Bille

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H

HFleiss

Gast
„Früher war ich Leistungssportler, Bezirksmannschaft.“

Den Leistungssportler nahm ich Bille nicht ab. Skeptisch wartete ich auf sein nächstes Kunststück, mit dem er es mir „beweisen“ wollte.

„Na ja, fürs Fernsehen hat’s nicht gereicht. Achtung, mit Salto!“

Ein Sprung aus dem Stand, und Bille schwebte zappelnd in der Luft, strampelte an der Regenrinne der Elektrikerbaracke wie ein Säugling in der Badewanne, wand sich wie ein Regenwurm und landete auf dem Hinterteil.

„Wie war ich?“, fragte er und erhob sich stöhnend. „Die halbe Drehung ist schon perfekt!“

„Schon gut, Bille. Glaub dir ja. So was bringt nur ein Leistungssportler fertig.“

„Ich beweis es dir, ich beweis es dir!“

„Lieber nicht. Bravo, Bille!“

Bille freute sich, dass ich klatschte. „Noch mal?“

„Für heute reicht es. Morgen wieder, Bille. Nach der Gesprächstherapie. Falls ich Ausgang kriege.“

Bille war mein Zimmerkumpel. Warum er hier in der Klinik Bille genannt wurde, wusste er nicht. Hans-Joachim Birnbaum hieß er, so rief ihn jedenfalls die Kretschmar, die Psychologin, in der Gesprächsrunde auf, und alle, die neu auf der Station waren, hoben dann den Kopf: Soso, Bille hieß gar nicht Bille, Bille war der Herr Birnbaum! Bille blickte gelangweilt zum Fenster hin, er kannte das Vormittagsritual mit der Kretschmar auswendig, und wäre er nicht einer von uns Patienten, könnte er die Therapiestunde selbst leiten. Immer kam er von irgendwo her, wenn die Kretschmar ihn ansprach, von einem Ort, den er sogar mir nicht verriet.

„Ihnen geht es heute wohl nicht besonders, Herr Birnbaum“, sagte sie.

Bille kniff ein Auge zu, blickte in die Runde und sagte: „Sie sehen doch, verehrteste Frau Kretschmar, ich sitze, wie kann ich da gehen?“

Bille war ihr zu frech. Sie schluckte und sprach ihn den Rest der Therapiestunde nicht mehr an. Aufsässigkeit mochte sie nicht, Gegenfragen von Kranken waren von vornherein ein Krankheitszeichen. Sie nickte mit ihrem Spitzmausgesicht, und wir alle dachten: Jetzt merkt sie sich den Bille, und später redet sie mit Dr. Reinhold, dem Chefarzt, der Bille dann mit einer Extraportion Pillen ruhig stellt.

Bille hing schon wieder an der Dachrinne. Von dort oben sagte er keuchend: „Mich haben sie mit den Bullen angekarrt, in Handschellen. Ich war denen zu renitent.“ Bille grinste. Diesmal sprang er zu mir herab, ohne den Salto zu versuchen.

Ernst klopfte er mir mit dem Zeigefinger auf die Brust und sagte: „Aber dass sie mich angebunden haben, das vergess ich denen nicht!“ Seine Miene war finster, das machten die dicken schwarzen Augenbrauen.

„Was war denn passiert, Bille? Warum wurdest du angebunden?“ Mir konnte er viel erzählen: anbinden. Im Krankenhaus!

Bille druckste herum. „Ach nichts“, sagte er, „eigentlich gar nichts. Aber man wird doch wohl noch was sagen dürfen!“

Er stürzte zu einer der Parkbänke, die hier überall herumstanden, und zog mich an sich, dass ich seinen Atem im Gesicht spürte.

