Bill Clinton, Hans Sachs, Hans Hotter. Hammer.

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Willibald

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Bill Clinton, Hans Sachs, Hans Hotter. Hammer.

https://up.picr.de/34966368kt.jpg

Als Willibald, ein Schriftgelehrter fortgeschrittenen Alters, in einem Münchner Beisel sitzend (siehe Bild oben: W. hinten Mitte beim Fenster, durch Rechteck markiert) über die Textsorte Anekdote nachdachte und über angesehene Anekdotentexter wie Heinrich Kleist, Bert Brecht und Volker Braun, kristallisierte sich bei ihm etwa folgende Umschreibung (nein, keine Definition) "der" Anekdote heraus:

Kleine Begebenheit, nicht unbedingt auf das öffentliche Leben bedeutender Gestalten und ihr soziokulturelles Umfeld bezogen. Vielmehr auf ihren gesellschaftlichen Umgang und ihr Privatleben. Meist eine ergötzliche als wahr präsentierte kleine Geschichte - mit Handlungen, Reden, Einfällen, in denen Charakter, Sitten, Eigenheiten der betreffenden Person uns nahe gebracht werden.

Kurze Zeit später las Willibald eine Anekdote aus der Zeit der Jahrtausendwende, die etwa so lautete:

Bill Clinton (Präsident der Vereinigten Staaten von 1993 bis 2001) geriet mit seinem Wahlkampftross einmal in ein schweres Unwetter. Da die Straße zum nächsten Hotel unpassierbar war, beschlossen die Leiter der Kampagne, den Präsidenten bei einem alten Farmer und seiner jungen Tochter unterzubringen. Der Farmer war sofort bereit, den Präsidenten für eine Nacht aufzunehmen. Doch gebe es da ein Problem: Leider habe seine Tochter gerade Mumps und Clinton müsse bei der Ziege im Stall übernachten. „Tut mir leid“, erwiderte Clinton, „ich fürchte, ich bin in der falschen Anekdote.“

Der Reiz dieser eher komplexen Anekdote, die fast ein Zuviel an Sophistication lieferte und die im Beisel gefundene Umschreibung der Textsorte in Frage stellte, beruhte wohl darauf, dass sich die Hauptfigur im erzählten Geschehen der Textsorte bewusst ist und der Protagonist die Fiktionalität der Anekdote thematisiert, während Anekdoten sonst generell für sich in Anspruch nahmen, wahr zu sein, auch wenn sie mehr oder weniger gut erfunden sind.

Bemerkenswerterweise fiel unserem Willibald darauf hin eine Geschichte ein, die den Vorzug hat, tatsächlich wahr zu sein und sich nicht aus ihrem natürlichen Umfeld in einen Metabezugsrahmen disloziert.

In jungen Jahren nämlich war Willibald auf zusätzliches Geld angewiesen, da ihm in München studierend das BAföG zum Leben nicht reichte. Also verdingte er sich am Nationaltheater am Max-Joseph-Platz als Statist und Hilfskraft der Requisiteure. Als nun einmal Richard Wagners „Meistersinger-ein Satyrspiel“ aufgeführt werden sollte – der berühmte Opernsänger Hans Hotter (*1909, +2003) gab den Hans Sachs – hatte der Regisseur den Einfall, dass der schusternde Hans Sachs im zweiten Akt beim negativen Kommentieren nicht nur mit dem Hammer auf die Schuhsohlen schlug, sondern auch auf den Tisch und dass dabei unter der Wucht des letzten Schlages die Tischkante abbrach.

Natürlich war die Tischkante präpariert und lose befestigt. Allerdings wollte es der Zufall oder ein launisches Geschick, dass – der Herr ist mein Zeuge - eines Abends der präparierte Tisch auf der Bühne falsch herum aufgestellt wurde. Als nun Hans Hotter auf die ihm nahe Kante mit dem Hammer schlug, blieb diese, wo sie war. Dafür fiel zur Verblüffung von Bühnensaal und Zuschauern auf der anderen Seite die Tischkante herab.


Der Beifall des Publikums für diese Szene war derart überschwänglich, dass es ganz aussichtslos war, irgendwelche Anstalten zu einer Pointe verbaler Art zu treffen, welche die Situation hätte „retten“ können. Die averbale Pointe war einfach der Hammer.
 

