Besser spät als nie

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MDSpinoza

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Besser spät als nie

MDSpinoza

Ein Arzneimittelhersteller der sich auf Pflanzenprodukte spezialisiert hatte, lud Ärzte aus ganz Deutschland nach Berlin ein, um die Einführung eines neuen Prostata - Präparates zu feiern. Da auch einige Laborparameter neu dazukamen, durften auch ein paar Helferinnen mit. Meine jungen Kolleginnen, die sich sonst um Berlin gerissen hätten, waren gerade alle entweder schwanger oder schon in Mutterpause, also durfte ich mit. Meine alte Heimat wiederzusehen bereitete mir gemischte Gefühle. Vor dreißig Jahren hatte ich sie verlassen, nach acht Jahren Einzelhaft war ich an den Westen verkauft worden. Eine Nachbarin soll mich angezeigt haben wegen Vorbereitung zur Republikflucht. Danke, Frau Wer-auch-immer, damit haben Sie mein Leben nachhaltig verändert. Ob sie das so wollte? Wahrscheinlich hat sie sich gar keine großen Gedanken darüber gemacht.
Die ersten Monate der Haft waren die schlimmsten. Nicht nur, daß ich mir noch Hoffnungen machte, bald zumindest ein Gerichtsverfahren zu bekommen oder gar entlassen zu werden. Einige der Gefängniswärter hatten entdeckt, daß es niemanden interessierte, was sie mit den Gefangenen anstellten. Besonders einer hatte sich hervorgetan. Er öffnete meine Zellentür, sobald das Licht ausgeschaltet wurde, dann schlug er mich grün und blau und vergewaltigte mich. Er kam oft. Immer wenn er Spätdienst hatte war ich sein Spielzeug. Einige andere kamen auch, aber nicht so oft wie dieser. Die anderen verloren bald das Interesse, weil ich schnell lernte, alles widerstandslos über mich ergehen zu lassen. Ich lag da wie tot, und das reizte sie nicht. Der Eine brauchte länger, bis er das Interesse verlor oder ein neues Spielzeug fand. Er sah eigentlich gar nicht übel aus, etwas durchschnittlich, eine dünne Narbe rechts von der Nase, aber es lag nicht an seinem Aussehen, wenn er kein Mädel gefunden hätte.
Er hatte eine seltsame Eigenart, die ich noch lange in meinen Alpträumen hören sollte: er konnte kein „f“ aussprechen. Er hauchte etwas durch die Lippen, was einem „h“ mehr glich als einem „f“, es ist schwer zu beschreiben. Schwer zu beschreiben, schwer zu vergessen. Von seinem Gesicht ist mir jede Falte, jedes Haar im Gedächtnis haften geblieben, aber das werde ich eher vergessen als dieses „f“.
All dies ging mir durch den Kopf, während ich im Flieger nach Berlin saß, und mein Chef sich angeregt mit einigen Kollegen und dem zuständigen Pharmareferenten unterhielt. Mein Chef ist immer sehr nett und bestimmt nicht rücksichtslos; daß er mich in Ruhe ließ, sah ich als einen Beweis dafür.
Ich hatte über fünfzehn Jahre schon für ihn gearbeitet, aber noch nie hatte ich ihm etwas aus meiner Vergangenheit erzählt. Zu einer Familie habe ich es nie kommen lassen, ich kann einfach keinem Menschen, besonders keinem Mann mehr nahe sein. In der Praxis, gerade beim Urologen, ist dies ein Vorteil, die Patienten sind nicht gerade glücklich, diese Untersuchungen über sich ergehen lassen zu müssen, da hilft etwas berufliche Distanz schon.
Auf Tempelhof wurden wir vom Regionalleiter unseres Pharmareferenten begrüßt, der noch ein paar Sprüche über die gerade mal fünf Jahre zurückliegende Vereinigung beider deutscher Staaten schwadronierte, aber auf die Kurzfassung umschaltete, als er gewahr wurde, daß diese Sprüche niemand hören wollte. Er hatte sich auch nur an die Ärzte gewendet, wir Helferinnen wurden nicht eines Blickes gewürdigt.
Es war schon später Freitagachmittag, deswegen wurden wir mit Bussen ins Hotel verfrachtet, immerhin das Adlon, und dann hatten wir zwei Stunden Zeit, uns fürs Abendprogramm im Friedrichstadtpalast fein zu machen. Essen würde es später geben, jetzt gab es ein kleines Buffet mit Kaffee und Kuchen.
Pharmareferenten müssen gute Cowboys sein, dachte ich mir. Sie hatten alle Hände voll zu tun, um ihre Kunden bei Laune und beisammen zu halten. Unser teilte sich die Arbeit mit dem Kollegen vom Nachbargebiet, einem Dutzendgesicht im Nadelstreifen, der auch schon älter war und nur noch seine auswendiggelernten Sprüche abspulte. Ich sah kein zweites Mal zu ihm hin, bis mir etwas auffiel: er konnte kein „f“ aussprechen. Dann begann ich, ihn zu beobachten. Sein Sächsisch war sehr abgeschliffen, aber noch gut zu erkennen. Das „f“ brachte mich fast zum Wahnsinn. Ich sagte mir nein, das ist er nicht, das kann nicht sein, dies Schwein sollte doch mit Sicherheit selbst im Knast sitzen.
Mir brach kalter Schweiß aus, flau wurde mir im Magen. Den ganzen Abend lang habe ich wohl kein einziges Wort gesagt. Mein Chef sah mich etwas zweifelnd an, aber ich winkte ab. Ich war in meiner eigenen Welt für diesen Abend. Einer Welt, drei Schritte breit, acht lang. Mit einem kleinen Gitterfenster, kaltem Wasser und einer Stahltüre, die nur von außen zu öffnen war. Das Schwein war ein Bestandteil dieser Welt, auch, nachdem ich sie längst körperlich verlassen hatte. Er war in jedem meiner Alpträume zugegen, jeden Tag, seit gut dreißig Jahren. Ich hatte diese Welt versucht, aus mir auszusperren, von mit fortzuschieben, sie zu verdrängen – alles umsonst. Als er sich einmal umdrehte, sah ich auch die unauffällige Narbe an der Nase. Das Schwein.