„Das war nämlich so: Ich komm mit diesem Zeugs, mit meinen Pillen, nicht zurecht. Ich krieg den Parkinson davon, wie ein Rehpinscher.“ Bille lachte kläglich. „Mein Doktor verschreibt mir also was anderes. Was Leichteres. Du verstehst?“

Ich nickte. „Klar, mir geht es genauso mit dem Pillenkram. Sieh mal, wie ich zittre.“ Ich streckte die Hände aus. „Wie ein Alk im letzten Stadium.“

„Und da, stell dir das vor, schnallen die mich alten Herren doch an! Wegen nichts.“

„Wegen nichts, Bille? Erzähl doch nichts!“

Bille war beleidigt. „Das ist eine ganze Maschinerie, Schnallen und Gurte. Wirst du auch noch kennen lernen! Drei stramme Schwestern mussten mich bändigen, und vier schnallten an allen Ecken und Enden. Wie eine Padde liegt man da, ehrlich.“

„Glaube ich nicht. Ist doch Folter!“

„Dann eben nicht!“ Bille musterte mich böse und kehrte mir den Rücken zu.

„Einmal“, höre ich seine Stimme, sie kam ganz von innen, das war mir neu an Bille, „einmal haben sie einen Jungen angebunden. Vier Tage und vier Nächte lang! Kannste mir glauben!“ Er warf sich herum, seine Augen bohrten sich in mich hinein.

Ich lenkte ein. „Schon gut, schon gut. Aber dass nichts weiter war, Bille – weiß nicht, irgendwie unverständlich, nicht?“

Er hangelte sich noch einmal an der Dachrinne hoch. „Nichts weiter, nichts weiter! Wenn ich nicht nach drei Stunden ja und amen gesagt hätte zu ihren verfluchten Dreckspillen, was dann? Ja, scheiß drauf, Blödmann!“

Bille war manisch. Er war ein alter Hase, schon drei Wochen lang schmorte er in der Klapse. Ich mit meinen zehn Tagen konnte da gar nicht mitreden. Dass die Schwestern „geimpft“ waren, wie Bille meinte, bekam ich schon am zweiten Tag mit.
Wenn einer neu ist, auch wenn er einen so guten Kumpel wie Bille hat, muss er sich durchfragen, und ich fragte also nach der Zeitung.

„Im Aufenthaltsraum!“ Die Schwester war gereizt wie ein Stier. „Das nächste Mal, Herr Klausner, informieren Sie sich selbst! Sie sehen doch, ich hab zu tun! Oder brauchen sie noch ein paar Medikamente?“

Im Weggehen hörte ich sie noch immer brabbeln. Alles Minuspunkte bei Dr. Reinhold. Und die belaberten jeden Mucks von uns Bekloppten, das wissen hier alle, und dann landete, was sie von uns hielten, in der Akte, die sie immer mitschleppten zur Visite. Und danach richtete sich die Anzahl der Pillen.

Niemand von uns konnte die Kretschmar reden hören, ohne wütend zu werden. „Die hat so was Heuchlerisches an sich“, sagte Bille, als er mir das Stationspersonal beschrieb: den Dr. Reinhold mit seinen lahmen Scherzen zur Visite, die Stationsschwester Ina, weißblonde Dauerwelle, mindestens dreimal so alt wie ich und ein luchsäugiger Drache, die Ärztin Dr. Schwebner, immer aufgeräumt, immer heiter, dabei immer auf Beobachtungsposten, und die vielen anderen Leute, die hier herumkrochen. Und die Kretschmar, die Schlange. Bille hatte Recht, die Kretschmar war eine von den Schlimmsten.

Bille lernte ich an meinem zweiten Tag hier drinnen kennen. Den ersten Tag hatte ich verschlafen, sie hatten mir Faustanspritzen gegeben. Mein Kopf war aus Watte, als ich erwachte, die Wand gegenüber schwebte mir in Wellen entgegen, das Faustan war ein verdammtes Zeug.

„Hallo, Bruder“, hörte ich eine Stimme, Billes Stimme.