Willibald

Mitglied
Bill Clinton, Hans Sachs, Hans Hotter. Hammer.

https://up.picr.de/34966368kt.jpg

Als Willibald, ein Schriftgelehrter fortgeschrittenen Alters, in einem Münchner Beisel sitzend (siehe Bild oben: W. hinten Mitte beim Fenster, durch Rechteck markiert) über die Textsorte Anekdote nachdachte und über angesehene Anekdotentexter wie Heinrich Kleist, Bert Brecht und Volker Braun, kristallisierte sich bei ihm etwa folgende Umschreibung (nein, keine Definition) "der" Anekdote heraus:

Kleine Begebenheit, nicht unbedingt auf das öffentliche Leben bedeutender Gestalten und ihr soziokulturelles Umfeld bezogen. Vielmehr auf ihren gesellschaftlichen Umgang und ihr Privatleben. Meist eine ergötzliche als wahr präsentierte kleine Geschichte - mit Handlungen, Reden, Einfällen, in denen Charakter, Sitten, Eigenheiten der betreffenden Person uns nahe gebracht werden.

Kurze Zeit später las Willibald eine Anekdote aus der Zeit der Jahrtausendwende, die etwa so lautete:

Bill Clinton (Präsident der Vereinigten Staaten von 1993 bis 2001) geriet mit seinem Wahlkampftross einmal in ein schweres Unwetter. Da die Straße zum nächsten Hotel unpassierbar war, beschlossen die Leiter der Kampagne, den Präsidenten bei einem alten Farmer und seiner jungen Tochter unterzubringen. Der Farmer war sofort bereit, den Präsidenten für eine Nacht aufzunehmen. Doch gebe es da ein Problem: Leider habe seine Tochter gerade Mumps und Clinton müsse bei der Ziege im Stall übernachten. „Tut mir leid“, erwiderte Clinton, „ich fürchte, ich bin in der falschen Anekdote.“

Der Reiz dieser eher komplexen Anekdote, die fast ein Zuviel an Sophistication lieferte und die im Beisel gefundene Umschreibung der Textsorte in Frage stellte, beruhte wohl darauf, dass sich die Hauptfigur im erzählten Geschehen der Textsorte bewusst ist und der Protagonist die Fiktionalität der Anekdote thematisiert, während Anekdoten sonst generell für sich in Anspruch nahmen, wahr zu sein, auch wenn sie mehr oder weniger gut erfunden sind.

Bemerkenswerterweise fiel unserem Willibald darauf hin eine Geschichte ein, die den Vorzug hat, tatsächlich wahr zu sein und sich nicht aus ihrem natürlichen Umfeld in einen Metabezugsrahmen disloziert.

In jungen Jahren nämlich war Willibald auf zusätzliches Geld angewiesen, da ihm in München studierend das BAföG zum Leben nicht reichte. Also verdingte er sich am Nationaltheater am Max-Joseph-Platz als Statist und Hilfskraft der Requisiteure. Als nun einmal Richard Wagners „Meistersinger-ein Satyrspiel“ aufgeführt werden sollte – der berühmte Opernsänger Hans Hotter (*1909, +2003) gab den Hans Sachs – hatte der Regisseur den Einfall, dass der schusternde Hans Sachs im zweiten Akt beim negativen Kommentieren nicht nur mit dem Hammer auf die Schuhsohlen schlug, sondern auch auf den Tisch und dass dabei unter der Wucht des letzten Schlages die Tischkante abbrach.

Natürlich war die Tischkante präpariert und lose befestigt. Allerdings wollte es der Zufall oder ein launisches Geschick, dass – der Herr ist mein Zeuge - eines Abends der präparierte Tisch auf der Bühne falsch herum aufgestellt wurde. Als nun Hans Hotter auf die ihm nahe Kante mit dem Hammer schlug, blieb diese, wo sie war. Dafür fiel zur Verblüffung von Bühnenpersonal und Zuschauern auf der anderen Seite die Tischkante herab.


