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Der Schock sitzt tief. Du denkst dir nichts Böses dabei, willst einfach nur einmal den Kindern zeigen, woher sie kommen. Es ist ja nur gut, wenn sie sich bewusst werden, dass sie eine Familie haben. Normalerweise interessiert sie das überhaupt nicht. Familientreffen sind langweilig. Die Gespräche der alten Leute nerven. Und gerade an dem Abend ist ein Konzert.
Aber dann fragen sie schon einmal, wie das denn damals war mit Opa und Onkel Walter, und du denkst, am besten zeigst du ihnen Bilder, da müssen doch noch die alten Fotoalben sein auf dem Boden. Als du Omas Haushalt aufgelöst hast, wusstest du nicht wohin damit, und zum Glück waren da noch die Kartons von deinem Umzug, und du hast alles in sie hineingestopft, ‚Omas Kleinkram’ daraufgeschrieben, und dann ist es auf dem Boden gelandet, da steht es trocken und frisst kein Brot.
Aber der Schock sitzt tief. Das hättest du bei der Oma gar nicht vermutet, die doch stets ihren braven Hut aufsetzte, wenn sie zur Behörde musste wegen der Rente oder zu einem Gespräch mit den Lehrern. Du gräbst tatsächlich die alten Alben aus. Blassbunte Deckel, die Buchrücken mit schwarzem Klebeband verstärkt, es sieht aus wie glänzendes Isolierband, die Seiten aus braunem Papier. Du schlägst nichts ahnend das erste Album auf.
Da ist es, das Hochzeitsbild. Eine schüchtern gegen die Sonne blinzelnde Frau mit komischen Hut vor dem Portal des Standesamtes im Rathaus Altona, eingehakt bei einem schnurrbärtigen Mann, verwegen schräg den Hut auf dem Kopf, und neben ihnen der Onkel, elegant in seiner Uniform mit Armbinde und Hakenkreuz, kühne Mütze, wie sie auch die Offiziere tragen, blitzende Knöpfe an der Jacke, und da, auf der linken Brustseite prangen Orden, kleine anscheinend bunte Anstecker in zwei Reihen. Natürlich in Langschäftern steht er prächtig da, der Onkel, Stiefel, in denen sich der Fotograf spiegeln könnte. Entschlossen hat er eine Hand nahe dem Koppelschloss in den Gürtel vor dem Bauch gehakt. Ein Bild von einem Mann, ein Mannsbild.
Aber das ist es nicht. Wer war schon damals nicht in der Partei. Das war eben die Zeit. Doch dies: Neben die Hochzeitsfotografie hat Oma ein kleines, nun etwas verblichenes Bild geklebt, ein Foto aus einer Zeitung, etwas schräg ausgeschnitten wie in Eile oder Wut. Und auf dem Bild – ein Haufen ausgemergelter Leichen, ausgezehrte Gliedmaßen, im Leid verzerrte Gesichter, aufgerissene dunkle Münder. Nichts weiter.
Du blätterst um. Das ist dein Vater. Eine Schiffchenmütze auf dem gescheitelten Kopf, ein Regenumhang, das Gewehr geschultert, im Hintergrund erkennst du den Bahnhof. Und das bist du, an der Hand des lächelnden Vaters, an der anderen Hand geht deine Schwester. Ihr bringt ihn zum Zug an die Front. Wieder hat Oma ein Bild daneben eingeklebt. Eine verschüttete Straße, Trümmerberge, fensterlose einsam stehen gebliebene Häuserfronten. Zwischen den Trümmern aufgedunsene Tote. Auch Kinder.
Zögernd schlägst du eine andere Seite auf. Wieder der Vater, wieder in Uniform. Er ist in die Hocke gegangen, du stehst neben ihm, er scheint dir in dem Garten eine Blume zu zeigen. Er lächelt. Du lächelst. Daneben hat Oma einen Brieffetzen eingeklebt, sie hat ihn nicht sorgsam ausgeschnitten, sondern ausgerissen. Du versuchst ihn zu entziffern, das ist gar nicht so einfach, Vater schrieb in Sütterlin, wir haben diese Schrift nicht mehr gelernt. Vater bittet um Medizin. Seit Tagen kämpft er gegen schmerzhafte Heiserkeit. Das kommt, weil er so schreien muss, wenn er die Menschen in die Waggons treibt. Sie wollen nicht rein in die Waggons und nicht raus. Das geht nur mit Schreien. Und er ist so heiser, seit Wochen schon. Da muss es doch einen Saft geben oder Pastillen.
