Biggi II

Markus Veith

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Fortsetzung von "Biggi":
Ich lasse mich einfach zur Seite sinken. Leise wabert es unter mir. Dann geht vor meinen Lidern das Licht aus. "Schlaf gut", meine ich noch zu hören, dann wickelt mich die Dunkelheit in ein schweres, warmes Samttuch, durch das ich für einige Augenblicke noch die mattgrau gefärbten Umrisse des Fensters erkennen kann. Einen weiteren Augenblick verharre ich. Drei Augenblicke. Ich sinke tiefer. Vier Augenblicke. Noch tiefer. Und es wird warm dabei. - Fünf.
Eine Stimme. Irgendwo im Hintergrund. Dunkel ist es dort. Wie ein schlecht beleuchtetes Bild im Fernseher. Dann wird es deutlicher. Erst nur heller, dann auch schärfer.
Ich sitze. In einer Reihe von Menschen. Viele Menschen. Vierzig. Fünfzig. In Sitzreihen. Jetzt applaudieren alle. Die Menschen um mich herum stehen auf und alle klatschen. Ich fühle mich irgendwie ertappt, stehe auf und klatsche auch. Ich schaue nach rechts. Eine dicke, alte Frau grinst mich breit an.
"Ist er nicht wundervoll?" kiekst sie.
"Ja, toll", sage ich, ohne recht zu wissen, wen sie meint. Ich schaue nach vorn. Ein Mann, Schnauzer, schwarze Haare, Brille, sitzt an einem Tisch, vor ihm ein Mikrofon. Er erhebt sich nun, verbeugt sich und murmelt ein "Danke" nach dem anderen. Von links spricht mich eine Stimme an: "Nun geh' schon. Gib ihm dein Buch." - Julia Verklenberg. Ich war mal mit ihr zusammen. Ich stehe in einer Menschenschlange. Viele, viele Leute. Sie stehen auf einem Laufband, das in ruckartigen Intervallen weiterläuft und wieder hält. Vor mir in der Schlange steht Julia. Beinahe wäre sie bei dem Vorrucken des Laufbandes gestürzt.
Alle haben ein Buch in der Hand. Ich auch. Ich schaue auf den Einband.

'Biggi und der Wolf'

Wir gelangen an einen Tisch. Der dunkelhaarige Mann mit dem Schnauzer sitzt dahinter und drückt einen Stempel in die Bücher, die ihm die Leute auf dem Förderband vorlegen. Der Schnauzer und die Brille passen nicht zu ihm. Der Bart ist sichtbar angeklebt. Das Gesicht habe ich schon mal gesehen. Dieser verkniff- ene Mund ... Ich versuche, ihn ebenso verkniffen zu imitieren.
Julia kommt dran. Strahlend freundlich sagt sie: "Könnten sie wohl bitte dazuschreiben: 'Für Julia Verklenberg'. Ach, das wär' nett."
Der Typ mit dem angeklebten Schnauzer grinst gekünstelt.
"Verkelberg war das, ja?" fragt er nochmal nach.
"Nein. Verklenberg", wiederholt sie verbissen. Das hat sie immer tierisch gefuchst. "V-E-R-K-L-E-N Berg."
Dieser Typ holt einen Kuli hervor und erfüllt ihr den Wunsch. Bevor er schreibt, klickt er affektiert drei, vier Mal die Miene rein und raus. Ich will kein Autogramm von diesem Knilch und wir gehen den Gang entlang zu einer Tür. Julia öffnet sie und wir betreten ein Zimmer, mein Zimmer, daheim. Eine Hitzewelle schlägt mir entgegen.
Doch Moment! Dies ist nicht mein Zimmer. Es sind nur meine Möbel. Alles in diesem Zimmer gehört mir, doch mein Zimmer daheim ist es nicht. Dieser Raum ist recht groß und hoch, bestimmt drei Meter. Vermutlich eine Eckwohnung in einem Altbau, denn sie hat zwei Fenster.
Aber ich wundere mich nicht weiter. Sogar meine Unordnung ist hier und eine Rose steht auf dem Tisch. Was soll ich mir also Sorgen machen? Ich werfe das Buch auf mein Bett und drehe das Thermostaträdchen herunter.