Ich riss die Augen auf, so weit ich konnte: Ein Schlafraum. Ein Schrank, ein quadratischer Tisch mit zwei Stühlen, die Fenster vergittert. Auf dem Bett mir gegenüber saß einer: Bille. Die dicken Augenbrauen fielen mir als erstes auf, sie gaben ihm etwas Äffisches, dann sein schlampiger blauer Trainingsanzug. Ich stierte.

Er sortierte seine Schätze: einen selbstgemachten Aschenbecher aus Ton, ein Feuerzeug, das aussah wie ein Tank von Shell, einen rechten Hausschuh, dessen übergroße Bommel auch selbstgemacht war, wie er mir später stolz erklärte, eine Zeitung. Er hatte sie aus dem Aufenthaltsraum mitgenommen, widerrechtlich!, das machte er jeden Tag, aber das bekam ich erst später mit. Auf dem Nachttisch ein Foto in einem Standrahmen, seine Frau, wie ich dann erfuhr, daneben lag eine Tabakspfeife mit beschädigtem Kopf.

„Mein Besitz“, sagte er. Und noch einmal: „Hallo, Bruder.“

„Hallo“, sagte ich müde, meine Zunge lag mir schlapp wie eine tote Ringelnatter im Mund.

„Bille. Und du?“

„Angenehm. Klausner, Ronny“, sagte ich und deutete eine Verbeugung an.

„Wir duzen uns hier drin. Komm mir nicht mit Sie und solchem Schnickschnack.“

„Also Bille und Ronny“, sagte ich. „Bist du auch manisch?“

„Mensch Junge, hier sind alle manisch. Oder schizophren.“ Er räumte seine Schätze in die Reisetasche am Boden zurück. „Geh schon mal duschen, sonst musst du anstehen. Und Schwester Ina, der Pferdearsch, wäscht dir dann den Kopf!“ Er lachte über seinen Witz. „Frühstück um acht.“

Am Nachmittag wusste ich über die ganze Station Bescheid: wo der Therapieplan hing, wo wir uns zu unseren Gesprächsrunden trafen, dass die ungelenk selbstgebastelten Schalen aus Ton, die auf den Tischen längs des Ganges lagen, Spielereien waren, nur zum Totschlagen der Langeweile, aber nicht zum Gebrauch hergestellt, schon gar nicht als Aschenbecher benutzt werden durften – streng verboten! -, dass man hier Zweige in rote Farbe tauchen und Ostereier dranhängen konnte, wo und wann es Tabletten gab und wo das Klo der Geschlossenen war.

„Na ja“, sagte Bille, „wie die anderen sind, wirst du selbst sehen. Alle plemplem!“

Bille war ein echter Kumpel.

Heute war mein zehnter Tag, ich kriegte zum ersten Mal Ausgang, in Begleitung. Bille hatte sich angeboten, mit mir spazieren zu gehen. Und jetzt hing er dauernd an der Dachrinne, um mich zu überzeugen, dass er mal bessere Tage gesehen hatte. Ach, Bille.


Ich war zum ersten Mal in der Klapse. „Eine berühmte Klinik“, sagte Dr. Reinhold beim Aufnahmegespräch, als ich fragte, wo ich hier sei. Der Krankenwagen hatte mich hergebracht. Ich hatte in der Werkstatt einen Tobsuchtsanfall bekommen, den Tag davor nichts als Krach mit meiner Freundin, und mein Chef griff gleich zum Telefonhörer.

„Weshalb bin ich hier, Herr Doktor?“

„Also, Herr Klausner, das müssen Sie zugeben, mit dem Hammer auf einen Kunden einschlagen wollen – liegt das im Bereich des Normalen?“

Ich schluckte. Der Hammer, tatsächlich, den Hammer hatte ich vergessen. Der Hammer war also Schuld an meiner Einweisung in die Psychiatrie.

Die Klinik, das konnte ich während der Fahrt sehen, lag mitten in irgendeinem Wald, irgendwo im Brandenburgischen.

