Besuch

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pfifficus

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Besuch

Körn saß auf dem abgesessenen Ledersofa und rutschte unruhig hin und her. Ab und an sah er unruhig auf den Wecker. Acht Uhr fünfzehn. Sie hatte nicht gesagt, wann sie kommen würde. Aber sie würde doch bald kommen. Er wußte es genau. Er hatte sich mit dem Frühstück beeilt. Keine Zeit für ein langes Frühstück. Sowieso - es war immer dasselbe. Immer das gleiche Brot, der gleiche Aufstrich, der gleiche Ablauf. Die Schwester stellte die Brotkörbchen bereit. Der Frühstücksdienst deckte den Tisch. Heute hatte er sich geweigert. Frühstücksdienst! An so einem besonderen Tag! Nein.
Körn hatte ein wenig geschrien. Nicht zu viel. Nur die Schwester ein wenig erschrecken, damit sie einen anderen fände, der den Dienst übernähme. Ja- und dann dieses blöde Ei. Das Sonntagsei. Er hatte sich so beeilt, daß es ihm auf die Hose getropft war. Die Schwester ihm eine neue Hose bereit gelegt. Aufdringlich! Aber er hatte doch keine Zeit! Wenn er jetzt aufstehen, die Hose nehmen, sie anziehen würde.... Nein.
Rasch stand er auf. Er lehnte sich aus dem Fenster. Von hier konnte er die gesamte Straße beobachten und den Eingang. Durch den mußten alle gehen. Hier auf seinem Posten konnte ihm keiner entwischen. Wenn er nur schnell genug immer wieder zum Fenster zurückkehrte, könnte er sie sehen, noch bevor sie ihn sah. Aber wenn er jetzt die Hose anzieh... womöglich würde er sie doch verpassen und dann würde plötzlich die Tür aufgehen und sie wäre da. Nein, er wollte sie vorher sehen, wollte sehen, ob er sie erkennen würde. Wie würde sie aussehen? Wie laufen? Würde sie ihn hier oben am Fenster stehen sehen? Würde sie ihn erkennen? Die Straße war jetzt leer. Das alte Haus an seinem Platz, gleichmütig wie immer, als ob es nicht wisse, daß heute ein ganz besonderer Tag war. Zwei Jahre war es her, daß ihn jemand besucht hatte. Zwei lange Jahre, in denen er schon in diesem Haus wohnte. Niemals würde er sich daran gewöhnen. Nie Besuch. Aber heute, heute war es anders.
Körn drehte sich um und schaute auf die Karte. Jeden Tag hatte er die Schwester gebeten, sie vorzulesen, während er auf der Rückseite die Blumen betrachtete. Seine Blumen, nur für ihn ganz allein. Diese dummen Schwestern. Sie dachten wirklich, er könne nicht lesen. Es machte ihm Spaß, so zu tun, als ob er sie braucht. Aber er brauchte sie nicht. Abends hatte er die Postkarte mit in sein Bett genommen, hatte sie an sein Herz gedrückt, ab und zu das Nachtlämpchen eingeschaltet und sie noch einmal gelesen, noch einmal und noch einmal. Und heute war es endlich soweit. Erster Mai. Feiertag. Sie kommt. Zärtlich nahm er die Karte und drückte sie. Neun Uhr.
Wenn sie jetzt käme.... Über die Straße spazierte ein Mann. Er trug einen Hut und hielt eine lange Leine mit einem Pinscher. Eine Frau rief etwas und lief hinter ihm her. Das konnte sie nicht sein. Sie mußte jünger sein. Außerdem würde sie nicht über die Straße laufen. Sie würde mit einem Auto kommen, es in der Straße parken und die Eingangspforte öffnen. Dann würde sie zu ihm hinaufsehen, würde sehen, wie er hier oben im Fenster stand und würde lächeln, weil er auf sie wartete. Ja, so mußte es sein. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie das letzte Mal gesehen hatte. Es mußte lange her sein. Waren es fünf Jahre..., nein länger - zehn? Oder gar zwanzig? Er wußte es nicht mehr. Immer wenn er versuchte, sich an etwas zu erinnern, wurde es grau in seinem Kopf. Grau und verschwommen. Ihm wurde schlecht. Was würde sie von ihm denken? Wie würde sie es hier finden?
