Bertil

Freeda

Mitglied
Bertil

Ich war etwa 13 Jahre alt, und meine Welt geriet zusehends aus den Fugen.
Aus meinen Mitschülern waren Monster geworden, und meine Lehrer wollten doch nur unsere Seelen retten (was ihnen bei dem ein oder anderen aber nicht gelang). Mich befielen unkalkulierbare Launen und Pickel am Kinn, und mein Zuhause war mir keine große Hilfe.
In dieser Zeit lernte ich Bertil kennen.
Ein dummer Name für einen Hund, fand ich, nie sagte man Bertil, immer nur Berti, das klang nicht besonders toll. Bertil war mittelgroß, fast schwarz mit einer weißen Brust und Augen wie Bernstein. Er war ein Russisch-europäischer Laika, wild, unbändig, rastlos. In Russland und Finnland werden diese Hunde zur Jagd auf Fischotter und Zobel, Marder und Iltis eingesetzt – dazu sind sie wie geschaffen.
Bertil konnte ausdauernd rennen, hohe Zäune waren kein Hindernis für ihn; und langweilte er sich, so lief er einfach davon. Sein Freiheitsdrang war grenzenlos.
Seit meiner Zeit mit Bertil verspüre ich eine unbestimmte Sehnsucht; es zieht mich nach Finnland. Dann sehe ich endlose Wälder, Seen, Rentierherden; und doch bin ich bis heute niemals dort gewesen.
Bertil gehörte einem finnischen Ehepaar, beide berufstätig. Bertil verbrachte also die meiste Zeit des Tages im ehemaligen Hühnerhof, und der Hühnerstall bot ihm Schutz vor dem Wetter. Ihm gefiel das nicht, das merkte man, er war unglücklich, wenn er gefangen war. Und ich lief mit ihm, viele Kilometer, es mögen Tausende gewesen sein.
Bertil war unerzogen, er hörte nicht und machte, was er wollte. Meistens zog er so sehr an der Leine, dass ich ihn freiließ, und dann lief er so schnell voraus, dass ich nicht hinterher kam. Ich kam oft allein, nur mit der Leine in der Hand, nach Hause zurück, und manchmal saß Bertil schon vor der Tür, auf der Treppe aus rotem Stein und wartete auf mich. Von Zeit zu Zeit saßen wir dort gemeinsam und teilten uns einen Apfel.
Bertil war mein Freund. Der einzige, der mich verstand, der sich nicht verstellte, der es wirklich ehrlich meinte.
Manchmal, wenn Bertil wieder allein unterwegs war, sah ich ihn aus der Ferne. Und wenn ich rief, kam er angerannt, schnell wie der Wind, um mich zu begrüßen, immer wieder an mir hochspringend, Pirouetten tänzelnd, vor Freude quiekend.
So einen wie den haben sie 1957 ins All geschossen, sagte meine Mutter, die hätten schon gewusst, warum sie so einen nahmen, man wäre ja froh, wenn man so etwas los sei.
Das imponierte mir irgendwie. Möglicherweise war Bertil der Nachfahre eines Astronauten-Hundes, darauf konnte man stolz sein.
Während meine Welt auf der einen Seite so nach und nach durcheinander geriet, blieb sie auf der anderen Seite geordnet – dafür sorgte Bertil. Er erwartete mich. Er verlangte nach Regelmäßigkeit, die mir gut tat, auch wenn er sich selbst an keine Regeln hielt.
Wir haben ziemlich genau ein Jahr miteinander verbracht. An unseren letzten gemeinsamen Spaziergang kann ich mich noch gut erinnern, wie einen Film kann ich ihn in meinem Kopf abspulen. Es war Herbst, aber noch warm, und wir waren in den Wald gegangen. Und anders als sonst, war Bertil bei mir geblieben. Er lief zwar mal weit hinter mir, mal weit voraus, aber er kam immer wieder kurz zu mir, wie um zu prüfen, ob ich den gleichen Weg einschlüge. Wir waren schon beinahe zuhause, ein Stückchen noch entlang der Landstrasse, eine Seitenstrasse überqueren.
Und ich sah kommen, was dann passierte; ein Motorrad kam die Landstrasse heruntergefahren, nicht besonders schnell, denn es wollte abbiegen in die Seitenstrasse, die wir überqueren mussten.
Bertil lief voraus, ich wollte rufen, aber ich konnte nicht; ich wollte rennen und blieb stehen.
Das Motorrad fuhr Bertil um. Einfach so. Es passierte nicht viel, der Motorradfahrer bremste, schlingerte ein bisschen aber stürzte nicht und blieb dann stehen.
Aber Bertil lag am Boden. Nur einen kurzen Augenblick, dann stand er umständlich auf und tappte vorsichtig los, langsam, aber zielstrebig. Meine Erstarrung löste sich, ich rief – Bertil, Bertil, und Bertil gehorchte ein einziges Mal und blieb stehen.
Und dann kippte er einfach um. Er lag reglos da, als schliefe er. Er blutete nicht einmal.
Der Motorradfahrer hat ihn das kurze Stück bis zum Hühnerhof getragen.
Und dort wurde Bertil dann auch begraben.
Es war das erste Mal, dass ich tiefe Trauer empfand und den Halt verlor.
Inzwischen sind viele Jahre vergangen. Auf dem Hühnerhof wurde ein Haus gebaut, wahrscheinlich haben sie Bertil dabei gleich mit umgegraben.
Ich bin erwachsen und habe mir vor ein paar Jahren einen Hund angeschafft. Aber nie wird mir dieser Hund soviel bedeuten, wie mir Bertil bedeutet hat.
Auch wenn wir uns nur ein Jahr kannten.
 
L

loona

Gast
Hallo Freeda,

eine sehr melancholische Geschichte voller Sehnsucht und Erinnerungen.

Sie hat mir sehr, sehr gefallen.

Mit Dank

loona
 

Freeda

Mitglied
Hallo loona,

danke für Dein positives statement.
Wenn es so 'rüberkommt, daß meine Erinnerung an diesen Hund schön aber schmerzlich ist, will ich zufrieden sein.
Ärgerlich nur, daß mir meist erst im Nachhinein Formulierungen auffallen, die besser hätten sein können (und leider habe ich, technisch unbegabt, wie ich bin, immer noch nicht gecheckt ob, und wenn ja, wie man Korrekturen vornehmen kann, nachdem man einen Text hier hineingesetzt hat).

Liebe Grüße,

Freeda
 

Zefira

Mitglied
Ganz einfach, Freeda - drücke unter Deinem Text (nicht unter dem Kommentar!) das Symbol "edit/delete", dann erscheint der Text erneut im Fenster, und Du kannst Korrekturen vornehmen.
Liebe Grüße,
Zefira
 

Freeda

Mitglied
Hallo Zefira,

danke für den Tip, bin jetzt auch schon per mail von loona aufgeklärt worden. Ich hätte ja auch mal früher fragen können (oder einfach mehr ausprobieren).

Liebe Grüße,

Freeda
 



 
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