Betty

Antaris

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Betty

An einem Nachmittag, an dem ich am wenigsten mit ich gerechnet hätte, war sie wieder da. Zuerst sah ich sie nicht, hörte nur ein übermütiges Kichern. Das war ihre Art, Späße zu treiben. „Betty? Komm hervor, ich weiß, dass du hier bist.“

„Tatarata.“ Die Kleiderschranktür flog auf und heraus stieg Betty. Sie war stark geschminkt wie immer, trug ein schrilles und gewiss exorbitant teures Kostüm, und kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. „Wenn ich schon in der Gegend bin, muss ich natürlich bei dir vorbei schauen,“ sagte sie und lockerte ihre Umarmung. „Was gar nicht so einfach ist, seit deine Tochter mir Hausverbot erteilt hat. Ich musste mir schon etwas einfallen lassen, um überhaupt hier rein zu kommen.“

Ja, meine Tochter war ein trauriges Kapitel in meinem Leben, das vergaß Betty manchmal. „Betty, du verrücktes Huhn, sei bitte leiser, sonst kommt sie herauf und macht Ärger.“

Betty lachte nur ausgelassen. „Ich habe sie weg fahren sehen. Machen wir uns einen netten Nachmittag.“ Plötzlich wurde sie ernster. „Was ist eigentlich aus der Gerichtssache geworden von der du mir letztes Mal erzählt hast?“

„Das Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung wurde eingestellt. Die Beweislage reichte nicht aus für ein Urteil gegen mich. Herrje, das ist auch schon fast ein halbes Jahr her seit wir zuletzt telefoniert hatten.“ Anstelle einer Antwort umarmte sie mich noch einmal, und mir tat es unendlich leid, .dass ich diese Freundschaft nicht besser gepflegt hatte. Plötzlich hielt Betty inne. „Du nimmst Medikamente?“ Sie steuerte auf den Nachttisch zu und hob eine Packung auf. „Das hier ist schon ein Klassiker: Haldol. Seit Jahrzehnten eine Stütze der modernen Psychiatrie, und in Kombination mit den anderen Sachen, die ich hier sehe, schon ziemlich heftig, aber was willst du mit dem Zeugs?“

Natürlich, sie kannte sich aus. Als Ärztin hätte ihr niemand Psychopharmaka unterjubeln können, während ich mich wochenlang mit den Beipackzetteln schwer tat. Sollte ich ihr sagen, dass ich die Pillen Teil eines perfiden Plans sah, den meine Tochter und dieser Kerl gegen mich geschmiedet hatten? „Ich nehme nichts mehr davon“, begann ich. „Es ging mir nicht gut damit, also habe ich die Medikamente abgesetzt.“

„Gut so.“ Betty war sichtlich zufrieden. „Mir stellt sich nur die Frage, wie du da dran gekommen bist. In fast fünfundzwanzig Jahren als Hausärztin bin ich nie in die Verlegenheit gekommen, so etwas zu verordnen.“

Ich wollte antworten, aber im Erdgeschoss waren Schritte hören. „Betty, du musst verschwinden, schnell“, sagte ich, dann knarrten die Treppenstufen. „Ich schaue noch einmal bei dir vorbei ehe ich heim fahre“, versprach sie, und drückte kurz beide Hände. Die Zimmertür öffnete sich, und meine Tochter grinste. „Na, mit wem hast du denn geredet?“ Der spöttische Unterton war nicht zu überhören. In meinem Rücken spürte ich einen kühlen Luftzug von der Balkontür, und ich wusste, dass Betty verschwunden war.

Respektlos, anmaßend, stinkfaul und habgierig, so war meine Tochter. Keiner höheren Schulbildung oder vernünftigen Ausbildung würdig hangelte sie sich von Job zu Job, wobei ich mich sehr wunderte, dass sie immer wieder einen Dummen fand, der sie einstellte wenn ihre Verträge ausliefen. Ich habe sie von dem Augenblick an gehasst, in dem sich ihr bisschen Leben in meinem Schoß ausbreitete. Ich hatte diesen Fehler einer leichtsinnigen Laune zu lange ignoriert, um ihn zu korrigieren und durfte mich fortan als allein erziehende Mutter durchschlagen, während meine Kommilitonen ihre Wege machten. Betty wurde irgendwann Frau Dr. Bettina Bahr und Assistenzärztin in einer Großklinik, und ein paar Jahre später übernahm sie eine Hausarztpraxis irgendwo im Speckgürtel von Berlin. Ich wurde nur älter und zog irgendwann zurück in mein Elternhaus, versuchte, die etwas in die Jahre gekommene Stadtvilla so gut es ging in Schuss zu halten. Aus meiner leicht pummeligen und ewig motzigen Teenager wurde natürlich keine Schönheit, aber eine zugegebenermaßen ansehbare junge Frau, die auch ihre unvorteilhaften Charakterzüge zu verbergen wusste. Also lag es an mir, zu verhindern, dass zuviel Schaden anrichtete. Sogenannte Freizeitaktivitäten schränkte ich stark ein, und sorgte für sinnhaltige Beschäftigungen. Natürlich bestand sie die Handelsschule nicht, und sie brach die Verwaltungslehre ab. Hinter meinem Rücken trieb sie sich herum.

