Beziehungsweise Schnee

Ingwer

Mitglied
Es regnet Federn, zumindest sieht es so aus. Weißes Schweben vor dem dunklen Tuch, das noch weit unter der Stelle zu schweben scheint, wo sonst der Himmel hängt. Würde die Wolkendecke einen Moment lang aufreißen, könnte man den Vollmond vielleicht sehen. So jedoch bleibt es dunkel- und still. Schnee dämpft Geräusche und deckt Verdächtiges zu, verwischt verräterische Spuren, rieselt auf Beweisstücke. Schnee ist Unschuld. Weiß wie Milch, unverdorben wie das Neugeborene, das sie trinkt.

Ich hatte mir vorgenommen, nicht am Fenster zu stehen; ja sogar, mich nicht im Wohnzimmer aufzuhalten. Dieses Zimmer ist nämlich das einzige, das zur Straße zeigt. Diese Fenster sind die einzigen, durch die man heranfahrende Autos sehen und sogar hören kann.
Ich hatte mir vorgenommen, nicht auf sie zu warten.
An meinen Entschluss geglaubt, hatte ich nicht,
Was sollte man auch anderes erwarten, nachdem wir uns frisch getrennt hatten. So frisch, dass die Wunde nicht nur noch nicht verheilt war, sondern noch nicht einmal richtig angefangen hatte zu bluten.
Ich war mittags erst nach Hause gekommen.

Wie nicht anders erwartetet, stehe ich nun also doch am Fenster, sehe deutsche und japanische Autos vorbeifahren.
Warte auf einen Peugot. Ihren Peugot.

Die Schuldfrage ist bei Trennungen vielleicht nicht die wichtigste überhaupt, jedoch sehr nützlich, wenn es darum geht, ein bisschen Schmerz zu bewältigen, Entscheidungen nachträglich wohlwollend zu bestätigen und sich selbst als armes hintergangenes Opfer zu sehen (welches natürlich durch märchenhafte Fügung den Klauen einer schrecklichen Furie nur kapp entkam).
Wir hatten viel diskutiert.
Mein Kopf rotiert immer noch, obwohl von Zigaretten und viel zu viel Bier gestern abend noch malträtiert.
Die Erde ist rund- und es gibt nur eine Himmelsrichtung.
Ich versuche, wegzudenken, nicht den Horizont zu streifen, und doch kann ich es nicht verleugnen, nun, da ich alleine in meiner Wohnung bin.
Ich bin schuld.


Mittlerweile fahren kaum noch Autos vorbei. Nachts schläft der Ort. Und der Schnee hat sich von der Luft auf den Boden begeben. Bedeckt- wie der Himmel.
Es ist immer noch dunkel und kalt, als ich hinaustrete.
Ich gehe schnell, aber orientierungslos.
Es gibt nur eine Richtung. Wohin ist egal.

Meine Knie brennen, als ich mich hinunterlasse. Ich bin am Dorfrand, wo die Felder beginnen, wo der Boden hart und schneeweiß ist.
Ich knie und wickle mein Gesicht in meine Hände, als ob ich mich vor dem Mond verstecken wollte, der ausgerechnet jetzt durch die Wolken bricht und meine Demutsszene beleuchtet,
und- ich weine.
Meine Schuld versickert im Weiß.

Als ich nach Hause komme, sehe ich, dass sie in der Zwischenzeit meinen Kram aus ihrer Wohnung herübergeschafft hat. Eine Tüte voller Zahnbürsten, Rasierzeug.
Der Rotwein von letzter Woche ist auch noch da. Ungeöffnet.

Ich brauche Ablenkung. Ich rufe Nadine an. Ich türme Schuld auf wie Sprühsahne auf Kakao. Baue mir ein Haus.

Und morgen lasse ich mich einschneien.
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Ingwer,

Klasse!!! Als ich den zweiten Absatz las, dachte ich, wie will er nach dieser Einleitung bei der Kürze des Textes (ich hatte den dicken Scrollbalken im Augenwinkel) jetzt überhaupt noch die Kurve kriegen? Er hat sie glänzend genommen, ohne auszurutschen - und das bei soviel Schnee. Kompliment.

Gruß Ralph
 

Ingwer

Mitglied
...

Hallo Ralph,

danke für das Kompliment... dabei ist der Text eben ganz spontan entstanden. Wozu Trennungen nützlich sein können...
Achja: Und ICH bin eine sie ;-)

LG,
Ingwer
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
liebe ingwer,

das ist eine bemerkenswerte geschichte, die du in sehr schöner sprache rübergebracht hast. gratuliere. ganz lieb grüßt
 

Ingwer

Mitglied
Danke...

... über ein bisschen Bestätigung freut man sich doch immer :)
Wünsche mal ein schönes neues Jahr in die Runde, jetzt schon!

Liebe Grüße
Ingwer
 



 
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