Berti

Helmut D.

Mitglied


Berti


Vor gar nicht allzu langer Zeit- es war an einem Winterabend, an dem mein Mann wieder mal auf Geschäftsreisen war- kam ich auf die sonderbare Idee, unseren Speicher etwas zu durchforsten. Das Fernsehprogramm war wie üblich von langer Weile und so schlich ich fest vermummt die hölzerne Treppe zum Dachgeschoß unseres kleinen Häuschens hinauf, das am Stadtrand von Hilmesbach recht friedlich gelegen ist. Mein Söhnchen Karli schlief schon, als ich mich nahe ans kleine Fenster setzte und für einige Augenblicke die weiße Winterlandschaft betrachtete. Es war gerade 21 Uhr und der Mond ging über dem Wäldchen, das in einiger Entfernung zu sehen war, mit feuerroter Farbe auf. Dann nahm ich meine Kerze, entzündete sie und begann, auf einen Schemel sitzend, in einer alten Truhe, gefüllt mit Schulsachen meines Mannes herumzuwühlen. Rein zufällig fiel mir dabei ein altes, rotes Heft in die Hand, auf dessen Etikette, fein säuberlich "Rechenheft" vermerkt war. Ich schlug es auf und noch ehe ich etwas von dem Lehrstoff enträtseln konnte, sprang mir ein kleines Strichmännchen ins Auge. Es hatte einen furchtbar großen Kopf mit zwei ovalen, traurigen Augen, aus denen justament, als sie mich sahen, zwei große, dicke Tränen liefen. "Was hast Du denn" fragte ich etwas scherzhaft den armen, dünnen Mann. "Ach Gott!" antwortete er mir mit tiefem Männerbaß, worauf ich zuerst einmal kräftig erschrak. Für einen Moment drehte ich mich zur Luke, da ich dachte Karli hätte mir einen Streich gespielt, doch dann hörte ich die brummige Stimme wieder. "Ich bins, der zu Dir spricht und nicht Dein Sohn" flüsterte mir das Männchen zu. Ich zögerte, ihm zu glauben, aber noch ehe ich länger über die Sache nachdenken konnte, fuhr er fort und fragte mich, mir seine Geschichte erzählen zu dürfen. "Na gut", erwiderte ich und lauschte gespannt seinen Ausführungen. Er verschränkte seine dürren Arme hinter dem Rücken, ging einige Schritte hin und her und begann schließlich mit wehmütiger Stimme, mir sein Leben zu berichten.
"Also, ich heiße Berti. Und mein Vater war das Hänschen, Dein guter Mann. Er hat mich in einer langweiligen Rechenstunde zur Welt gebracht, ohne sich über die Folgen seiner Tat ihm Klaren zu sein." "Das sind sich viele nicht" entgegnete ich, aber Berti ließ sich in seiner Schilderung nicht aufhalten. "Nun, da war ich also geboren und hatte einen dicken Kopf und einen spindeldürren Leib. Das hatte aber immerhin den Vorteil, daß ich keinen großen Hunger bekam, denn so ein kleiner Körper braucht nun mal nicht viel zu essen. Doch mein Kopf war groß und so gefiel mir schon nach einer Stunde mein Leben gar nicht mehr. 'Ein armes kleines Strichmännchen. Was ist das schon? 'dachte ich mir und fing an mich zu verändern. 'Am besten ich werde Kaiser', sprach ich und mit ein paar kleinen Graphitbröseln, die von Hänschens Bleistift noch herumlagen, malte ich mir eine goldene Krone. Danach hüpfte ich aus dem Rechenheft und marschierte 15 Stunden lang durch die Gegend, bis ich auf ein Automobil stieß. Auf dieses setzte ich mich und wartete, bis mich der Fahrer hinfortfuhr. Nach dreistündiger Fahrt kamen wir in Bonn an und ich machte mich sofort auf die Suche nach dem Bundeskanzler, dem ich jetzt zur Abdankung überreden wollte. Frag mich nicht wie, aber nach 4 Tagen hatte ich es geschafft. Ich saß in einem großen Ledersessel vor dem Alten; ihr wißt schon wer gemeint war. Der Alte hörte sich meine Wünsche geduldig an und erklärte mir, daß er mit meinen Begehren einverstanden wäre. 'Für eine Woche überlasse ich Dir die Macht über Deutschland und Du darfst als Kaiser unser gutes Vaterland regieren'. Oh, was war das für ein beglückender Moment für mich! Kaiser von Deutschland zu sein. Ich, das kleine Strichmännchen Berti! Das war schon etwas!
Nachdem sich meine erste Euphorie gelegt hatte, kam mir plötzlich in den Sinn, daß ein Kaiser ja auch eine Gattin brauchte. Sofort rief ich den Regierungssprecher zu mir und bestellte noch für den gleichen Abend eine große Rede im Fernsehn. Dort verkündete ich, etwas nervös, aber doch souverän, daß ich der neue Kaiser von Deutschland wäre und nun eine Frau Gemahl suchte. Sie muß genauso dünn, wie ich sein und einen ebenso großen Kopf haben. Nur ein Fünkchen kleiner, damit jeder gleich sieht, daß ich die Hosen anhabe. Denn sowas wie Gleichberechtigung, war mir schon von Geburt an suspekt. Aber wie!"