Ich verbrachte das gesamte Wochenende wie in Trance. Die Schulung zu den Laborparametern war nicht sehr anstrengend, das meiste wußte ich sowieso bereits, und an die neuen Teststreifen würde ich mich schon gewöhnen.
Samstagabend gab es Tanz, wo ich beobachteten konnte, daß das Schwein sich an eine Kollegin ranwanzte, die er systematisch und geschickt mit Alkohol abfüllte. Die war wohl noch nicht sehr lange dabei. Es dauerte nicht lange, und die Zwei waren verschwunden. Offensichtlich konnte der nicht anders. Immer noch nicht. Völlig unauffällig war er allerdings doch nicht verschwunden: auf seinem Sessel hatte er eine Visitenkarte verloren. Eine Adresse in Werdenbrück, nicht einmal weit weg von der Großstadt im Ruhrgebiet, wo ich wohnte und arbeitete.
Ich weiß nicht warum, aber ich hob die Karte auf und steckte sie ein.
Sonntag früh sah ich ihn wieder. Nein, es gab keinen Zweifel. Nach dreißig Jahren erfuhr ich seinen Namen, er war nicht mehr nur ein namenloses Schwein für mich. Seine Kollegin bot ein Bild des Jammers. Verkatert, leichenblaß trotz dicken Make-ups, und ein schlecht überschminktes Veilchen links. Nein, der hatte sich nicht geändert.
Die Nächte im Hotel waren schon schlimm gewesen, aber in meiner Wohnung war es noch schlimmer. Ich hoffte, daß er mich längst vergessen hätte, oder mich zumindest nicht erkannt haben mochte, aber ich spürte sie wieder, diese unbeschreiblich kalte Angst, daß sich gleich wieder meine Zellentür öffnete und das Schwein meine Zelle heimsuchte. Ich hatte noch nie wirklich gut geschlafen, aber seit dem Wiedersehen in Berlin war ich morgens früh wie gerädert.
Trotz alledem bekam mir die Arbeit gut. Mein Chef sah mich ab und zu zweifelnd an, er hatte bemerkt, daß ich noch stiller geworden war als eh schon, aber er stellte keine Fragen. Meine Arbeit ging mir immer noch flott von den Händen, und die anderen Helferinnen sahen keinen Grund, mich dabei zu bremsen.
Ich hatte etwas Erspartes, das legte ich an für einen alten Opel. Ich hatte meinen Führerschein gleich nach der Abschiebung in den Westen gemacht und auch eine Zeitlang ein Auto gehabt, aber jetzt, da ich nur ein paar hundert Meter von meiner Arbeit wohnte, hatte ich ein paar Jahre auf ein eigenes Auto verzichtet.
Ich suchte mir einen gut erhaltenen Wagen aus, der aber so ein Dutzendgesicht hatte wie das Schwein. Silbermetallic, das gab es reichlich, keine Beulen drin aber auch nicht gerade ungebraucht, keine Aufkleber, nichts Individuelles. Ein Kombi halt, wie ihn auch gerne Handwerker fahren.
Ich hatte nie ein Wort über Privates verloren, na gut, da gab es auch nicht sehr viel zu erzählen, da fiel es niemandem auf, daß ich jetzt auch nicht damit anfing. Mein Telefon klingelte auch nur selten, und dann war es meistens eine Kollegin oder mein Chef, die mich baten, doch am nächsten Tag etwas früher zu kommen oder mich darauf vorbereiteten, später zu gehen. Ich fühlte mich noch nicht einmal ausgenutzt, da ich mein Privatleben mit einem breiten Stift auf eine kleine Briefmarke schreiben konnte.
Ich hatte meine kleine Wohnung so eingerichtet, daß mir niemand ins Fenster sehen konnte und daß ich mich fast gar nicht selbst beleuchtete, wenn ich in der Nähe des Fensters war. Keiner hätte je sagen können, ob ich zu Hause war oder nicht. Klingeln tat auch sehr selten jemand, mein Radio hatte ich selten an und wenn, dann nur leise. Fernsehen besaß ich nicht. Ich hatte mir eine kleine Leselaube in meinem Wohnschlafzimmer eingerichtet und hatte mir im Laufe der Zeit eine gutausgestattete Bibliothek zusammengetragen. Vieles waren medizinische Fachbücher, aber auch Belletristik war reichlich da. Ich hatte keine privaten Freunde, keine Beziehungen, da waren die Bücher meine Familie. Wenn ich in meiner Leselaube saß, war die Wohnung sonst komplett dunkel. Mir reichte zum Lesen ein 25-Watt Birne, so geschickt angebracht, daß sie das Buch beleuchtete und sonst nichts. Ich bin ab und zu nachts vor die Tür gegangen, um nachzuschauen, ob man mir in die Wohnung sehen konnte, und ich war sehr zufrieden, daß meine Fenster genauso dunkel waren wie die, hinter denen meine Nachbarn schliefen.
Ich parkte mein Auto nie vor der Tür, meist eine Straße weiter, um die Ecke, wo ein großer Parkplatz war, auf dem nie viel los war. Der gehörte eigentlich einem Großbetrieb, aber der war schon lange pleite. Jeder der wollte, parkte dort. Ab und zu wurden Autos aufgebrochen, aber nie meins. Da lag nie etwas stehlenswertes drin, und wer klaut schon einen alten Opel.
Es fiel also niemandem auf, daß ich von jetzt an nicht mehr so viel zu Hause sein würde.
