichts zu verbergen.
„Sind sie Polizist? Warum soll ich meine Taschen leeren, ich nehme keine Drogen, weder Heroin, noch sonst etwas!“ Es geht sie doch wohl einen Scheiß an, was ich in meinen Hosentaschen habe!“
„Ganz ruhig“, sagte der Mann und versuchte ihn zu beschwichtigen, „ich habe das schon öfter gesehen!“ Bernhard ließ die Schultern genervt hängen und blickte an die Decke. In der Ecke hing eine Kamera, die auf beide gerichtet war. Wer die Videos wohl anschaut, fragte er sich und musste schmunzeln. Er blicke dem Mann wieder in die besorgten Augen.
„Was haben sie schon öfter gesehen? Das jemand in einer Sparkasse schläft? Das ist eine öffentliche Einrichtung und ich habe dort ein Konto, verstehen sie? Ich leihe denen Geld und bekomme dafür so gut wie gar nichts, da wird es wohl niemanden stören, wenn ich da ein Nickerchen mache.
Und außerdem...“, Bernhard zeigte zur Tür, „ ist es dort draußen sehr kalt, ich hätte erfrieren können!“ Der Typ zeigte keine Einsicht und versuchte ihn weiter zu beschwichtigen.
„Schmeiß dein Leben nicht weg! Du musst es festhalten!“, sagte er bedeutungsschwanger, packte ihn mit festem Griff an den Schultern und sah ihm tief in die Augen. Es wurde von Sekunde zu Sekunde seltsamer und Bernhard überkam ein merkwürdiges Gefühl der Schuld.
„Ich bin nicht in so einer verzwickten Situation, wie es vielleicht scheint. Ich hab gestern zu tief ins Glas geschaut, das kann ich nicht bestreiten und ist vielleicht nicht richtig, aber mehr war da nicht dabei. Weder habe ich etwas geraucht, geschnupft, noch gespritzt. Um Gottes Willen, das könnte ich niemals!“
„Ist es wegen einer Frau?“. Er hörte nicht auf mit dem Verhör. Sollte er ihm einfach irgendwann eine Frage mit Ja beantworten, nur damit er ihn endlich wieder frei ließ?
„Nein!“, sagte Bernhard nachdrücklich und versuchte sich aus seiner Zange zu befreien, was ihm aber nicht gelang, da er immer fester zu packte. Der Mann kam ihm immer näher mit dem Gesicht und Bernhard befürchtete, dass er ihn in kürze küssen würde, was ihm unangenehme Gänsehaut bescherte.
„Du hast deinen Job verloren!“ Bernhard schwieg und gab ihm somit ungewollt ein Zeichen, dass er richtig lag, worauf er seinen Griff lockerte und ihn wieder los ließ. Bernhard war unbemerkt mehrere Schritte zurückgegangen und stand nun an der Wand an. Die Mine des Mannes versteinerte zu einem unbehaglichen Entsetzen, als würde er jeden Moment anfangen zu weinen. Er holte tief Luft und begann seine Predigt:
„Hör mir gut zu: Was immer passiert ist...“, er machte eine theatralische Pause, als müsse er seine Worte erst sammeln.
„...das lässt sich wieder hinbiegen! Gib nicht auf! Gib dich nicht auf, denn es lohnt sich immer weiter zu machen! Ich habe dich hier noch nie gesehen, woher kommst du?“ Bernhards Mund, hatte sich über die Dauer dieses einseitigen Gesprächs immer weiter geöffnet, genauso wie seine Augen. Er war wach. Und er wusste nicht was er sagen sollte.
„Wir haben hier bei uns schon mehr solche Fälle gehabt! Hier, in unserem idyllischen Dörfchen, grassiert eine fürchterliche Drogenepidemie!“ Bernhard schloss den Mund abrupt, seine Augen jedoch schienen jederzeit ihr knochiges Habitat zu verlassen.
„Okay...“, sagte er leise und zurückhaltend, der Mann ging einen Schritt zurück und entfernte sich von ihm auf ein angenehmes Maß. Er rieb sich nachdenklich im Gesicht und zückte seine Brieftasche, der er einen Fünfziger entnahm.
„Hier, nimm das“, sagte er zu ihm, „kauf dir etwas zu essen! Und dann schau, dass du nach Hause kommst und über dein Leben nach denkst. Duschen wäre auch keine schlechte Idee. Tu dir das nicht an, so schlecht ist das leben nicht!“ Er nahm den Schein schweigend entgegen und blickte auf ihn, als hätte er so etwas noch nie gesehen, während der Fremde die Tür nach draußen öffnete und stehen blieb. Nach einer kurzen Bedenkzeit, kam er zurück und gab Bernhard eine Visitenkarte.
„Es gibt gratis Kaffee! Und so, so möchte ich dich nicht mehr sehen!“. Ein leichtes Lächeln durchzog sein Gesicht, als er den Raum verließ und in dem drogen- verseuchten Dörfchen verschwand. Bernhard blieb verstört zurück und kam sich wie ein Vergewaltigungsopfer vor, dessen Peiniger dachte, er würde ihm was gutes tun und aus Liebe handeln. Immerhin hatte er Fünfzig Euro verdient, was aber nichts daran änderte, dass er sich schmutzig fühlte. Eine Dusche wäre echt nicht schlecht.