„Früher ging es hier nur zackzack“, sagte Dr. Reinhold. „Aber heute gibt es genug Therapien, die machen Sie halbwegs wieder arbeitsfähig.“

Der redet viel, wenn der Tag lang ist, dachte ich mir. Arbeit? Hundert Prozent, dass mein Chef die Kündigung schon geschrieben hat. Und wie soll ich wieder was Neues finden? Wenn ich sage, ich komme aus der Klapsmühle?


Im Moment ginge es mir gar nicht so schlecht, sagte ich einmal bei der Visite der Frau Dr. Schwebner. „Nur wenn ich die Zitterer sehe“, sagte ich.

„Was dann, Herr Klausner?“

Dass sie immer alles genau wissen wollte! Eine Andeutung, und man redet sich in sonstwas rein.

„Na, das kommt doch von den Pillen. Und von dem ewigen Sitzen im Gang“, erwiderte ich. „Die sollten mal an die frische Luft, sage ich mir.“

Die Schwebner verzog das Gesicht. Auch sie ertrug Aufsässigkeit nicht. Die geringste Kritik an der Station, und man lief bis zum Schluss als schwarzes Schaf herum, sagte mir Bille hinterher. Die Schwebner flüsterte mit der Schwester, die schrieb was in meine Krankenakte, und am Abend bekam ich eine Pille mehr als sonst.

Am vierten Tag kam ein Richter, ein viel zu junger Mann. Er breitete seine Papiere vor mir aus und erklärte, dass dies eine Gerichtsverhandlung sei.

„Ein Gericht? Wozu?“

„Sie wurden doch gegen Ihren Willen in die Klinik eingeliefert. Oder haben Sie das vergessen? Sie sind nicht krankheitseinsichtig.“

Ich erinnerte mich nicht. Aber sicher hatte ich bei der Einlieferung irgendwann gesagt, dass ich nicht in die Klinik wollte. Bestimmt hatte ich das gesagt.

Der Richter verknackte mich zu sechs Wochen Geschlossener.

Ein paar Tage später tauchte ein Mensch auf, den ich nicht kannte. Er stellte sich als mein Betreuer vor: „Blaschke.“ Er schüttelte mir die Hand. Dabei sah er mich an, als versuche er herauszufinden, ob ich ihn überhaupt bemerkte.

„Ich brauche keinen Betreuer.“

„Das Gericht hat das so festgelegt, Herr Klausner.“

„Und was darf ich jetzt nicht mehr?“

Herr Blaschke hielt mir ein Stück Papier unter die Nase, seinen Betreuerausweis.

„Wahrnehmung der Vermögensangelegenheiten, Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitsbetreuung“, las ich.

„Heißt das, ich bin jetzt entmündigt?“ Ich glaube, ich war weiß wie frisch gefallener Schnee, meine Knie zitterten. „Die Betreuung muss doch beantragt werden. Wer hat sie denn beantragt?“

„Der Sozialpsychiatrische Dienst, Herr Klausner.“

„Ich kenne keinen Sozialpsychiatrischen Dienst!“

„Werden Sie noch kennen lernen, Herr Klausner.“

„Und Sie, Herr Blaschke, wischen mir jetzt also den Arsch? Und das Gericht hat das so angeordnet? Was ist denn dass für eine Gerechtigkeit?“

Ich ließ Blaschke stehen.

Im Zimmer warf ich mich aufs Bett. Wäre Bille nicht dabei gewesen, ich hätte vor Wut geheult.

„Worum ging’s denn?“ Bille stand vor meinem Bett.

„Sie haben mich entmündigt, Bille. Entmündigt!“

„Halb so schlimm, Ronny.“ Bille tätschelte mir den Kopf. „Machst du eben einen Widerspruch.“

Widerspruch! Die werden gerade einen Widerspruch ernst nehmen von einem, dem sie gerade die Stimme geraubt haben.