Ich begann, mich mit dem Auto vertraut zu machen. Es war ein Diesel, sparsam, zuverlässig und geräumig. Bestimmt kein Rennwagen, aber für meine Zwecke ideal. Ich benutzte die Landstraße nach Werdenbrück, wo Autos aus dem Kohlenpott so häufig waren, daß sie keinem auffielen. Ich kundschaftete die Gegend aus, in der das Schwein wohnte und stellte fest, daß er es recht gemütlich hatte. Ein Frauchen zu Hause, ein nettes kleines Einfamilienhaus und zwei Töchter. Er fuhr einen Dienstwagen, das Karlshafener Kennzeichen trug er wie eine Brandmarke. Ich lernte schnell, daß er selten länger als bis Mittag arbeitete, den Nachmittag trieb er sich in Cafés herum, in Spielhallen und Kinos. Meine freien Tage waren jetzt nicht mehr frei, aber ich fühlte mich besser als je, seit morgens früh vor dreißig Jahren die Stasi meine Wohnungstür aufschloß.
Das Schwein hatte sogar feste Gewohnheiten. Er besuchte immer dieselben Lokale, immer dieselben Spielhöllen und Kinos. An den Wochenenden sah ich ihn bei seinem verhuschelten Frauchen im Garten sitzen, grillen und Bier saufen. Er scheuchte die Frau mit demselben Ton herum wie damals mich. Wenn er besoffen war, hörte man das seltsame „f“ noch wesentlich deutlicher heraus.
Den dritten Samstag, an dem ich ihn in seinem Garten beobachtete, sah ich zu, wie er seine Tochter verprügelte. Er schlug ihr zweimal ins Gesicht, dann auf den Rücken. Danach schnappte er sich sein Frauchen, schleppte sie ins Haus und dann hörte ich sein geiles Schnaufen. Ich wußte, was mit der Frau passierte.
Als ich fertig war mit dem trockenen Würgen fiel mir erst auf, daß ich seit frühmorgens unterwegs gewesen war, ganz ohne etwas zu essen. Ich ließ das Schwein ein Schwein sein und stillte meinen plötzlich erwachten Hunger in einem guten Restaurant am Autobahnkreuz Werdenbrück - Süd. Das war mir aufgefallen, als ich mich das erste Mal verfahren hatte. Das war spätabends, und ich hatte mich gewundert, was all die vielen LKWs dort machten. Die Küche war ausgezeichnet, die Preise für die Qualität fast zu billig. Daß der Wirt so schnell allerdings nicht pleite gehen würde, dafür sorgten die zahlreichen Kunden. Das Restaurant hatte sieben Tage die Woche rund um die Uhr offen, und leer war es selten.
Heute gönnte ich mir ein richtiges Menü, und war ganz erstaunt über mich selbst, daß ich es bis auf den letzten Krümel verputzte.
Als ich wieder zu Hause war, schlief ich früh ein und seltsamerweise konnte ich fast die ganze Nacht durchschlafen.
Das Wochenende darauf war ich nicht in Werdenbrück, sondern ich streifte durch das Revier. Bottrop, Gelsenkirchen, Dortmund, Bochum. Ich suchte ein größeres Werksgelände, das schon längere Zeit leer stand. Bingo! Ein altes Stahlwerk, das allen Versuchen getrotzt hatte, es entweder umzuwidmen oder zu verkaufen. Eingefallene Hallendächer, ein durchgerosteter Maschendrahtzaun und, viel wichtiger, eine Zufahrt, die außer vom Güterbahnhof nicht einsehbar war. Der Güterbahnhof selbst war fast im selben Zustand wie das Hüttenwerk. Hier war schon lange kein Zug mehr beladen worden.
Ich fuhr frech wie Oskar in die Einfahrt und wartete ein Weilchen, ob mich jemand aufhalten wollte. Nichts dergleichen. Das Tor selbst war gar nicht gesichert, die Gebäude dahinter fast alle völlig ausgeweidet. Eine Walzenstraße stand noch da, Staub und Rost waren seit langer Zeit nicht mehr gestört worden. Von der Haupthalle abgetrennt waren ein paar Bunker, einige mit schweren Stahltüren gesichert. Die allerdings standen offen. In den Räumen dahinter standen keine Maschinen mehr, alles Brauchbare war längst fort. Aber auch keine Spuren von Obdachlosen oder Liebespärchen. Das war perfekt.
An der Decke eines dieser Räume hingen zwei alte Flaschenzüge. Die waren zwar dreckig, aber als ich an den Ketten zog, funktionierten sie sofort. Ich sah mich noch etwas um, aber besser hätte ich es nicht selbst bauen können, dieser Ort war perfekt.
In den folgenden Wochen klapperte ich das ganze Ruhrgebiet ab. In einem Geschäft kaufte ich Spanngurte, im nächsten eine Rolle Bergsteigerseil und so fort. Jeder Einkauf in einer anderen Stadt.
In der Praxis merkte niemand einen Unterschied. Ich hatte nie viel geredet, sondern mich nur um meine Arbeit gekümmert, das änderte sich jetzt auch nicht. Deswegen bekam ich fast einen Panikanfall, als mein Chef mich eines Abends beiseite nahm und sagte, er habe etwas wichtiges mit mir zu besprechen.
Er bugsierte mich in sein Büro, wo bereits eine junge Frau auf uns wartete.
„Marie, Sie sind jetzt so lange bei mir, Sie sind die Seele der Praxis, auch wenn sich da jetzt einige Ihrer jüngeren Kolleginnen zurückgesetzt fühlen würden. Das hier ist Frau Dr. Slomka, sie wird ab Mai als meine Partnerin in der Praxis mitarbeiten. Wenn es ihr hier gefällt, wird sie dann in ein paar Jahren die Praxis übernehmen. Ich möchte Sie bitten, ihr besonders zur Seite zu stehen.“