"Eine Bullenhitze hast du hier", bemerkt auch Julia stellt ihr Buch in meinen Schrank, was mich etwas stutzig macht, doch denke ich nicht weiter darüber nach. "Kein Wunder, das deine Pflanzen vertrocknen." Sie geht zum Fenstertisch, wo einige Veilchen und Primeln in Töpfen stehen. Meine Mutter hat mich mal mit ihnen versorgt. Ich mag sie nicht, trau mich aber auch nicht, sie wegzuschmeißen.
"Wie kann man sich nur so häßliche Pflanzen halten?" fragt Julia bissig, während sie mit der ausrangierten Teekanne die matten Blumen versorgt. "Ich hasse blühende Zimmerpflanzen. Die sind so pflegeaufwendig."
"Ich habe sie nicht freiwillig", knurre ich und werfe mich in meinen großen Korbsessel. Ich streife die Pantoffeln ab und will die Füße auf die Tischkante legen, doch der niedrige Tisch ist voll mit Krimskrams. Vorsichtig schiebe ich die schlanke Vase beiseite, damit meine Füße Platz haben.
"Außer Rosen", sagt Julia plötzlich und ich bemerke, daß sie mich lächelnd beobachtet. "Aber du behälst ja alle Rosen für dich."
"Stimmt gar nicht", verteidige ich mich und nehme die Rose aus der Vase. Ist eh kein Wasser mehr drin. "Ich habe dir mal eine geschenkt. In der Kneipe."
Julia wendet sich abwinkend ab.
"Och, ja. Die eine. Ganz im Anfang. Da warst du furchtbar betrunken."
Ganz beiläufig greife ich zu einem Filzstift, der unter all dem Zeugs auf dem Tisch liegt und male mit ihm die helle Schnittstelle der Rose blau aus. Das hatte ich damals auch gemacht.
"Da", sage ich und strecke ihr die etwas durstig aussehende Pflanze hin. "Nummer zwei."
Julia dreht sich um, schaut zunächst erstaunt, dann freudig. Beides wirkt so gekünstelt, wie es nur eben geht. Aber sie weiß ganz genau, daß ich das weiß. Und sie weiß auch ganz genau, wie verdammt süß sie in diesem Augenblick für mich aussieht. Mit ihren grünen Augen, den leicht gewellten, dunkelblonden Haaren. Sie kommt auf mich zu und ich weiß im ersten Augenblick nicht, ob sie es gut meint oder ob sie empört ist. Ich weiß das nie bei ihr.
Dann explodiert sie. Alles um mich herum löst sich einfach auf. - Nein, - es schmilzt. Das Bild fließt in eine Finsternis hinunter. Schwindel wabert in meinem Kopf und ich bin nicht mehr sicher, ob ich noch in dem Sessel sitze. Doch, es ist der Sessel. Das Rattangeflecht knarrt unter mir. Oder unter uns? Da ist ein erregendes Gewicht. Es bewegt sich auf und ab. Räkelt sich auf mir. Verwöhnt mich, während ich darunter in der Dunkelheit sitze. Aber ... sitze ich überhaupt? Doch. Und Julia sitzt auf mir. Reitet. Ich spüre sie. Glaube, sie zu riechen. Ihre Haut - sie scheint in meine Haut einzutauchen, als würden sich zwei Pfützen aneinanderschmiegen. Sie ist in meinem Mund. Ihr Mund ist in meinem Mund. Ich kralle meine Finger in Stoff. Ich liege flach. Dies ist kein Sessel. Ich kann nichts erkennen. Es ist dunkel. Nur Haut um mich herum. Und grüne Augen. Ich höre ein Pumpen, ein Pulsieren, das stetig schneller wird. Es gerät in Extase. Mein Gesicht brennt. Es ist von etwas umgeben, davon eingehüllt. Etwas Weiches, Heißes, Waberndes. Julia schreit. Laut. Der Schrei hallt wie gegen hundert ferne Wände. "Fasse mich an! Fasse mich an! Halte mich ganz fest! Reite mit mir, mein Wolf!" schreit sie mir durch die Dunkelheit zu. Links ist ihre Stimme weit