Der Beifall des Publikums für diese Szene war derart überschwänglich, dass es ganz aussichtslos war, irgendwelche Anstalten zu einer Pointe verbaler Art zu treffen, welche die Situation hätte „retten“ können. Die averbale Pointe war einfach der Hammer.
 

minitaurus

Mitglied
hmhmm... da ist dieses stimmungsvolle Foto, auf dem man keine Einzelheiten erkennen kann, das aber eine ganz bestimmte Atmosphäre vermittelt. Einsamkeit in einem öffentlichen Raum, man sieht/spürt Gedanken schweben, eigentlich gar nicht lustig
und Du führst dann auch folgerichtig in definitorische Anstrengungen, leicht nachvollziehbar, keinen Widerspruch hervor lockend, da geht man gerne mit.
Dann geht es erst mal in die Sackgasse mit Bill Clinton, der einen nach guter Politikerart mehr oder weniger an der Nase herumführt; klug gesprochen, aber weiter bringt einen das jetzt auch nicht. Halt so ein Nasenstüber, wie ihn diese Leute so drauf haben.
Aber keine Angst; die Erlösung naht in Form einer wirklich tollen Anekdote, zwar lange zurück, aber frisch wie ein rotbackiger Apfel.
Ist wirklich der Hammer, dieser Hammer...
Alles sehr fein erzählt, danke schön!
 

Willibald

Mitglied
Bill Clinton, Hans Sachs: Hammer.

https://up.picr.de/34966368kt.jpg

Als Willibald, ein Schriftgelehrter fortgeschrittenen Alters, in einem Münchner Beisel sitzend (Bild hinten Mitte beim Fenster, markiert durch ein transparentes Rechteck: der Typ mit dem handgestützten Kopf) über die Textsorte Anekdote nachdachte und über angesehene Anekdotentexter wie Heinrich Kleist, Bert Brecht und Volker Braun, kristallisierte sich bei ihm etwa folgende Umschreibung (nein, keine Definition) "der" Anekdote heraus:

Kleine Begebenheit, nicht unbedingt auf das öffentliche Leben bedeutender Gestalten und ihr soziokulturelles Umfeld bezogen. Vielmehr auf ihren gesellschaftlichen Umgang und ihr Privatleben. Meist eine ergötzliche, als wahr präsentierte kleine Geschichte - mit Handlungen, Reden, Einfällen, in denen Charakter, Sitten, Eigenheiten der betreffenden Person uns nahe gebracht werden. Eine sprachliche Pointe bildet genregemäß den Abschluss.

Kurze Zeit später las Willibald eine Anekdote aus der Zeit der Jahrtausendwende, die etwa so lautete:

Bill Clinton (Präsident der Vereinigten Staaten von 1993 bis 2001) geriet mit seinem Wahlkampftross einmal in ein schweres Unwetter. Da die Straße zum nächsten Hotel unpassierbar war, beschlossen die Leiter der Kampagne, den Präsidenten bei einem alten Farmer und seiner jungen Tochter unterzubringen. Der Farmer war sofort bereit, den Präsidenten für eine Nacht aufzunehmen. Doch gebe es da ein Problem: Leider habe seine Tochter gerade Mumps und Clinton müsse bei der Ziege im Stall übernachten. „Tut mir leid“, erwiderte Clinton, „ich fürchte, ich bin in der falschen Anekdote.“

Der Reiz dieser eher komplexen Anekdote, die fast ein Zuviel an Sophistication lieferte und die im Beisel gefundene Umschreibung der Textsorte in Frage stellte, beruhte wohl darauf, dass sich die Hauptfigur im erzählten Geschehen der Textsorte "Anekdote" bewusst ist und dass er "darin" auftritt. So thematisiert gegen alle Wahrscheinlichkeit der Protagonist die Fiktionalität der Anekdote, während doch Anekdoten sonst generell für sich in Anspruch nahmen, wahr zu sein, auch wenn sie mehr oder weniger gut erfunden sind.

Bemerkenswerterweise fiel unserem Willibald darauf hin eine Geschichte ein, die den Vorzug hat, tatsächlich wahr zu sein und sich nicht aus ihrem natürlichen Umfeld plötzlich in einen Metabezugsrahmen verabschiedet.