Die Ärztin strahlte mich nett an, reichte mir die Hand und wir tauschten ein paar Höflichkeiten aus. Beide waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu bemerken, was für ein dicker Stein mir vom Herzen fiel. Die Beiden hatten noch genug miteinander zu besprechen, also konnte ich mich bald abseilen. Mein Chef war nicht wesentlich älter als ich, und daß er sich zur Ruhe setzen wollte erstaunte mich. Er liebte seinen Beruf, aber offensichtlich hatte er auch eine Vorstellung davon, wann man Schluß machen sollte, um noch etwas vom Leben zu haben.
Daß er jetzt etwas weniger auf mich achten konnte, war mir allerdings sehr recht. Ich hatte mir mittlerweile in dem alten Stahlwerk einen Raum eingerichtet. Die Türe dazu hatte ich mit einem schweren Vorhängeschloß versperrt, welches ich immer unversehrt vorfand, auch, wenn ich mal zwei Wochen lang nicht dagewesen war. Der Werkshof war immer gleich dreckig, auch fand ich außer meinen eigenen Reifenspuren nie fremde. Andere Fahrzeuge sah ich auch nie. Nicht auf dem Güterbahnhof, nicht auf der Zufahrt.
Die Praxis war jetzt ein Tollhaus. Sobald die Nachricht von der neuen Partnerin ausgesprochen war, ging ein häßliches Hickhack los, wer sich denn bei der Neuen am schnellsten lieb Kind machen konnte. Ich ließ es ruhig angehen, die meisten Mädels konnten sich höchstens selbst das Leben schwer machen. Mich ließen sie in Ruhe, wohl auch ob der Einsicht, daß ich viel von ihrer Arbeit machte, und das war ihnen der Frieden wert. Die meisten schienen ihre Arbeit zu hassen, und ihre Kolleginnen noch mehr.
Niemandem fiel auf, daß ich ein paar Spritzen mitgehen ließ, ein paar Injektionsnadeln und einige Ampullen Anestek, eines schnellwirksamen Narkosemittels. Niemand fiel auf, als ich mir ein Glasrohr an einer Seite zuschmolz und ein paar andere Kleinigkeiten wie Gleitmittel für Endoskopie und Sono - Gel. Das waren meist Werbegeschenke der Industrie, die in keinem Warenbestand auftauchten. Ich bewahrte nichts davon zu Hause auf, alles landete in meinem Kämmerchen im toten Stahlwerk.
Alles war perfekt, die Praxispartnerin hatte sich sehr schnell eingearbeitet, und die Sommerferien nahten. Das Schwein war immer noch völlig ahnungslos, ganz offensichtlich rechnete er nicht damit, beobachtet zu werden. Sein Kollege hatte beim Flirten mit einer meiner Kolleginnen die Termine für seine nächste große Tagung ausgeplaudert, das gab mir einen Zeitrahmen. Ich fragte meinen Chef, ob ich die nächste Woche Urlaub nehmen könne, der sagte sofort zu. Damit war schließlich sicher, daß ich diese Woche nicht in den großen Ferien nehmen konnte, wo unsere Mütter mit ihren schulpflichtigen Kindern fahren wollten. Er stellte keine Fragen.
Montag Mittag war ich bereits wieder in Werdenbrück, auf der Suche nach dem Schwein. Er fuhr immer noch seine alten Wasserlöcher an, wie ich die Kneipen, Spielhöllen und Kinos nannte, meist sogar immer in derselben Reihenfolge. In das Kino folgte ich ihm. Er hatte mich nicht bemerkt, nicht ein einziges Mal in der ganzen Zeit.
Ich nahm rechts hinter ihm Platz. Der Film war ein billiger Pornostreifen, aber etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet. Ich bereitete eine Spritze Anestek vor und jagte sie ihm ohne Federlesens in den Hals. Selbst wenn er einen Laut von sich gegeben hätte, wir waren allein in dem Kino. Die wenigen andren Zuschauer waren entweder mit sich selbst oder miteinander beschäftigt. Nicht einmal daß ich über die Sitze kletterte, fiel irgendeiner Seele auf.
Das Schwein war nicht völlig k.o., er war nur nicht mehr Herr seines Willens. Ich bugsierte ihn aus dem Kino hinaus, nicht unbedingt ein ungewohntes Bild, daß eine eher kleine Frau einen besoffenen Mann heimschleppt, dachte ich mir. Niemand achtete darauf.
Im Auto verpaßte ich ihm die zweite Spritze. Er kippte nach rechts rüber, nur durch den Sicherheitsgurt festgehalten. Er stank nach genug Bier um den Besoffenen glaubhaft darstellen zu können, im Falle eines Falles. Aber es ging alles gut. Auf einem Parkplatz schraubte ich den Liegesitz soweit herunter, daß das Schwein von außen nicht zu sehen war. Dann bedeckte ich ihn erst mit einer Hartfaserplatte, dann mit einer dunkelgrünen Plane. Auch dies, um nicht beim Einfahren mit und beim Ausfahren ohne Gesellschaft gesehen zu werden. Aber auch diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich als überflüssig. Der Güterbahnhof war leer wie immer und das Werksgelände auch.
Ich hatte mir angewöhnt, den Wagen in die große Halle hineinzufahren, schon allein, damit er nicht durch irgendeinen Zufall gesehen werden konnte. Jetzt parkte ich ihn mit der rechten Tür vor dem schweren Tor meiner Kammer, öffnete die Beifahrertür und er sackte wie ein nasser Mehlsack heraus. Die Kammertür auf, das Schwein hineingeschleppt, und nun aber schnell, bevor die Wirkung des Narkosemittels zu sehr nachlassen würde.
Er stierte mich blöde an, als ich ihm Schuhe und Socken auszog. Sogar an den üblen Gestank hatten mich meine Albträume erinnert. Nach all den Jahren hatte ich diesen Schimmelgeruch bis in die feinste Nuance in der Nase behalten. Disziplin, Marie, übergeben kannst du dich zu Hause!