Er ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Zwei Betten. Er konnte es nicht ändern. Er teilte das Zimmer mit einem anderen, wie alle hier. Aber heute hatte er ihm gesagt, er solle sich verziehen. Er wollte Besuch empfangen. Sie könnten sich auf das Sofa setzen. Liebevoll strich er mit der Handfläche über die schwarze Rückenlehne. Ja, es war alt, aber es war doch noch gut. Und stabil. Er rückte das kleine rote Kissen zurecht. Ja, da könnte sie sitzen. Er würde der Schwester Bescheid sagen, sie solle einen guten starken Kaffee kochen. Der täte ihr gut nach der langen Fahrt. Und Kuchen. Am Nachmittag könnten sie Kuchen essen. Ob sie ihn mögen würde? Schnell lief er zum Spiegel, der über dem alten Waschbecken hing. Er spuckte sich in die Hand und strich die wenigen Strähnen nach hinten. Das Gesicht und die Haare müssen in Ordnung sein. Er rollte mit den blauen Augen und schnalzte mit der Zunge. Naja, Zähne hatte er keine mehr. Aber er konnte ja den Witz erzählen, den er immer erzählte, den von dem angeblichen Gebiß in der Hosentasche. Sie würde lachen und sicher würde sie darüber hinwegsehen. Oder? Vielleicht würde sie ihn abstoßend finden, würde von ihm wegrücken, da auf dem Sofa. Vielleicht hätte sie gar Angst vor ihm. Nein, damals da hatte sie auch keine Angst vor ihm gehabt. Sie war ein mutiges Mädchen. Schon damals. Sie hatte auf dem Fußboden gesessen und mit kleinen bunten Klötzchen gespielt und sie hatte sich gefreut, wenn er sich dazusetzte und ihr half, die Klötzchen aufeinanderzustapeln. Sie würde jetzt auch keine Angst vor ihm haben. Alles würde wieder so sein, wie es mal früher gewesen war. Früher... früher, als er noch eine Familie gehabt hatte, eine Mutter, Schwestern, Nichten und Neffen. Jetzt würde es einen neuen Anfang geben. Sie hatte keine Angst vor ihm. Sie nicht. Ja, die anderen. Damals, die hatten Angst gehabt. Er hatte sie gehaßt, wenn sie mit ihren vor Angst verzerrten Augen und Mündern auf ihn starrten. Dann hatte er sie erst recht geärgert. Sollten sie doch ruhig schreien. Püchisch. Sagten die Ärzte. Püchisch sei das. Er wußte nicht genau, was das war, aber es schien ihm eine gute Erklärung und es beruhigte ihn. Tick. Tack. Der Wecker zeigte neun Uhr siebenundfünfzig. Schnell durchquerte er das Zimmer, wischte die bespuckten Hände am Hosenboden ab und lehnte sich weit aus dem Fenster.
Die Sonne hatte sich ein wenig herausgewagt. Ja, heute schien die Sonne, an diesem besonderen Tag. Kleine Spatzen zwitscherten in den Zweigen der hohen Buche. Es würde bald wärmer werden. Eine junge Frau ging langsam den Bürgersteig entlang. Sie war auf der falschen Seite! Sie mußte doch auf diese Seite! Er winkte mit der Hand. Ob sie ihn sah? Die Frau schlenkerte mit ihrer Tasche, dann bog sie in einen schmalen Fußgängerweg, der zur Neubausiedlung führte. Nervös wechselte er von einem Fuß auf den anderen. Wann würde sie denn endlich kommen? Naja, sie hatte einen weiten Weg und vielleicht würde sie es nicht gleich finden. Er lauschte auf den Gang hinaus. Oder war sie vielleicht schon da? Schritte. Die Tür knarrte. „Herr Körn, Sie sollen doch die Hose wechseln. Wenn Ihre Nichte zu Besuch kommt, wollen Sie doch schön sein, nicht wahr?“ Das dicke blasse Gesicht grinste breit. Er öffnete den Mund, klinkte ein wenig den Kiefer aus und ließ ein paar Töne durch die Kehle dringen, ein paar die von ganz tief unten kamen, die machten besonders Spaß. Mit der Zunge stupfte er ein wenig den Speichel an, so daß ein schmales Rinnsal aus dem Winkel tropfte. Das reichte. Die Schwester zog hastig die Tür hinter sich zu. Er drehte sich um.
Hatte er etwas verpaßt auf der Straße? Heute war es ja leise. Wenn er sonst mal tagsüber in seinem Zimmer blieb - an diesen besonderen Tagen ... - ‘Schub’ nannten sie das. Dann hörte er den Lärm von der Baustelle. Ein Stück die Straße runter, hinter der nächsten Ecke bauten sie ein neues Haus. Einen Kindergarten. Irgendwann einmal würde er dann den Kinderlärm hören. Aber der störte ihn nicht, hatte ihn noch nie gestört. Wo blieb sie nur? Ob er sich doch die frische Hose anzog? Wenn er ganz schnell zum Stuhl ginge. Ruckzuck die Hose runter und die frische an. Aber wenn er dann mit einem Bein hängenblieb, stolperte und doch länger brauchte? Nein.