Faule Zähne und Umweltschutz

Kevin lachte lauthals, ebenso wie Bernhard. Es dauerte eine weile, bis sie sich wieder beruhigen konnte, war dies doch eine sehr amüsante Geschichte, die das eisige Gemüt, eines noch so ernsten Mannes zum tauen bringen konnte.
„Was war das für eine Karte“, fragte Kevin, der verkrampft versuchte nicht mehr zu grinsen. Bernhard zögerte die Antwort ein Stück hinaus:
„Drogenberatung!“, sagte er und musste, angeregt von Kevins Reaktion, der sich auf die Schenkel klopfte und zu brüllen begann, lachen, bis ihm die Tränen in die Augen schossen. Einige der Passanten blieben wieder ein mal stehen, um sich diese Szene anzusehen, nur um dann kopfschüttelnd weiter ihren Weg einzuschlagen.
„Drogenberatung, nicht schlecht! Gehst du hin, etwas Kaffee trinken?“ Er beruhigte sich stöhnend.
„Ich wusste nicht was ich sagen soll! Sehe ich wirklich so abgerissen aus?“. Bernhard strich die Tränen aus seinem Gesicht
„Ich weiß nicht? Wenn ich sehen könnte, hätte ich dir auch zu einer Drogenberatung geraten?“
„Was mich interessieren würde, hättest du mir auch fünfzig Euro gegeben?“
„Klar, wenn mir jemand drogenabhängig erscheint, dann mach ich schon mal ein bisschen Kohle locker!“ Beide fangen erneut zum lachen an, beruhigen sich aber kurz darauf wieder.
„Jetzt aber im Ernst, ich sehe wirklich beschissen aus. Das ist nicht von der Hand zu weisen!“
„Wenn du so aussiehst wie du riechst, dann...“. Bernhard atmete durch und wurde ruhiger, genauso Kevin. Beide schwelgten in einer angenehmen Ruhe und ließen sich sacken, bis Bernhard aufstand. Die hübsche Dame, kam wieder an ihnen Vorbei, der er seinen sympathischsten Gesichtsausdruck hinterher schweifen ließ, welcher für sie aber nicht beachtenswert war.
„Du gehst?“, fragte Kevin.
„Sieht so aus“, sagte Bernhard und streckte seine müden Arme dem Himmel entgegen.
„Ich bekomme langsam Hunger!“
„Was gibt es den zu essen?“
„Ich glaube, ich knall mir einen Döner rein!“
„Hau ruhig ordentlich Knoblauch drauf!“, sagte Kevin und lachte.
„Sei dir da gewiss. Und viel Zwiebel!“
„Das wird bei dir nicht auffallen!“. Er betrachtete diesen Mann, wie er da saß, die Augen immer noch geradeaus, ruhig und gelassen. Bernhard langte in seine Tasche und holte das Buch zum Vorschein, die Initialzündung, für ein paar schräge Tage und blätterte darin herum.
„Hier, für dich“, sagte er und streckte es ihm entgegen.
„Was ist das?“ Bernhard nahm Kevins Hand und drückte ihm das Buch in selbige.
„Das ist mein Buch. Deine Tochter kann dir ja daraus vorlesen. Ist vielleicht besser als die „investigativen“ Berichte meines Bruders.“
„Na dann vielen Dank! Aber was ließt du dann?“, sagte Kevin und schaute zu Bernhard auf.
„Weiß noch nicht? Ich habe immerhin noch Fünfzig Euro übrig!“
„Wohin dich das nächste Buch wohl führt?“ Bernhard blickte nachdenklich über den Weg, der sich zwischen den grünen Wiesen hindurchschlängelte.
„Gute Frage. Vielleicht in die andere Richtung?“
„Du meinst Bergauf?“ Er zuckte mit den schultern, blickte zu Kevin hinunter und griff nach der Zigarettenschachtel.
„Wer weiß!“, sagte er und betrachtete wieder einmal den weit geöffneten Mund, mit den schwarzen Zähnen, der mit Belag übersäten Zunge und den geröteten Mandeln, dem Verfall und der Selbstzerstörung. Eigentlich sollte es den Konsum verhindern, doch die letzte Zigarette landete, wie die anderen auch, in seinem Mund, der hoffentlich niemals so aussehen wird.
„Okay, dann viel Glück“, sagte Kevin, während sich Bernhard seine Kippe anzündete.
„Und grüß deinen Bruder von mir!“ Er drehte sich um und wollte seine Reise fortsetzen, ohne dem etwas hinzu zu fügen. Er zerdrückte die Leere Schachtel und warf sie auf den Boden.
„Heb doch die Schachtel auf und entsorge sie richtig“, beschwichtigte er Bernhard.
„Wir haben die Welt nur von unseren Kindern geborgt, nicht wahr?“ Er bückte sich und schob sie in seine Tasche.
„Also dann, Kevin.!“
„Bernhard!“
Er wandte sich von ihm ab und folgte dem Weg in die entgegen gesetzter Richtung, aus der er kam. Nachdem er sich einige Meter von seinem Weggefährten entfernt hatte blickte er über seine Schulter nach hinten und sah ihn noch einmal an. Kopfschüttelnd ließ er den Fremden zurück und holte die zerknüllte Schachtel mit der Visitenkarte hervor. Das Abbild dieses hässlichen Gebisses, ein geschmack- und pietätloses Zeugnis unserer Gesellschaft, lässt er auf den Boden fallen. Das Kärtchen, betrachtet er noch einige Zeit und gibt es dann ebenfalls dem Kreislauf der Umwelt zurück.



Ende
 



 
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