Ich hatte die beiden Flaschenzüge so eingestellt, daß die Haken etwa einen Meter hoch hingen. An die beiden Haken hängte ich jetzt eine Schlinge, die ich mit einem Palstek an je einer großen Zehe befestigte. Den Knotenkram hatten wir bei den Jungen Pionieren lernen müssen. Wer hätte gedacht, daß die kleene Marie diesen Zinnober einmal würde gebrauchen können!
Kaum hingen die beiden Zehen fest in ihren Schlingen, schnappte ich mir die Endlosketten der Flaschenzüge und zog sie ein gutes Stück höher. Nur noch seine Schultern berührten den Boden, mit den Armen ruderte er hilflos herum. Für die Hände hatte ich mir Gurte an den Wänden festgemacht, die ich mit zwei weiteren Palsteks an seinen Daumen festzurrte. Die Gurte straffte ich mit Ratschen, bis ich die Grundgelenke ausschnappen hörte. Dann zog ich die Flaschenzüge ganz hoch, bis er mit dem Kopf ein gutes Stück über dem Boden schwebte.
So langsam ließ die Narkose nach und er begriff, daß er gewaltige Schmerzen hatte. Ein unaufhörlicher Strom widerlicher Obszönitäten schwallte aus seinem Mund. Ich kümmerte mich gar nicht darum, sondern begann, ihm die Kleidung vom Körper zu schneiden. Die Narkose war fast völlig abgeklungen als ich fertig war. Aus einer Augenblickseingebung fragte ich ihn: „Weißt du altes Schwein eigentlich, wer ich bin?“
„Is mir scheißegal. Mach mich los, alte Fotze!“ Wieder dieses „f“.
„Ganz bestimmt nicht. Es ist übrigens die Art, wie du das „f“ aussprichst, was mich auf deine Spur gebracht hat. Weißt du wirklich nicht mehr, wo wir uns das erste mal gesehen haben, nein?“
„Scheißegal, mach mich hier los!“
„Das Gelbe Elend nannte man den Bau. Klingelt’s jetzt? Ist schon dreißig Jahre her, aber einiges bleibt.“
Ich zog mich langsam aus. Splitternackt stellte ich mich direkt vor ihn hin, so daß er seine Augen direkt vor der Stelle haben mußte, wo er mir sein Monogramm in die Schenkel gebrannt hatte. Bei jedem Besuch ein Punkt mit einer brennenden Zigarette. Es tat immer noch manchmal weh.
„Scheiße, man, das war doch alles befohlen. Wenn ich mich geweigert hätte, hätten’s dir andere besorgt. Und mir auch. Wir waren doch alle nur Gefangene des Systems.“
„Danke, die blöde Ausrede glaubst du doch selber nicht. Oder denkst du, ich weiß nicht, was du mit Kolleginnen, deiner eigenen Frau und deinen Töchtern machst?“
„Wer bist du?“
„Marie S. im März 1965 in Berlin verhaftet worden von der Stasi, dann ins Gelbe Elend verfrachtet worden, wo ich die Bekanntschaft mit dir und ein paar anderen Schlappschwänzen machen mußte. August 1973 hat mich dein Arbeiter- und Bauernparadies an den Westen verkauft, für 65.000,- D-Mark.
Ich habe keine einzige Nacht seit meiner Verhaftung mehr schlafen können, ohne an dich und deine Kollegenschweine – nein – Schweinekollegen zu denken. Dann habe ich dich durch Zufall in Berlin auf der Tagung deiner Firma wiedergesehen. Wie bist du eigentlich dahin gekommen?“
„Bin fünfensibzich rübergemacht, hab mir dann ne bürgerliche Existenz aufgebaut, hat bis heute gehalten.“
„Warum?“
„Bin versetzt worden zur Hauptverwaltung Aufklärung und von denen als Perspektivagent in den Westen geschickt worden. Ging ganz einfach. Hat keiner gemerkt.“
Nur eine, dachte ich, und das war ein blöder Zufall.
Ich zog die Flaschenzüge noch ein paar Klicks hoch. Jetzt hatte ich seine Manneszierde auf der Höhe meiner Nase. Roch auch nicht viel besser als die Füße. Hat der sich nie gewaschen? Der kleine Bursche stand, als erwarte er etwas. Sollte er kriegen, nur etwas anders als erwartet. Seine Erektion würde es mir sogar etwas einfacher machen. Ich streifte mir Laborhandschuhe über und bereitete meine Ausrüstung vor. Ich rieb die vorn zugeschmolzene Glasröhre auf einem Drittel ihrer Länge mit Gleitmittel ein. Dann griff ich mir seinen Kleinen und ließ die Glasröhre tief in seine Harnröhre hineingleiten. Der Kleine wurde dicker, offensichtlich gefiel ihm das auch noch. Dann drückte ich den Phallus fußwärts, um die Röhre durch die Prostata zu drücken. Das machte mein Chef jeden Tag ein paar Dutzendmal mit dem Endoskop und ich hatte ihm so oft dabei geholfen, daß ich es im Schlaf konnte. Das Schwein ließ einen Riesenschnaufer hören, im nächsten Augenblick lief es auch schon aus ihm heraus. Dieser Extraschmierstoff lieferte den letzten Schwung, den die Glasröhre brauchte, um in die Blase zu rutschen.
„Hat’s dir gefallen? Genieß es, es ist dein letztes Mal.“ Mit diesen Worten schlug ich eine Faust in seine Leiste. Ich hörte das Glasrohr brechen. Im nächsten Augenblick begann er wie ein wildes Tier zu schreien. Bewegen konnte er sich nicht, dafür war er zu gut verzurrt.
„Schrei ruhig. Hier hört dich niemand. Das hast du auch immer zu mir gesagt.“
Ich zog mich in aller Ruhe an und beseitigte noch etwaige Fingerabdrücke. Dann verließ ich den Raum, schloß ihn mit dem Vorhängeschloß ab und fuhr heim. Auf dem Nachhauseweg fuhr ich noch den Wagen durch eine Waschanlage.
Das ist jetzt zehn Jahre her, und seitdem habe ich nicht einen einzigen Albtraum mehr gehabt. Ich habe auch nie wieder etwas von dem Schwein gehört.
 