Ich wusste nicht, wann und wo sie den Kerl kennen gelernt hatte, der plötzlich in meinem Haus auftauchte. Schlacksig, vordergründig nett und stets gut gelaunt präsentierte er sich, aber ich kam bald dahinter, dass er über eine seltene Begabung verfügte. Fortan las ich alles, was ich über Telekinese fand: die Fähigkeit, Gegenstände durch Gedankenkraft zu bewegen. Ich konnte nicht sagen, wie stark seine Begabung ausgeprägt war, aber für mich konnte es sehr gefährlich werden, wenn er beispielsweise Elektrogeräte in meinem Haus so unter seine Kontrolle brachte. Etwa zur gleichen Zeit begannen die Beiden, heimlich Botschaften auszutauschen, die sie in scheinbar zufällig herum liegen gelassenen Tageszeitungen versteckten.

Hinter die Geheimnisse der Tageszeitungen kam ich nie, aber ich fand heraus, dass der Kerl eine Achillesferse besaß. Er hatte sogenannte Jugenddiabetis, und tatsächlich starb er unten im Salon an Unterzuckerung. Es gab eine riesige Aufregung, und ich bekam jene Medikamente, die Betty vorhin beanstandet hatte, für meine Nerven.

Ein schepperndes Geräusch riss mich aus meinen Gedankengängen. Betty stand draußen klopfte mit einem Schlüsselbund gegen die Balkontür. Es war dunkel geworden und hatte geregnet, sie bibberte vor Nässe und Kälte. „Um Himmels willen, warst du die ganze Zeit da draußen?“ Nachdem sie meinetwegen quer durch die Republik gereist war, hatte ich sie zu schlecht behandelt, aber sie schien es nicht übel zu nehmen. „Wo hätte ich sonst hin gekonnt?“ Sie grinste und machte eine Kopfbewegung zum Geländer hin. „Aus dem Alter für waghalsige Kletterpartien sind wir heraus, oder?“

Ich gab ihr ein Handtuch, einen Hausanzug und einen Mantel. „Wieviel Zeit kann eine Person haben, der an Unterzuckerung leidet,“ fragte ich.

„Unterzuckerung heißt, dass der Patient auf ein diabetisches Koma zusteuert, und Koma geht langsam. Es handelt sich um ein eher gemächliches Weggleiten aus dem Bewusstsein. Zuviel Zucker im Blut kann in diabetischen Schock enden, und das kann recht flott passieren.“ Sie hielt inne. „Du hast dem Kerl Insulin nachgespritzt?“

„Woher weißt du das?“

Ihre Augen verengten sich. „Ich kenne dich schon ein paar Jahre, und vielleicht besser als du dich selbst kennst.“

„Ich wollte, dass es schneller geht.“

„Immerhin hast du die Sache durch gestanden. Fühlst du dich jetzt ein bisschen freier?“
„Vielleicht“, antwortete ich. Meine Tochter war immer noch bei mir, und versuchte, die Kontrolle über mein Leben zu erlangen. Die Medikamente waren nur eins ihrer unlauteren Mittel, was Betty glücklicherweise ohne langatmige Erklärungen verstand. Leider war das junge Ding das blühende Leben selbst ohne gesundheitliche Schwächen. „Hast du eine Idee?“, fragte ich meine treue Freundin.

Betty warf mir einen langen, vieldeutigen Blick zu. „Ich kann dir hier nicht weiterhelfen“, sagte sie. „Ich bin Ärztin, keine Staatsanwältin.“

Es gab Dinge, die ich alleine regeln musste. Für den Rest des Abends mied ich das Thema. Lange nachdem es im übrigen Haus ruhig geworden war, schlich Betty das Treppenhaus herunter. Ich begleitete sie schloss die Haustüre auf und wir verabschiedeten uns auf unbestimmte Zeit. Dann begab ich mich ins Zimmer meiner Tochter, nahm eine zusammen gefaltete Wolldecke, und drückte sie auf ihr Gesicht. Sie wachte auf, wehrte sich, und ich stemmte mich mit meiner ganzen Kraft gegen sie. Die Ärzte sollten später an meinem linken Unterarm einen doppelten Unterarmbruch fest stellen. Ich war nur wieder entsetzt darüber, wie lange es dauerte, aber letztendlich starb sie.

Im Morgengrauen holte ich die Polizei. Die Aufregung, die in den nächsten Tagen um mich herrschte, fand ich überraschenderweise nicht unangenehm, bis ich an den Hauptkommissar Wolfgang Nöllgen geriet.

„Verdacht auf Paranoide Schitzophrenie.“ Der Kripomann sprach es so aus, wie ein Koch ein besonderes Gericht ankündigt. Dabei war er so mürrisch und gereizt, wie meine Tochter zu schlimmsten Zeiten. „So lautet ein Akteneintrag, eher eine Randnotiz aus dem vergangenen Jahr. Ich bin darauf gekommen nachdem sich eine eklatante Lücke im Melderegister aufgetan hat: Es gibt keine Frau Dr. Bettina Bahr. Auch an der von Ihnen genannte Universität war noch nie jemand mit diesem Namen immatrikuliert, in der Ärztekammer kennt sie auch niemand. Damals als der Lebensgefährte Ihrer Tochter starb, konnte Ihnen niemand ein Fehlverhalten nachweisen, heute ist die Sachlage klar. Was mich persönlich daran ärgert, ist, dass sich Richter und Gutachter vermutlich einigen, dass von Ihnen keine Wiederholungsgefahr ausgeht. Und da Sie zum Tatzeitpunkt gewiss nicht zurechnungsfähig waren, sind Sie in paar Jahren frei. Leben Sie wohl.“
 



 
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