Tick. Tack. Machte der Wecker. Und wieder. Tick. Tack. Tick. Tack. Zehn Uhr dreißig, nicht ganz. So spät. Er umkreiste den Tisch. Zum Fenster. Niemand. Zum Waschbecken, die Haare. Noch einmal gespuckt. Zurück. Die Spatzen. Kein Mensch auf der Straße. Auf der Bank im Vorgarten saß Ernst. Der sollte bloß nicht hier auftauchen! Tick. Tack. Die Karte. Sorgfältig stellte er sie neben den Wecker. So, daß er das Ziffernblatt noch sehen konnte. Zehn Uhr zweiundvierzig. Zum Bett. Zum Waschtisch. Nebenan schrie jemand. Wahrscheinlich wieder Horst. Der hatte öfter Schübe. Der war ja verrückt. Dauernd hatte der Schübe. Jetzt würden sie gleich in sein Zimmer gehen und ihm eine Spritze geben. Dann wäre er wieder ruhig. Ja, püchisch, nannten sie das. Das beruhigte. Das gibt es. Das kannte er. Erst trat man von einem Fuß auf den anderen, man schaute aus dem Fenster, immer wieder und irgendwann, dann tauchten da diese Gestalten auf. Die waren dunkel und böse. Dann bekam man es mit der Angst. Da konnte man dann noch zurück. Man mußte nur aus dem Fenster schauen und sehen, daß die Sonne noch da war - und die Spatzen. Und daß da draußen niemand war. Nichts, rein gar nichts. Wenn man sich vergewissern konnte, dann konnte man sich selbst wieder beruhigen. Dann ging es wieder. Die Sonne scheint. Die Vögel zwitschern. Und draußen gibt es gar keine dunklen Gestalten. Keine Gestalten, die den Stock zogen. Oder das Gewehr auf einen richteten. Keine Gestalten, die einem Angst machten. Man brauchte nicht zu brüllen. Geht weg da. Weg. Tut mir nichts. Man brauchte sich nicht zu ducken, nicht die bloße Haut hinhalten, nicht sich verstecken. Man mußte nur wissen, daß sie nicht kamen. Sich ganz sicher sein..., ganz sicher.
Schnell lief er zum Fenster. Ein paar Kinder spielten jetzt auf dem Bürgersteig. Ernst saß auf der Bank. Eine Wolke zog über die Sonne und ein kühler Wind strich durch die Buche. Keine Gestalten. Aber Horst schrie noch immer. Der sollte einfach nur mal aus dem Fenster schauen. Aber manchmal, das wußte er, da half das auch nichts mehr. Tick. Tack. Schon fünf nach elf. Sie würde kommen. Das stand auf der Karte drauf. Sie hatte keine Angst. Nicht vor ihm. Sie hatte niemals Angst gehabt. Damals als er das Messer genommen hatte. Da hatte sie ihn auch nur angeschaut. Sie hatte nichts gesagt und sie hatte keine Angst gehabt. Sie hatte nicht diesen Mund, nicht diese Augen. Sie war anders. Auch als er einen schmalen Ritz in ihren Arm gemacht hatte, hatte sie diese ängstlichen Augen nicht gehabt. Sie hatte geweint. Ja. Aber nur geweint. Heute wußte sie ja, daß das püchisch war und sie würde es verstehen und es würde sie beruhigen, weil es ihn auch beruhigte. Wo sie nur blieb? Sie mußte bestimmt weit fahren, sonst wäre sie längst schon da. Er setzte sich auf das Sofa, strich das rote Kissen glatt. Dort könnte sie sitzen. Zum Fenster. Niemand. Die Schwester würde Kaffee für sie beide kochen. Sie würden reden. Er würde sie ansehen. Zum Spiegel. Zum Schrank. Ach, was wollte er am Schrank? Schnell wieder zum Fenster.
Kam sie jetzt durch das Eingangstor? Schritte. Spiegel. Kam sie durch den Flur? Hatte er sie doch verpaßt? Knarr, machte die alte Tür. Das fette blasse Gesicht. Er öffnete schon den Mund. Noch einmal das. „Herr Körn. Ihre Nichte hat angerufen. Sie kommt nicht.“ Er starrte in das runde Gesicht, der Ton kam von ganz unten. Er vergaß die Spucke anzustubsen. „Ziehen Sie jetzt mal Ihre frische Hose an, dann können Sie mit dem Ernst im Garten spazieren gehen.“ Knarr. Machte die Tür. Er drehte sich um. Die Karte auf dem Tisch. Sie stand doch noch da. Stand sie wirklich da? Eine dunkle Nebel hüllte sie ein. Dunkel? Nein, nein, sie würde kommen. Hastig eilte er zum Fenster, hielt einen Moment inne. Ein Schatten. War er durch das Fenster gehuscht? Nein, er konnte jetzt nicht zum Fenster gehen. Unmöglich. Sie würden da draußen auf ihn warten. Sie würden nur darauf warten, daß er gerade jetzt zum Fenster ging und dann würden sie ihn sehen. Sie würden solche Sachen mit ihm machen. Die Sonne. Weg. Weg, die Vögel.
Nebenan schrie Horst. Seine Kehle schmerzte. Schmerzte mit Horst. Dieser dumme Horst. Dauernd hatte er diese Schübe. Er brauchte doch nur mal zum Fenster gehen, hinausschauen und sehen, daß die Welt noch immer so war, wie sie immer gewesen war. So, wie sie immer gewesen war. Nebenan spritzten sie jetzt Horst. Langsam verebbte der Schrei in dem alten Gemäuer. Er spürte den Einstich in seinem Arm. Armer Horst, immer hat er diese Schübe.
 