weg. Rechts scheint sie mir direkt ins Ohr zu brüllen. "Reite mit mir, mein Wolf! Reite mit mir nach England." Ich versuche den Kopf zu schütteln. Ich will das nicht, was sie mir sagt. Meine Zunge ist völlig außer Kontrolle. Sie klebt an etwas Weichem, Feuchtem; was mein ganzes Gesicht bedeckt. Und immer wieder schreit Julia. Ich bin total erschöpft; spüre meinen Körper ab den Lenden abwärts nicht mehr. Ein Gefühl, als habe sich ein meterhoher Obelisk aus meinem Körper gebohrt. Meine Finger krallen sich so fest, daß mein Halt zu reißen droht. Alles um mich pulsiert wie verrückt. Ich spüre nicht nichts - ich spüre zu viel. Überall ist alles. Oben ist unten. Unter anderem. Es wird schneller. Alles wird schneller. Es überschlägt sich. Ich halte die Luft an. Erzittere. Julias Schrei sickert in die Finsternis. Ich glaube für einen Moment, so etwas wie Sterne oder Funken zu sehen. Wie Blitzlichtgewitter. Julias frauliche Gestalt flammt vor mir auf und erlischt wieder. Ich nehme alle Kraft zusammen. "Nein!" schreie ich. Wahrscheinlich nach vorne. Wieder explodiert alles. Farben klatschen an mir vorbei gegen eine vorher unsichtbare Wand. Gleichmäßig verteilen sie sich zu einem Muster. Warme Pastellfarben ordnen sich zu weißgetrennten Kreisen und Dreiecken. Julias Gesicht taucht vor mir aus der Tiefe auf. Ihres ist ganz nah bei meinem. Doch ich sehe auch ihre nackten, glatten Schultern. Sie hat nun kurze Haare. Ein Gedanke von mir bemerkt, daß diese Frisur sie erwachsener macht.
"Nein?"
fragt sie atemlos. Sie schaut mich ungläubig an. So, als könne sie es nicht fassen. Es gelingt mir, den Kopf zu schütteln.
"Nein",
sage ich. "Sei du meinetwegen dort und ich hier. Aber wir können dann nicht zusammen sein."
Ihre grünen Augen funkeln zornig. Oh, ich kenne dieses Funkeln noch sehr genau. "Aber du hast doch gesagt, daß du mich ..." Sie stockt keuchend. "..., daß du mich..."
"Ich weiß, was ich gesagt habe", bringe ich hervor. "Aber ich kann nicht."
Wind kommt auf. Ich erfriere und verbrenne gleichzeitig. Julias kurze Haare wehen zu allen Seiten auseinander, werden vom Wind auf ihre mir bekannte, leicht gewellte Länge gezogen ... Der pastellfarbene Hintergrund flimmert vor Hitze.
"Du hast es geschworen!!!!" brüllt sie. Es klingt unmenschlich. "DU HAST ES MIR GESCHWOREN!!"
Sie hebt beide Hände und schlägt zu. Ich weiß nicht wohin. Ich kann es nicht sehen. Doch ich spüre die Schmerzen. Sie sind überall. In meinem Kopf, meinen Gliedern, meinen Innereien. Immer wieder und wieder schlägt sie zu. Ich müßte bluten. Ich verblute! Julia gebährdet sich wie wild.
"DU HAST ES GESCHWOREN! DU HAST ES MIR GESCHWOREN!"
Ich versuche mich zu wehren, doch ich greife einfach durch sie hindurch. Keinerlei Wiederstand. Es scheint sie nichts stoppen zu können.
"Du Sau!" schreie ich verzweifelt und höre, wie meine Stimme sich überschlägt. "Laß mich in Ruhe, du Sau, laß mich in Ruhe!"
Ihr Gesicht vor mir wird größer und größer.
"SAU? SAU? JA!" sagt ihre total entartete Stimme. "ICH BIN EINE SAU!" Ihr Gesicht wird noch größer. Schmerzen! "ICH BIN EIN SCHWEIN!" Mein Kopf! Mein Magen! Schmerz! Ich sehe nur noch ihren Mund. "ICH BIN EIN FERKEL! ICH BIN EIN FERKELBERG!" Schmerzen! Sie wird mich zerbeißen. Ich zerspringe, berste! "F-E-R-K-E-L-BERG!!"