„Danke, Bille“, sagte ich. „Drauf wäre ich gar nicht gekommen.“

„Ja“, sagte Bille, „die haben so ihre Methoden. Mein Betreuer ist meine Frau. Halb so schlimm. Ich sag ihr, was sie machen soll, und sie macht es dann. So läuft das bei uns. Aber ein Fremder? Na, ich weiß nicht.“

„Der schnüffelt in meiner Bude herum und sagt mir, wann ich mir den Arsch und den Rotz von der Backe wischen soll.“

Bille sagte nichts mehr. Vielleicht hatte er jetzt erst begriffen, was wir hier drinnen Wert waren.

Blaschke sah ich dann die ganze Zeit, die ich auf Station war, nicht mehr.


Bille wurde fünfundfünfzig. Er war doppelt so alt wie ich, er könnte mein Vater sein. Seinen Geburtstag wollte er groß feiern. Zu Hause hatte er eine kranke Frau, aber keine Kinder. Das hätte seine Frau unmöglich überstanden, sagte er, wenn die Rede auf Kinder kam.

Bille war Autogegner. „Ein militanter! Ich war auch schon mal zu einer richtigen Demo gegen Abgase!“, sagte er großkotzig.

Er war außerdem Nichtraucher, Nichttrinker und Spaßmacher. Er ging mir gerade mal bis zur Schulter, aber drahtig war er wie ein Kurzhaardackel. Sein Hobby war das Turnen. Davon gab er mir neuerdings jeden Morgen gleich nach dem Aufwachen eine Kostprobe. Er lief auf den Händen durchs Zimmer wie andere Leute auf ihren Beinen. Nur so zum Spaß. Und dabei unterhielt er sich noch mit mir. Manchmal holte er mir mein Handtuch ans Bett, und dann stand er nur auf einem Arm, und ich sah die Adern auf seinen Bizeps und an seinem Hals, dick wie Wurzeln. Ein richtiges Turngenie, der Bille.

Heute früh hatte er mich geschockt. Holt er doch eine Schachtel Marlboro aus der Tasche! „Nanu?“, sagte ich, „seit wann denn das? Turnen und rauchen?“

Bille grinste angestrengt. „Nur wenn ich Kopf stehe! Das ist mein Gag, Mensch!“

„Ach so“, sagte ich. Ich verstand gar nichts, tat aber so, als ob.

„An meinem Geburtstag kriegt ihr alle eine Privatvorstellung von Bille dem Schlangenmenschen aus Brasilien. Der Extraklasse, mein Lieber!“

„Und deine Frau, kommt die auch her? Ich meine, weil du dann doch eine Fete machst. Mit Kaffee und Kuchen und so.“

Bille wurde ernst wie die Kretschmar, wenn sie ihn bei einer Frechheit erwischte. „Wohl nicht“, sagte er. Mehr nicht.


Wir sollen uns in der Klinik nicht wohl fühlen, sagte die Kretschmar in der Gesprächsrunde, weil sich einer über den rauen Ton der Schwestern beklagt hatte.

Ich verstand nicht. „Wieso nicht? Wir sind doch Kranke. Jedenfalls sagt uns das hier jeder. Und da kann man mit uns umspringen wie mit Sträflingen, Frau Kretschmar?“

Die Kretschmar fixierte mich. „Nun, nun“, sagte sie, „so schlimm wird es doch wohl nicht sein. Aber auf Disziplin müssen wir hier achten. Das versteht jeder, auch Herr Birnbaum, nicht wahr, Herr Birnbaum?“

Bille warf ihr einen verhuschten Blick zu.

„Alles ist eingeteilt“, redete ich weiter, „das Frühstück, das Mittagessen, das Abendbrot, das ganze Gelaber. Und erst die Langeweile! Wie soll man denn da wieder selbstständig werden, das sagen Sie mir mal! Wenn ich bloß bald raus käme!“

„Aber Herr Klausner, das liegt doch ganz allein bei Ihnen. Geben Sie sich Mühe, arbeiten Sie bei den Therapien mit und - na ja.“ Sie hatte wohl an meine sechs Wochen gedacht, den Knast, zu dem ich verurteilt worden war.