"Schäm Dich!" "Sei still und hör mir zu, wies weitergeht. Nach drei Tagen brachte der Postbote einen großen Sack mit Schulheften und ich begann mir eilends all die schönen Bräute anzusehen. Ach, was war das für eine große Weiberschar! Alles war dabei. Dumme und gescheite, hübsche und häßliche, arme und reiche. Endlich fand ich eine, die mir gefiel. Sie hieß Berta und piepste fast verlegen 'Guten Tag' zu mir. Dann zwinkerte sie scheu mit den Augen und trat näher. 'Meine Mutter heißt Klärchen und ich bin gerade 7 Tage alt. Wenn Du willst, kannst Du mich zur Frau machen und wir können viele liebe Kinder miteinander haben. ' 'So ist's recht', dachte ich mir und rief eilends die Diener herbei, um die Hochzeit ausschreiben zu lassen. Nach 3 Tagen war es dann so weit. Im großen Dom zu Köln fand unsere Trauung statt und zahlreiche hochrangige Gäste aus dem In und Ausland waren an unserem großen Tag zugegen. Vor lauter Aufregung brachte dann Berta den Ring nicht über den Finger und der Kardinal wurde schon sichtlich nervös. Doch dann klappte es doch noch und nach einem ausführlichen Hochzeitsfest schritten wir gegen Mitternacht in unser kaiserliches Schlafzimmer. Dort war es dann sehr lustig und vor lauter Freude erblickten sofort 5 Kinder das Licht der Welt. Bei uns Strichmännchen geht das schnell! Genauso schnell vergingen unsere Tage des Glücks und noch eh' ich mich versah, war eine Woche um und Adenauer kam aus dem Urlaub zurück. 'Na, hast Du mir mein Land gut regiert? ' fragte er neugierig, worauf ich überglücklich zu nicken begann.
Mit zwei Koffern in der Hand standen wir dann am Hauptbahnhof von Bonn und stiegen in den Zug nach Hilmesbach, der uns in meine Heimat zurückbringen sollte. Berta kam zwar von woanders her, aber auch bei uns ist es so Brauch, daß die Frau dem Manne folgt. Als wir dann in meiner Heimat ankamen geschah ein fürchterliches Unglück. Ein Fahrgast, der neben uns am Fenster saß, öffnete dieses, um hinauszuschauen. Dabei erfaßte eine frische Windböe meine Frau mitsamt unseren 5 Kindern und blies sie hinfort. Ich konnte mich zum Glück noch rechtzeitig an der Lehne festhalten, doch meine Familie war verschwunden. 7 Tage und 7 Nächte suchte ich meine Lieben, doch ich fand sie nicht. Oh, was war das für eine schlimme Zeit! Ich weinte soviel, daß der Schaffner, der mir ab und zu bei meiner Suche geholfen hatte, vor lauter Mitleid schwermütig wurde. 'Ist das eine schlechte Welt', pflegte der gute Mann, den das Ganze mehr mitnahm ,als ich zuerst dachte, dauernd zu sagen.
Nach einiger Zeit fand ich mich mit meinem Schicksal ab und begab mich zum Orte meiner Geburt zurück.
Hänschen, aber, mein Vater würdigte mich keines Blickes mehr und ich muß schon sagen, daß manche Männer von kleinauf, ein sehr schlechtes Verhältnis zu ihren ungewollten Kindern haben. Er hätte mir ja wenigstens mal Guten Tag sagen können....
Nach einiger Zeit- es waren inzwischen mehrere Jahre vergangebn- landete ich dann hier oben auf dem Speicher und Du bist der erste Mensch, den ich seit langen Jahren wieder sehe. So, das war meine Geschichte und nun weißt Du hoffentlich, warum ich so traurig bin."
"Ja" flüsterte ich mit einer Träne im Auge und war drauf und dran, dem kleinen Männchen über die Glatze zu streicheln. Doch dann ließ ich es, da mich Berti bat, ihn in Ruhe zu lassen. Er hätte sich wirklich damit abgefunden und wolle in Frieden sein Leben zu Ende führen. Wenn ich ihn aber wirklich einen guten Dienst erweisen wolle, so solle ich seine Geschichte nie vergessen und vielleicht einmal zu Papiere bringen.
Viele Wochen sind seit diesen Abend vergangen und ich habe in so mancher einsamen Minute an mein kleines Strichmännchen gedacht. Hans habe ich von seinem Sprößling nichts erzählt, da ihn schlimme Geschichten aus der Vergangenheit nicht interessieren und Karli hat sowieso nur seine Computer im Kopf. So bin ich nun die einzige, die vom Leid des lieben Berti weiß und bin mir manchmal nicht mehr ganz so sicher, ob es nicht viele Männer gibt, die zwar viel größer und reicher sind als er ,aber bei weiten keinen so guten Charakter haben.
Ach, wäre doch mancheiner von Ihnen auch so ein netter Kerl, wie mein guter Berti. Ich würd' was darum geben.
Ich würd' was darum geben .......... !




1986
 



 
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