Mit einem Ruck richte ich mich auf. Alles unter mir wankt und gluckert. Durch ein paar Mal Schlucken versuche ich, meine Kehle freizubekommen. Sie fühlt sich entzündet an. Zitternd bemühe ich mich, mein verschwitztes Japsen unter Kontrolle zu bekommen. Ich habe Mühe, meine Arme ruhig zu halten, die mich auf dem durchnäßten Laken stützen.
Ich schaue auf die Uhr hinter mir auf der Fensterbank. - 14:43 - Meine Rechnung sagt mir, daß ich fast siebzehn Stunden geschlafen habe. Und trotzdem fühlen sich meine Ohren so taub an, als hätte ich in dieser Zeit in der Disco vor den Lautsprechern getanzt. Ein dünner Pfeifton durchzieht mein Hirn wie ein leises, winselndes Fiepen.
Im Hintergrund, noch hinter diesem Ton, vernehme ich leise Geräusche aus der Küche. Es dauert eine ganze Weile, bis ich die Reste des Traum-Puzzles einigermaßen sortiert habe und es bereitet mir arges Kopfzerbrechen, mich an all das zu erinnern. Was war das alles?
Julia Verklenberg.
Der Name kramt deutliche Bilder aus der Vergangenheit hervor. Ich lehne meinen Kopf an die Wand und halte meine Augen geschlossen. Das macht mir das Erinnern erträglicher.
Vor einigen Jahren waren wir mal zusammen. Wir waren beide sechzehn Jahre alt, als unsere Beziehung in der Schule begann. Sie ging weiter aufs Gymnasium und machte ihr Abi. Ich machte meine Lehre und brachte danach meinen Zivildienst hinter mich. Sie war ganz vernarrt in Tiere aller Art und begann nach der Schule eine Lehre als Tierpflegerin. Nachdem ich nach dem Zivildienst zwei Jahre gearbeitet hatte, holte ich mein Abi in der Abendschule nach. In dieser Zeit hatte ich sehr wenig Zeit für sie. Irgendwann bekam sie ein Angebot von einer Verwandten, ein Jahr in England zu arbeiten. Ich glaube, es war ihre Tante. Die war Tierärztin und hatte eine Praxis in Bristol und bot ihrer Nichte an, bei ihr als Assistentin zu arbeiten. Julia wäre dumm gewesen, dieses Angebot auszuschlagen. Und sie dachte auch gar nicht daran. Ich war zwar zuerst nicht unbedingt davon begeistert, doch beim zweiten Nachdenken wurden mir die Vorzüge klar.
Unsere Beziehung war nach sechs Jahren ziemlich langweilig für mich geworden und irgendwie war es mir recht, daß sie weggehen wollte. Julia jedoch gar nicht. Sie war bis dato gar nicht auf die Idee gekommen, unsere Beziehung der Entfernung wegen aufzugeben. Für mich war das jedoch eine klare Sache. Sechs Jahre hin, sechs Jahre her - es war eine schöne Zeit, aber jetzt hatte ich auch irgendwie keine Lust mehr.
Julia war kurz davor, ihr Jahr in England wegen mir fallenzulassen. Doch ich sagte ihr, ob sie bliebe oder nicht, es käme auf dasselbe heraus. Ich hatte mich so an die Gedanken der Trennung und der Freiheit gewöhnt, daß sie mir richtig gut gefielen.
Julia machte mir eine scheußliche Szene, an die ich nicht gern zurückdenke. Einige Wochen später, nach ihrer Abschlußprüfung, war sie in Richtung England verschwunden und ich habe seitdem nie wieder etwas von ihr gehört, gelesen oder gesehen. Und es ist mir bisher, ehrlich gesagt, auch nicht unrecht gewesen.
Und jetzt? Jetzt hat ein kurzer Gedanke an Julia, zu dem mich ihr Fotografierstil geführt hat, gereicht, mich in die wildesten Fieberträume mit ihr zu verirren? Unfaßbar.
Und all die Dinge, an die sich der Traum noch erinnert hat. Der Geruch ihres Körpers. Ich habe ihn jetzt noch in der Nase. Ihre Mimik, ihre Art, sich schwungvoll umzuwenden. Alles ist vollkommen realistisch gewesen und ich habe jetzt noch die Bilder vor Augen. Ich glaube nicht, daß dieser Traum so schnell wie üblich aus meinem Kopf verschwindet.