In jungen Jahren nämlich war Willibald auf zusätzliches Geld angewiesen, da ihm in München studierend das BAföG zum Leben nicht reichte. Also verdingte er sich am Nationaltheater am Max-Joseph-Platz als Statist und Hilfskraft der Requisiteure. Als nun einmal Richard Wagners „Meistersinger-ein Satyrspiel“ aufgeführt werden sollte – der berühmte Opernsänger Hans Hotter (*1909, +2003) gab den Hans Sachs – hatte der Regisseur den Einfall, dass der schusternde Hans Sachs im zweiten Akt beim negativen Kommentieren nicht nur mit dem Hammer auf die Schuhsohlen schlug, sondern auch auf den Tisch und dass dabei unter der Wucht des letzten Schlages die Tischkante abbrach.

Natürlich war die Tischkante präpariert und lose befestigt. Allerdings wollte es der Zufall oder ein launisches Geschick, dass – der Herr ist mein Zeuge - eines Abends der präparierte Tisch auf der Bühne falsch herum aufgestellt wurde. Als nun Hans Hotter auf die ihm nahe Kante mit dem Hammer schlug, blieb diese, wo sie war. Dafür fiel zur Verblüffung von Bühnenpersonal und Zuschauern auf der anderen Seite die Tischkante herab.


Der Beifall des Publikums für diese Szene war derart überschwänglich, dass es ganz aussichtslos war, irgendwelche Anstalten zu einer Pointe verbaler Art zu treffen, welche die Situation hätte „retten“ können. Die averbale Pointe war einfach der Hammer.
 
Auch ich habe mich gerade bei der Lektüre gut amüsiert, Willibald. Ich vergleiche jetzt mal deine Münchner Anekdote mit meiner liebsten Theateranekdote. Die beiden ähneln sich darin, dass sich auf der Bühne jeweils die Tücke des Objekts selbständig macht und die Inszenierung an dieser Stelle durchkreuzt, wodurch ein unfreiwillig komischer Effekt entsteht.

Mein Beispiel findet sich auf den letzten Seiten von Karl Philipp Moritz autobiographischem Roman "Anton Reiser". Dort versagt am Schluss einer Werther-Inszenierung die Pistole, mit welcher der Held sich entleiben wollte. Kein Schuss, auch nicht aus einer zweiten Waffe, woraufhin Werther dann halt zum Brotmesser greift. Jetzt glückt der Exitus, doch hereingestürmt kommt Freund Wilhelm mit dem Ausruf: "Gott! ich hörte einen Schuss fallen!"

Deine Anekdote ist straffer erzählt, nicht unwichtig für die Wirkung. Bei Moritz ist die Doppelung mit der zweiten mucksmäuschenstillen Waffe eher abträglich, finde ich, auch wenn sie vermutlich dem tatsächlichen Ablauf entspricht. Man kann daraus lernen, dass man nicht alles haargenau nacherzählen muss. Also besser epische Verkürzung, gerade bei der Anekdote.

Schönen Sonntag
Arno Abendschön
 

Willibald

Mitglied
Salute, Arno,

vielen Dank für die Rückmeldung.

Die Moritzsche Werther-Anekdote ist schon sehr schön, scheint mir, gerade wegen ihrer Zweistaffeligkeit. Ist schon die Ersatzwaffe von einiger Komik, so verschärft sich diese noch, da sie als Ersatz weit weg von fiktiv-authentischen Werther konterkarikiert wird, indem sie gar nicht "stattgefunden" haben kann, sofern man dem hereinstürmenden Wilhelm und seinem authentischen Ruf denn Glauben schenken will und irgendwie zunächst mal muss.

Die Clinton und Hans-Hotter-Geschichte hat einen spielerisch-germanistischen Zug, ähnlich wie deine Diminutiverzählung. Sie fokussiert die "Wahrheits-Problematik", indem sie als episch-fiktionale Textsorte historische Glaubwürdigkeit beziehungsweise Faktizität beansprucht. Und indem sie - meist - auf eine verbale, abschließende Pointe hinausläuft.

Das Wahrheitsproblem ist bereits im Beiselbild angerissen (Sitzt da wirklich..), dann in der Clintonfigur, welche die Illusion der episch-fiktiven Episode durchbricht. Das Pointenprobem, indem der Hammer das letzte Wort hat.

greetse

ww
 



 
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