Billes wulstige Augenbrauen zogen sich zusammen, er sah zum Fürchten aus. „Mensch, was soll ich denn sagen! Ich bin schon das neunte Mal drin! Bloß gesund, Herr Gesangsverein, gesund bin ich davon nicht geworden. Die sperren uns weg, so ist das, mein Lieber! Und die Pillen? Kannste vergessen, nichts als Ruhigsteller. Von Heilen keine Rede! Körperverletzung ist das! Und die hier, Ronny, die dürfen das, wir sind ja Irre, Bekloppte!“

Die Kretschmar saß dabei, ließ Bille reden und sagte kein Wort.

Im Zimmer fuchtelte Bille um sich herum. „Hier kommt keiner raus.“

Plötzlich sackte er zusammen und sagte traurig: „Es ist legal. Ich hab es versucht. Beim zweiten Mal hier drinnen. Was meinst du, wie schnell die mich eingefangen hatten. Zurück ging es mit der Bullenkarre, marsch, marsch in die Klapse!“

Ich hörte zu, sollte Bille sich alles von der Seele reden. Neunmal auf Station, da konnte ich nicht mitreden.

„Lach doch!“, sagte er. „Kannst ja doch nichts ändern, das Zeug kommt immer wieder. Kaum bin ich gesund, schon meldet sich die nächste Psychose. Bin nun mal manisch. Mal himmelhochjauchzend, mal zu Tode betrübt. Schicksal, mein Lieber. Und die Ärzte, die wissen schon, was sie an mir haben: einen treuen Patienten.“ Er streckte die Brust heraus und stakste wie Napoleon durchs Zimmer.

„Warum, Bille“, fragte ich, „bist du eigentlich hier drin? Du bist doch ganz normal. Du hast doch jetzt keine Psychose.“

Bille winkte ab. „Lass mal, hat schon seine Ordnung. Ich hab Mist gebaut. Unsere Nachbarin, die Jägern, so eine Alte, ein Mütterchen, die hat eine Rente, davon könnte ich bloß drei Tage lang leben. Da hab ich ein paar Mark vom Sparbuch abgehoben und sie ihr in den Briefkasten gesteckt. Die Jägern nichts Besseres im Sinn, als im ganzen Haus rumtratschen. Natürlich ist meine Frau dahinter gekommen. Dabei waren es bloß... Schlappe elftausend Mark waren es.“ Er lachte. „Bin eben verrückt, stimmt doch? Und Verrückte gehören nun mal in die Klapse.“

„Hat sich die Alte wenigstens bedankt bei dir?“

„Wie denn?“ Er lachte erneut. „Für die Jägern kam die Knete vom Weihnachtsmann.“

„Und das Geld, hast du es zurück bekommen?“

Bille hatte nur noch ein Grinsen übrig für meine Frage.

„Bei mir war meine Freundin Schuld“, sagte ich. „Und mein Chef.“

„Schon gut.“ Bille sah mich mitleidig an. „Sag nichts. Weiber!“ Er verzog das Gesicht, als ob er sich ekelte. „Aber zur Kretschmar kein Wort, Ronny.“

„Zur Kretschmar? Na klar!“ Ich schlug ein. „Versprochen, Bille. - Mann, elftausend! Ihr müsst ja Knete haben.“