L

Larissa

Gast
Auge um Auge, Zahn um Zahn

Lieber MDSpinoza,

so wie es bereits im Alten Testament propagiert wird, zieht auch deine Protagonistin die Vergeltung dem bigotten Verzeihen vor. Recht so!

Der unstillbare Durst nach Abrechnung, der in jeder gedemütigten Seele brennt, ist ausschließlich mit dem gallebitteren Saft der Genugtuung zu lindern, gewonnen aus dem Verderb der Übeltäter. Die lodernden Flammen der Rachsucht sind nur durch die Hand der Nemesis einzudämmen.

Liebe Grüße
Larissa
 

Gorgonski

Mitglied
Hallo MD

Eine sehr gut geschriebene Geschichte mit einem Ende als Kulminationspunkt. Hat mir sehr gut gefallen.

MfG; Rocco
 

Fugalee Page

Mitglied
Hallo MDSpinoza,

nach dem Lesen dieser Geschichte, vermute ich einfach mal, dass das MD in deinem Nick nicht nur zum Spaß da steht. :)
Ok, und los geht’s.
Du hast dich mit deiner Erzählung einem sehr heiklen Thema zugewandt: Der Folter bzw. der Vergewaltigung.
Du lässt den Leser teilhaben an einer sorgsam geplanten „Abrechnung“. Er bekommt die nötige Zeit Marie und ihr Umfeld kennenzulernen. Für jemanden wie mich, der gerne Kurzgeschichten liest, die auch einmal über ein paar Seiten hinaus gehen, sehr von Vorteil. Man merkt der Geschichte an, dass du dir Zeit genommen, und sie stilistisch in eine schöne Form gebracht hast. Die Handlung selbst bleibt spannend, und man ist auch gespannt, wie die Story ausgehen wird – für Beide.
Gerade der Schluss war dann nicht so nach meinem Geschmack. Da bist du mir ein klein wenig über’s Ziel hinaus geschossen. Ich nenn das immer den „Lämmer-Effekt“. Nach dem Film „Das Schweigen der Lämmer“. Während in Teil 1 das Grauen noch überwiegend in den Köpfen des Kinobesuchers und in seiner Phantasie stattfand, hatte ich beim zweiten Teil den Eindruck, als wolle der Regisseur mit allen Mitteln noch eins draufsetzen.
Mir kam es ein bisschen so vor, als hättest du dir alle Mühe gegeben, dir etwas ganz besonders Widerwärtiges auszudenken, aber das merkt man halt auch.
Mir schien das Ende etwas zu theatralisch. Wohlgemerkt „theatralisch“, nicht gänzlich unglaubwürdig, denn in unserer heutigen Zeit scheint ja nichts mehr unmöglich.

Vielleicht hat’s mir auch ein bisschen gestunken, dass das Schwein nach so langer Zeit noch immer so viel Macht über Marie besessen hatte. Die Vorstellung, dass sie sich dreißig Jahre lang isoliert hatte, ohne Freunde oder eine Liebe, die ihr den Glauben an die Männerwelt zurückgegeben hätte; das war schon harter Tobak. Somit stand der Vergewaltiger am Ende sogar als Sieger da, weil er aus Marie nun gleichfalls ein Monster gemacht hatte.
Verstehe mich nicht falsch. Auch ich gehöre zu den Leuten, die der Meinung sind, dass gewisse Subjekte oft nicht mit der ganzen Härte des Gesetzes abgeurteilt werden, oder durch unfähige Gutachter wieder auf freien Fuß gelangen. Dies trifft natürlich besonders für Gewalt an Frauen oder bei Kindern zu. Doch hätte ich mir gewünscht, dass Marie sich eine andere Methode wählt.
Auch ergaben sich dadurch ein paar Ungereimtheiten, die aber nicht als Fehler zu werten sind, nur fand ich’s halt unpassend.
Es soll ja Menschen geben, die selbst unter extremsten Schmerzen Lust verspüren, aber da ist die Situation meist abgesprochen, also kalkuliert. Gerade ein Typ, der sich gerne über Schwächere hermacht, ist ja selbst ein feiges Schwein. Ich glaube somit eher, dass der Typ gewinselt hätte, und sein Schwanz in sich zusammengeschrumpelt wäre, so als stünde er in einem Faß mit Eiswasser, als dass er einen Ständer bekommen hätte. Dass es ihm dabei noch gekommen sein sollte, war mir dann völlig daneben.
Dass Marie so emotionslos gewesen sein soll, um die Prozedur überhaupt zu bewerkstelligen, fiel mir auch schwer zu glauben. Ich kann mich natürlich schlecht in eine geschändete Frau hineinversetzen, aber ich kann mir weder vorstellen, dass sie an seinem Teil riechen würde, noch dass sie es so behutsam anfassen könnte, um die Kanüle sicher an ihren Platz zu bugsieren. Ich denke eher, sie würde, im Geiste Bilder von der Vergewaltigung sehend, gleich zum Skalpell greifen. Zu einem stumpfen wohlgemerkt. ;)