Aber auch diese ganzen Kleinigkeiten. Die Sache mit den Pflanzen und der angemalten Rose. Dann dieses Pastell-Muster. Das hatte doch auch mit ihr zu tun. Momentan kann ich mich nur noch nicht entsinnen, in welcher Weise. Fällt mir sicher noch ein.
Und wie wir in meinem Korbsessel ... Ja, auf den Sessel war sie immer neidisch gewesen. Und die Lesung von Günter Grass. Da war sie doch damals auch mit. Aber im Traum ... das war doch gar nicht Grass. Der Grass in meinem Traum war jemand anderes, der nur als Günter Grass verkleidet war ... Ich schaue hinüber zum Schreibtisch.
Da ist das Gesicht wieder. Dieser verkniffene, mühsame Versuch zu grinsen.
Aber warum dieser Knilch. Hat sein Anblick mich denn so beeinflußt?
Doch in meinem Kopf ist immer noch keine Ruhe. Da war doch noch mehr.
Sie hatte mich angeschrien. Julia schrie mich an. Ich hätte ihr etwas geschworen. Na ja, gut, ich habe ihr öfter etwas geschworen und das war damals eigentlich auch immer ehrlich gemeint und ... Da war noch etwas ... -- Wolf. Wolf?!?
Ich schaue empor. Der Text ist im Halbdunkel schwer zu entziffern, doch ich habe ihn ja schon gelesen.
Ich gehe ihn noch einmal durch. Mein Gott, denke ich, was so ein Traum alles vermischen kann.
Etwas stimmt nicht, denke ich ein paar Augenblicke später und genau in diesen Augenblicken, in denen meine Blicke durch den Raum schweifen, bleiben sie an der Stoffpuppe auf dem Sofa haften.
'Ich bin ein Schwein.' - 'Ich bin eine Sau',
ruft ein Echo in meinem Hirn.
'Ich bin ein Ferkel.'
Julia hat sich immer geärgert, wenn man ihren Namen wie Ferkelberg aussprach. 'Die hat sie vor einem Jahr von ihren Komilitonen zum Geburtstag bekommen. Zum Fünfundzwanzigsten'
Biggi ist also 26. Genauso alt wie ich.
'Miss Biggi, hm?'
JuliaVerklenberg - Ferklenberg - Ferkel - Schweinchen - Miss Piggy - Miss Biggi - Biggi.
Wieso bin ich nur davon ausgegangen, daß ihr richtiger Name Birgit oder ähnlich ist?
'Ich denke, sie wird Mitleid haben. Sie studiert Veterinärmedizin.'
Da liegen sie, die Bücher über Tiermedizin. Da oben auf dem Regal neben dem Zimmerefeu.
'Ich hasse blühende Zimmerpflanzen. Die sind so pflegebedürftig.'
Mir wird schwindelig. Mein Atem will nur noch stoßweise aus mir heraus. Mir fällt ein, daß Julia mein Foto vom Peter Pan ebenso bewundert hat wie den Korbstuhl. Und der Hyde-Park ist in England.
In England -- Aber ... aber das kann doch alles gar nicht ...
Ich schiebe alles auf meinen Fieberverstand. Mit möglichst wenigen Bewegungen, um das dumpfe Gefühl hinter meiner Stirn nicht zu reizen und die Bewegungen der Wassermatratze nicht ausarten zu lassen, pelle ich mich aus dem schweißnassen Schlafsack und hebel mich wankend aus dem Bett.
Der Geruch ihres Körpers?
Sie benutzen beide dasselbe Parfum, das sich an sie geheftet hat und dadurch auch an das Bett, rede ich mir ein.
Ich will das Fenster öffnen. Es ist mit einem Male sehr stickig in diesem Raum. Meine Knie fühlen sich an, als seien sie aus Pudding. Die getrockneten Rosen, die an einem Wollfaden am Griff baumeln, rascheln aneinander. Lange schaue ich sie an. Sie hängen mit den roten Köpfen nach unten, die Schnittstellen nach oben. Eine von den vieren ist dunkler. Dunkelblau. Wie mit Tinte angemalt. Meine Finger zittern so sehr, daß ein paar Blätter zerbröselt zwischen das blütenlose Grünzeug darunter fallen. Fassungslos schüttle ich den Kopf. Das kann doch alles gar nicht sein. Soviel Zufall kann doch nicht möglich sein.