In der Gesprächsrunde am Morgen vor seinem Geburtstag war Bille ungewohnt still. Mit hängenden Schultern, zusammengesunken saß er da und studierte das Muster des Fußbodenlinoleums. Kein einziger Witz, nichts. Das fiel sogar der Kretschmar auf, sie sagte aber nichts. Ein ganz schlaues Luder. Bei der sind wir im Dauertest. Alles, was sie hörte, legte sie auf die Goldwaage. Manchmal dachte ich mir, die Ärzte sollten uns Kranke lieben. Na ja, nicht richtig, aber mir gefiel es nicht, dass sie uns mit Herr Soundso anredeten und heimlich unterhielten sie sich im Schwesternzimmer nur über Fälle. Außerdem glaube ich, dass das Personal hier heilfroh war, dass es nach der Wende nicht auf die Straße gesetzt worden war. Bille hatte mir von einer Schwester erzählt, einer patenten Frau, die er jedesmal hier wieder getroffen hatte. Diesmal aber nicht, ihre Stelle war eingespart worden.

„Nun ist hier nichts als Ebbe. Und der einzige Mensch hier bist du“, sagte Bille.

„Ich bin die Flut für all die Ebbe“, bestätigte ich und grinste.

„Hm, so was Ähnliches. Fragt sich nur, wo es nass ist.“ Er lachte. Über seinen Witz und über mich. Aber er meinte es nicht so. Ich kannte Bille jetzt.


Weiß der Himmel, irgendwas war tatsächlich los mit Bille. Er brummelte den ganzen Morgen herum, dann die Gesprächsrunde, wie ein meditierender Buddha hatte er dagesessen. Nach dem Aufstehen hatte er sogar seinen Handstand vergessen, fiel mir plötzlich ein.

Ich ging zur Kretschmar, Bille durfte es nicht wissen. Das war gemein, aber ich wollte, dass Bille wieder lachte, irgendwas musste doch getan werden. Eine Pille mehr tut nicht weh. Sein Gebrummel nervte mich.

„Der Bille hat was“, sagte ich, „ich weiß nicht, was. Vielleicht weil seine Frau morgen nicht kommt. Er hat doch Geburtstag.“

Die Kretschmar spießte mich auf mit ihrem Blick. „Seit wann kümmert es Sie, wenn es anderen mal weniger gut geht?“ Sie machte ein Gesicht, als sei sie die Chefärztin persönlich. „Werden Sie erst mal selbst gesund, Herr Klausner.“

Es war naiv von mir, zur Kretschmar zu gehen. Sie hatte hier nichts zu sagen, ich hätte mit Dr. Reinhold sprechen müssen.


Alle fanden, dass Bille schon mal munterer war. Die kleine Frau Luther, die niemanden mehr hatte und deshalb nie Besuch bekam, sie war mindestens siebzig oder noch älter, drückte Billes Kopf an ihre knochige Brust und streichelte ihn. „Heile, heile Gänschen“, sang sie dabei.

Jeden Morgen wurde sie von den Schwestern gewaschen und gefüttert wie ein Baby. Bille war es peinlich, er setzte ein höfliches Grinsen auf. Frau Luther war unsere Stationsoma, deshalb protestierte er nicht.


Als ich am nächsten Morgen aufwachte, saß Bille wie immer auf seinem Bett. Er hatte das Foto seiner Frau in der Hand und flüsterte irgendwas.

„He, Bille! Happy birthday!“

Ganz langsam, rührend langsam kam Bille aus einer anderen Welt. Seine Augen waren feucht.

„Wenn du wüsstest, wie schlecht es ihr geht“, sagte er so leise, dass ich ihn kaum verstand. „Seit vorgestern, Ronny. Seit vorgestern ist sie im Krankenhaus. Krebs, Ronny.“ Sein Gesicht war weiß wie ein frisches Kliniklaken, die schwarzen Brauen ringelten sich wie Blutegel.

Männer, die heulen, ertrug ich nicht. „Krebs! Na und! Wer hat nicht alles schon Krebs gehabt! Dein Gesicht heute Morgen reicht mir. Als ob sie schon tot wäre!“

Bille sah mich an, weißer als weiß. Wortlos steckte er das Foto unter das Kopfkissen. „Das hätte ich nicht von dir gedacht, Ronny.“

Traurig griff er sein Waschzeug und knallte die Tür hinter sich zu.