Zefira

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Hallo, pfifficus,

hat Dich schon jemand begrüßt hier? Dann tu ich es also jetzt. Willkommen in der Lupe und auch gleich einen herzlichen Glückwunsch zu dieser gelungenen, fesselnden Geschichte.
Ob das Milieu ganz stimmt, kann ich nicht beurteilen, aber sonst stimmt für mich alles: die Perspektive, die Einzelheiten (das kleine rote Kissen!), die durchgehende Stimmung, melancholisch, hoffnungsvoll und fieberhaft zugleich. Herrlich, wie Dein Held die Schwester abblitzen läßt!

An dieser Stelle hier

>Die Sonne scheint. Die Vögel zwitschern. Und draußen gibt es gar keine dunklen Gestalten. Keine Gestalten, die den Stock zogen. Oder das Gewehr auf einen richteten. Keine Gestalten, die einem Angst machten..... <
würde es mir besser gefallen, wenn Du im Präsens bleiben würdest: "... die den Stock ziehen" usw. bis zu "... ganz sicher sein."

Vielleicht sollte die Schwester auch sagen "Ihre Nichte kommt leider nicht"? Ein klein wenig Bedauern ist doch wohl nicht zu viel verlangt...

lG, Zefira
 

AliQuelle

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Hallo Pfifficus!
Ich habe mich so sehr mit dem Körn identifiziert, mir wurde richtig meliert in der Brust (was das wohl heisst?). Ich gratuliere zu diesem Text. Deine anderen Geschichten gefallen mir wohl auch, aber diese trifft. Ich musste eine gute Weile warten, bis ich dazu etwas schreiben konnte. Und ich schreibe auch jetzt nur, damit ich geschrieben habe. Du sollst es halt erfahren, dass die Geschichte mich beschäftigt. Eigentlich bin aber immer noch sprachlos.
(Nebenbei freut es mich sehr, dass sie auch von anderen sehr gut bewertet ist)
Es grüsst AliQuelle.
 



 
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