Das Zimmer scheint sich um mich zu drehen und ich suche Halt an der Wand. Auf der Couch mir gegenüber sitzt die Miss-Piggy-Puppe und lacht mich mit ungetrübter Freude an. Das stickige Halbdunkel im Raum läßt mir ihr Gesicht jedoch eher hämisch grinsend erscheinen. Ich taumle zum Sofa.
'Ich bin ein Schwein, ein Ferkel, eine Miss Biggy.'
Stiche piesacken mich hinter meiner Stirn. Mir ist saumäßig kalt. Schließlich habe ich bloß naßgeschwitzte Shorts und T-Shirt an. Ich sinke tief in die durchgesessene Polsterung des Sofas. Die lilablaue Überdecke rutscht von den Rückenkissen.
Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf. Beim Anblick des wirklichen Stoffbezuges ist mir auch wieder eingefallen, woher ich das Muster aus pastellfarbenen Dreiecken und Kreisen kenne. Ich habe oft genug mit Julia darauf gelegen. Sie unter mir. Ihr stöhnender Kopf auf das fahle Muster gebettet.
Kein Zweifel mehr möglich. Julia Verklenberg. - Kein Zweifel mehr möglich?
V-E-R-K-L-E-N-berg. Für Julia Verklenberg.
'Was liest sie? Mal abgesehen von Karl May?' '...Böll, Wilde, Adams...und jede Menge Grass ...' 'Nun geh schon. Gib ihm dein Buch.' 'Den habe ich mal gesehen. Bei einer Lesung...' 'Könnten sie wohl bitte dazuschreiben: Für Julia Verklenberg. Ach, das wäre nett.'
Ich traue mich gar nicht nachzusehen. Ich stehe vor dem großen Bücherregal. Blütenloser Russischer Wein überhängt die obere Hälfte. Darunter steht die grün-goldene May-Edition. Ich schiebe die Blätter wie einen Vorhang zur Seite. Ich sehe eine englischsprachige Taschenbuchansammlung Klassiker. Einige Hohlbein-Schwarten. Eine Anzahl Reclam-Heftchen. Sommernachtstraum und all die anderen. Heinrich Böll. Oscar Wilde. Eine ganze Ebene Arthur Miller. Darunter. Die Blechtrommel. - Ziemlich abgegriffen.
Ich nehme das Buch heraus. Wir hatten damals beide die gleiche Ausgabe. Der Filzschreiber, mit dem er geschrieben hat, war fast leer gewesen. Seine Schrift ist schlierig blau, als löse sie sich auf. Doch zu lesen ist es ganz deutlich.
Für Julia Verklenberg -- Günter Grass
Ihren Namen hat er in Druckschrift geschrieben. Buchstabe für Buchstabe. Er wurde diktiert.
Langsam lege ich das Buch fort. Wie benommen gehe ich zum Schreibtischstuhl. Ich ziehe das kalte T-Shirt aus, schlüpfe, ohne es wirklich zu registrieren, in Jeans und Pullover. Bevor ich die Klinke drücke und hinausgehe, lasse ich meinen Blick noch einmal apathisch durch den Raum gleiten. Mein Kopf fühlt sich überreizt und leer an. Wie eine Stadt bei Stromausfall.
Ich tapse in die Küche. Setze mich auf einen der Stühle. Ein "Hallo?" tönt aus dem Hintergrund, aber ich drehe mich nicht um.
"Na, wieder unter den Lebenden? Eine Nacht lang war der Frosch sehr krank. Jetzt raucht er wieder. Gott sei Dank. Hast ganz schön rumort da drin. Wie geht's dir heute? Waren ziemlich lange unter Deck, Käpt'n."
Ich reagiere nicht. Stattdessen versuche ich den Wasserkocher zu hypnotisieren.
" 'Allo, monsieur! Isch jemand zu 'ause?" Olafs Finger schnippen vor meinen Augen. Ich glaube, ich runzle die Stirn.
"Kannst du mir einen Tee oder sowas machen? Nur einen Tee. Nichts drin. Nur etwas Zucker."