Seite um Seite hat Oma auf die gleiche Weise verziert. Kein Foto steht allein. Du erinnerst dich an ihre Worte: „So was kommt von so was“, pflegte sie zu sagen. Zum ersten Mal verstehst du sie, begreifst du wirklich, was sie damit sagen wollte. Diese Fotoalben gehören nicht auf den Boden, sie gehören auf den Rathausmarkt.
Du greifst nach einem anderen Fotoalbum, einem der neueren, in Kunstleder und mit Goldschnitt. Aber Oma hat nicht die vielen Fotos der Enkel eingeklebt, die man ihr geschenkt hat. Nicht eines davon fand Aufnahme. Sie muss mit ihrer alten Zeiss-Ikon unterwegs gewesen sein, 6x9 Rollfilm, eine Kamera zum Aufklappen mit Blasebalg. Jetzt hat deine Tochter sie, sie sammelt alte Fotoapparate, stellt sie im Flur auf die Garderobe, da wird sie mächtig viel Staub zu wischen haben. Und wieder wunderst du dich. Das hättest du der alten Frau gar nicht zugetraut. Sie hat die Armut unserer Stadt dokumentiert. Bilder von bärtigen Obdachlosen, mal mit Flasche, mal ohne. Bettler in lumpigen Mänteln, mal mit Hund, mal ohne. Schlangen im Flur des Sozialamts. Sie hatte einen Blick dafür. Billige Prostituierte frierend am Straßenrand, verloren im Müll spielende Jungen und Mädchen vor verwahrlosten Hochhäusern, sogar aus Plastiktüten schnüffelnde Kinder hat sie gesehen. Aber sie hat nicht nur einfach geknipst und gesammelt, sie hat auch diese Bilder kommentiert. Ich hätte nie gedacht, dass Oma einen roten Ferrari knipst, in Farbe. Die Bilder der Armut machte sie in Schwarz - Weiß. Neben die Hochhäuser hat sie eine weiße Villa unter alten grünen Bäumen gestellt, neben den Drogenkindern sieht man einen Parkplatz mit lauter Luxuskarossen.
Jetzt muss ich erst einmal nachdenken. Ich kann den Kindern doch nicht einfach diese alten Alben in die Hand drücken. Seht mal, da kommt ihr her. Was haben sie damit zu tun? Das ist doch längst vorbei, eine neue Generation. Bestimmt. Wenn da nicht diese neueren Alben wären, offensichtlich Omas Hobby oder Vermächtnis. Oma machte da keinen Unterschied. Sie schrieb auf ihre Weise die Geschichte gradlinig weiter.
Ich stelle mir das bildlich vor: Mein Ältester kommt mit seinem neuen BMW vorgefahren, erzählt mir von seiner Eigentumswohnung, die er sich zur Alterssicherung gekauft hat, immerhin hat er Wirtschaft studiert und eine gute Stelle bei der Bank, und ich überreiche ihm den Stapel Alben und sage: „Übrigens, Oma hat dich angeklagt, hier sind die Akten.“ Ich sehe, wie er die Fassung verliert, seine Gesichtszüge entgleisen. Lächelt er oder verlacht mich? Schlimmer, er grinst. Jetzt wird er ersten, zweitens, drittens sagen. „Was soll das? Erstens ist Oma schon tot, zweitens leben wir in einer freien Marktwirtschaft und drittens, wer etwas erreichen will, wird auch Erfolg haben.“ Am meisten Angst habe ich aber davor, dass er nur zwei Worte sagt: „Na und?“
Die Kleine wird das besser begreifen. Am 20. dieses Monats verschickt ihre Firma die Kündigungen. Zwei Tage vor Weihnachten haben sie das angekündigt. Wenn sie dabei ist, hat Oma eine Chance.
 



 
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