Allerdings hast du mit deiner Geschichte auch ein Novum geschaffen. Von so einer perversen Art der Tötung habe ich jetzt auch noch nie gelesen. Durch diese Story hat „Medical Doctor“ Spinoza bei mir sogar einen Hypochonder-Schock ausgelöst. Ich werde mir gleich morgen einen Sack voller Kürbiskerne kaufen. Die sollen die Vorsteherdrüse ja angeblich fit halten. Denn, sollte ich später als „alter Sack“ wirklich wegen so was zum Arzt müssen, würde ich beim Anblick einer Kanüle immer an deine Geschichte erinnert werden, und die Praxis fluchtartig verlassen. :)
Auch muss ich sagen, dass du bei mir mit deiner Story keinen leichten Stand hattest. Vermutlich musstest du dich an einem Film messen lassen, den ich vor längerer Zeit gesehen habe und der mich schwer beeindruckt hat. In „Der Tod und das Mädchen“ nimmt sich Roman Polaski genau diesem Thema, und dem Theaterstück des Chilenen Ariel Dorfmann an. Er treibt Sigourney Weaver, Ben Kingsley und Stuart Wilson zu Höchstleistungen. Ein brillantes Kammer- und Verwirrspiel, bei dem vor allem Sigourney über sich hinauswächst. Ein Stück, dass mich von der ersten bis zur letzten Sekunde gefesselt hatte. Und gerade das Ende ist hier mehr als überraschend. Mehr will ich aber nicht verraten.

Fazit:
Toll geschrieben, akribisch vorbereitet, mit Liebe fürs Detail serviert; als kleiner Schwachpunkt dann, der Schluss. Getreu dem Motto *lass die Geschändete selbst zum unmenschlichen Monster werden, und sie eine Methode anwenden, die selbst dem abgebrühtesten Horrorfan noch einen Schauer über den Rücken jagen kann*
Aber dieser Kritikpunkt ist Geschmackssache.
Nach der mathematisch-statistisch-lupenösen Bewertungsmethode für mich weit überdurchschnittlich, und eine fette 8 wert. Was dann wirklich angezeigt wird, muss man sehen. :)
So, das war’s auch schon. Dann wünsche ich dir noch viel Spaß beim Schreiben und viele Ideen für zukünftige Geschichten.

Gruß von F. P.
 

Fugalee Page

Mitglied
Bewertung

Noch ein kurzer Nachtrag. Ich hab vermutlich irgendetwas falsch gemacht. Meine Bewertung von gestern, 20:15 Uhr, wird als „anonym“ angezeigt. Dachte ich sei eingeloggt? Vielleicht kann das jemand richten.
Vielen Dank.

Gruß von F. P.
 
H

HFleiss

Gast
An dieser Geschichte fallen mir Unstimmigkeiten auf:

1. In einem Frauengefängnis (auch Bautzen) werden Frauen von Frauen bewacht und nicht von Männern. Von daher ist die Geschichte reichlich mysteriös. Du sagst nirgends, dass ein männlicher Vernehmer ständig in die Zelle der Ich-Erzählerin gegangen ist, um sie zu vergewaltigen. Würde ich übrigens für unglaubwürdig halten, es gab strenge Vorschriften für den Umgang mit Häftlingen, und sie mussten eingehalten werden, und von daher wackelt meiner Ansicht nach die ganze Geschichte schon mal. Ich habe die Stasi-Angelegenheit nach der Wende sehr genau verfolgt, und ich kann mich nicht erinnern, dass Vorwürfe wegen Vergewaltigung von Häftlingen aufgekommen waren (und sie wären aufgekommen, und sei es, wenn es auch nur einen einzigen Fall gegeben hätte), sondern eher die üblichen Brutalitäten in Gefängnissen (übrigens nehme ich auch die der BRD nicht ganz aus, wenn es um Brutalitäten in Gefängnissen geht, man liest so was öfter mal in der Zeitung). Versteh mich richtig, natürlich passierte so einiges, Bautzen war scharfer Knast, und Brutalitäten passieren nun mal immer dann, wenn Menschen Macht über andere Menschen erhalten. Die Vergewaltigungsgeschichte kommt mir aber doch ein wenig unglaubwürdig vor.

2. Wenn die Ich-Erzählerin von einer Nachbarin denunziert worden ist, dann ist die Ich-Erzählerin nicht nur verdammt vertrauensselig gewesen, sondern auch reichlich unerfahren. Mir kommt es sogar vor, als habe sie nicht in der DDR gelebt, sondern auf irgendeinem Stern der Galaxis, wo die Gesetze der DDR unbekannt waren. Nicht wenigstens mal was von Buschfunk gehört? Meiner Erfahrung nach wusste jeder DDR-Bürger, dass Abhauen in der DDR bestraft wurde, zumindest das illegale Abhauen, in den achtziger Jahren sind legal ja sehr Leute viele in die BRD gegangen, auch wenn die Gesetzestexte im einzelnen nicht bekannt waren. Und wenn man sich mit solch einem Plan trägt, Himmel, wer redete denn dann darüber, noch dazu mit der Nachbarin? Im übrigen bin der Meinung, auch in der DDR wurden solche Anschuldigungen geprüft und nicht nur nach Verdacht oder auf unbegründete Denunziation hin eingesperrt.

3. Mit der Vergeltungsaktion toppst du die Unglaubwürdigkeit deiner Geschichte. Sie ist nicht nur ästhetisch in jeder Hinsicht abnorm und an der Kotzgrenze, mir scheint es sogar, die Ich-Erzählerin hat einen gewaltigen psychischen Knacks. Dass das in 30 Jahren niemand im Westen gemerkt haben soll, leuchtet mir nicht ein, zumindest die Arbeitskollegen würden doch aufmerksam geworden sein, der Mensch funktioniert doch mit dieser Macke nicht mehr wie üblich. Ich verstehe ja, dass ein Opfer von Vergeltungs-Gedanken getrieben sein kann, aber der Schritt bis zur Ausführung (und welcher Ausführung!) ist dann doch weiter, als du ihn in deiner Geschichte darstellst. Ich finde deine Geschichte noch nicht mal eklig, sondern halte sie für pathologische Wahnvorstellungen.