Olafs Gesichtsausdruck bemerkt sichtlich, daß ich im Moment wirklich nichts anderes möchte als einen Tee und auch nicht unbedingt zu Scherzen aufgelegt bin.
"Oh. Ja, klar, kriegst du."
Ich stütze den Kopf in meine kühlen Hände und höre, wie Olaf mir schweigsam den Tee zubereitet. Nur einmal fragt er kurz, was ich wolle; schwarzen oder lieber grünen Tee. Ich wähle schwarzen, weil es der erste war. Ich bemerke mein schlechtes Gewissen. Doch meine Gedanken zwingen mich momentan zu einer recht unfreundlichen Abgestumpftheit.
Abgestumpft. Ja, so fühle ich mich. Alles wirkt so unwirklich, so ... benommen. Als sei ich noch mitten im Traum. Es könnte jetzt wer-weiß-was passieren, es wäre mir scheißegal. Ich ließe es einfach geschehen.
Olaf reicht mir eine dampfende Tasse. Darauf läßt sich ein TEA-TIME in geschwungenem Schriftzug lesen. Der Löffel darin wartet auf seine Benutzung. Ich schaue Olaf an und versuche ein dankbares Lächeln, weiß nun, im nächsten Moment, aber schon gar nicht mehr, wie ich das gemacht habe.
"Entschuldige bitte", sage ich.
Er winkt grinsend ab und reicht mir die Zuckerdose. Ich süße, rühre um, lutsche den Löffel trocken und schaue verträumt in seine Wölbung hinein. Er ist erstaunlich blank. Ich bin auf dem Kopf. Kreidebleich. Stütze mein Kinn in die Hand. Sehe zum Kotzen aus. Von ganz weit her klingt Olafs Stimme:
"Biggi hat heute vormittag angerufen. Sie kommt etwas später." Seine Worte klingen schwammig, verzerrt. Plötzlich ein Geräusch. Ein Knirschen. Tief hinter mir. Ich rühre mich nicht. Könnte es gar nicht, glaube ich.
"Oh, wenn man vom Teufel spricht", höre ich. Die Wohnungstür scheppert gegen die Wand. Ich lasse den Löffel zur Seite sinken. Er ist wirklich sehr blank. Das Bild in der Wölbung bewegt sich. Es ist der umgedrehte Flur mit zwei undeutlichen Gestalten.
"Hallo. Na, wie war's?"
"Das dauert länger, fürchte ich. Ich erzähle dir später alles."
"Aah, ist er das?"
"Ja, er ist eben erst aufgestanden. Sei gnädig mit ihm."
Ich muß grinsen. Die eine Gestalt in dem Löffel wird größer. Schulterlang blond. Steht ihr. Ich rege mich nicht. Bin viel zu müde, um mich zu bewegen.
"Hallo! Du hast also heute nacht in meinem Bett gefiebert. Wie geht es dir jetzt?"
Müde, ich bin so müde. Ich würde gern wieder zurück in dieses Bett.
"Den Umständen entsprechend", murmle ich und drehe mich um. "Hallo, Julia. Wie geht's?"
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Markus,
ich weiß, es ist nicht gerade spektakulär, wenn ich sage, daß mir die Geschichte rundherum gefallen hat. Anfangs dachte ich noch: 'Toll, wie der schreibt! Wenn er nur nicht so wahnsinnig in die Details verliebt wäre.'
Im zweiten Teil wurde ganz schnell klar, daß sie nicht nur als schmückendes Beiwerk gedacht waren, sondern fester und unverzichtbarer Bestandteil der Handlung sind.
Nun bin ich gespannt, ob es hier jemanden gibt, der meine Begeisterung n i c h t teilt. Schätze, daß derjenige ganz schön zu knabbern haben wird.

Gruß Ralph.
 

Markus Veith

Mitglied
Danke für die Tipps! Man hatte mich schon darauf aufmerksam gemacht, zumindest was dieses elendige "wegen mir" betrifft. Das Dumme ist nur, daß ich es auch in meinem Buch so übernommen habe.
Sie sind nicht mehr in New York, sondern in einer Studenten-WG in Gießen (Wo ich übrigens noch nie war.) das wird aber auch im ersten Teil recht deutlich erzählt.
Nochmals vielen Dank.
 



 
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