Ich würde auf den Wahrheitsgehalt des Textes nicht abheben, wenn du nicht so viel realistisches Material hineingebracht hättest. Im Grunde kommt es mir vor, als trätest du mit dieser Geschichte einen Leichnam mit Füßen. Hast du das nötig? Ich hatte auch in der DDR gelebt, ich bin auch mit der Stasi aneinandergeraten, habe also auch meine eigenen Erfahrungen, muss dir aber sagen, Tiere, so wie du das Schwein darstellst, waren es nicht, eher im allgemeinen bemüht korrekte Beamtenseelen und sächsisch sprechende Kleinbürger. Meine Erfahrung.

Literarisch, und darauf kommt es hier ja an, taugt das Ganze wenig, wenn der Wahrheitsgehalt so angeknackst ist. Du rechnest damit, dass man den Leuten im Westen alles erzählen kann, sie waren nicht dabei, sie beurteilen die DDR lediglich aus Westbesucher-Sicht - sie glauben alles. Trotzdem muss gerade eine solche Geschichte hieb- und stichfest sein, denn ich kann mir vorstellen, dass es auch heute noch Menschen gibt, die sich zumindest ihre Skepsis bewahrt haben. Mir scheint, du schwingst dich mit diesem Text auf ein Trittbrett, es ist modisch und opportun, die Stasi zu verteufeln, es ist ja in der Tat eine Menge vorgekommen, aber diese Geschichte ist doch ein wenig allzu billig. Womit ich keinesfalls die Praxis in politischen Gefängnissen der DDR verharmlosen will, sie war in der Tat nicht schön, aber welcher Knast ist eigentlich schön?

Gruß
Hanna
 
E

Elisabeth Merey-Kastner

Gast
Schönen Sonntag, MD Spinoza,

spät aber doch komme ich deiner Aufforderung nach und versuche, zu deiner Geschichte einen Kommentar zu schreiben.

Vorausschicken möchte ich, dass ich noch nie in einem Gefängnis gesessen und auch noch nie vergewaltigt worden war. Vor ca. 4,5 Jahren erlebte ich eine sehr unangenehme Situation, die wohl einer sexuellen Nötigung entsprach. Die anfängliche Todesangst wich allerdings einer plötzlichen Urwut. Wenn er mich angefasst hätte, hätte ich ihm wahrscheinlich seine Eier zertrümmert. Der Typ muss mir das angesehen haben und ließ mich frei.

Zur zeitlichen Abfolge:

Fünf Jahre nach der Wiedervereinigung, also 1994, kommt deine Protagonistin zum ersten Mal in ihre frühere Heimatstadt zurück, die sie vor 30 Jahren, also 1964, verlassen hatte. Davor war sie acht Jahre lang im Gefängnis gesessen, wurde also 1956 verhaftet. Ich nehme an, sie war damals mindestens 20 Jahre alt, muss also ca. 1936 geboren worden sein.

Meine Recherchen ergaben, dass Berlin Bautzen, Das Gelbe Elend, ein reines Männergefängnis gewesen sein soll. Das Frauengefängnis hieß Schloss Hoheneck. Genau kann ich das natürlich auch nicht wissen, ich war nie in der DDR.

Ich kenne einen Mann, der stammt aus Leipzig und war dort sowohl aus politischen als auch aus Kleingaunergründen eingesessen. Seit der Wende lebt er hier, gaunert nach wie vor ein wenig herum, zuletzt saß er 10,5 Monate irgendwo in Schwaben. Er ist mir trotzdem sympathisch, aus ihm könnte noch was werden, ich rede ihm immer wieder zu. Ich fragte ihn, ob er es wüsste, dass in der DDR weibliche Häftlinge nur von Frauen bewacht wurden (Kommentar HFleiss). Er sagte, sowohl von Männern als auch von Frauen. Eine andere Recherche ergab, dass Frauen nur von Frauen bewacht wurden. Da kenne man sich aus. Ich nicht. 1964 soll das Freikaufen durch die BRD auch noch nicht möglich gewesen sein, auch eine Auskunft eines Menschen, der es eigentlich wissen müsste.

Wenn aber diese Eckdaten oder Fakten nicht stimmen, dann stimmt die ganze Geschichte nicht. Oder ging es dir in erster Linie um die Rachegefühle deiner Prot. und um den brutalen Mord. Wenn ja, hätte ich andere Fakten, die stimmen oder stimmen könnten, rund um die Geschichte gebaut. So wie es ist, ist es schwierig.

Ich persönlich wäre, wenn ich meinem Peiniger nach so vielen Jahren wiederbegegne und ihn aufgrund seines Sprachfehlers und seiner Narbe eindeutig identifiziere, gleich zur Polizei gegangen und hätte ihn angezeigt. Spätestens hätte ich ihn dann angezeigt, als ich feststellen musste, dass er Frau und Töchter (wohl bei offenem Fenster – auch unüblich) vergewaltigt. Dann hättest du dir die Mordprozedur, deren Brutalität wohl nicht für deine Prot. spricht, gespart, und mir das Grausen.

Die sprachliche Ausführung finde ich gelungen. Es gibt ein paar Macken (einmal Alptraum statt Albtraum) und Längen, aber die gibt es in den besten Büchern.

HFleiss meint, man sprach mit den Nachbarn nicht ehrlich. Ich kann mich erinnern, dass meine Eltern in Budapest während des Stalinismus mit den Nachbarn sehr ehrlich sprachen, allerdings leise, bei geschlossener Tür. Von einem hieß es, er arbeite für die Geheimpolizei, dem ging das ganze Haus aus dem Weg, ich rannte immer davon, wenn ich ihn sah.
So long.
Nochmals schönen Sonntag
Elisabeth
 



 
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