Vormittags ging er mir aus dem Weg, während der Gesprächsrunde saß er nicht mehr neben mir, sondern weitab, ich konnte nur sein Profil sehen.

Die Kretschmar tat, als ob ihr nichts auffiele. „Singen wir Herrn Birnbaum ein Geburtstagsständchen“, sagte sie. Wir sollten uns anfassen und „Ich freue mich, dass du Geburtstag hast“ singen, damit Bille wisse, dass alle ihn dachten.

Wir sangen, verstohlen blickte ich zu Bille hinüber, ich sah, dass es ihm im Gesicht zuckte.

Frau Nagold, die heute neben mir saß, meldete sich: „Darf ich Bille noch ‚Wahre Freundschaft‘ singen?“ Dieses Lied sang sie zu jedem Geburtstag, aber heute ging sie mir damit auf den Geist. Als das Lied endete, klatschten alle. Bille nicht. Die Kretschmar sah ihn auffordernd an.

„Danke“, sagte er, als er ihren Blick mitbekam, „vielen Dank.“

„Na also“, sagte die Kretschmar. „Sie können doch, wenn Sie wollen. Wir wollen höflich sein zueinander. Oder hat es Ihnen nicht gefallen, Herr Birnbaum?“

„Was?“, fragte Bille. „Nein.“

„Nein ja oder nein nein?“

„Schon gut.“ Bille kam zu sich. „Dass sie gesungen hat, das Lied von der wahren Freundschaft. Danke noch mal.“

Ich fühlte mich elend, verdammt elend.


Nach dem Mittagessen fiel der Mittagsschlaf aus, es wurde gefeiert. Wir hatten gesammelt und Bille einen vergoldeten Füllfederhalter mit Etui gekauft, die Station einen Herbstasternstrauß spendiert und ein paar Laken für die Geburtstagstafel. Die Frauen stellten selbstgebackenen Kuchen auf den Tisch, es gab Kaffee oder Hagebuttentee.

Bille saß am Tischende und zündete die beiden Kerzen neben seinem Teller an. Das Geschenk lag ausgewickelt vor ihm.

„Schade“, sagte er, legte den Füller in der Etui zurück und schloss es.

„Was meinst du damit – schade?“, fragte jemand. Bille schwieg.

Wir sangen noch einmal „Happy Birthday“. Bille erhob sich und bedankte sich mit Bittermiene.

„Und jetzt turn uns was vor, Bille!“, rief einer.

„Mach ich. Aber nicht heute. Morgen, auf der Wiese im Park.“
Bille blieb bei seinem Leichenbitter.

Er gefiel mir immer weniger. Mit langem Blick sah er einen nach dem anderen an. Im Zimmer wird er nicht ansprechbar sein, dachte ich. Dumm, dass wir uns verkracht hatten. Ich meinte es doch gar nicht so. Ich Esel benehm mich wie ein Elefant im Porzellanladen, Bille musste ja eingeschnappt sein.

Als die Kerzen heruntergebrannt waren, atmete Bille auf. Unbedingt, ich musste unbedingt mit Bille sprechen.

Bille lag auf dem Bett, als ich ins Zimmer kam, den Kopf im Kissen vergraben.

„Bille?“

„Lass mich in Ruhe!“

„Bille, bitte. Ich hab das doch nicht so gemeint. Ich war ein Idiot. Entschuldige, Bille.“

„Es ist doch wegen ... Ach was, das ist mein Bier. Da muss ich allein durch.“ Bille hob nicht den Kopf.

Ich griff mir einen Comic aus dem Nachttisch. Im Zimmer war es feindlich still, nur die Spatzen vorm Fenster zwitscherten. Ich stand auf und knipste das Licht an.

„Sag doch was, Bille.“ Ich rüttelte an seiner Schulter. „Bitte, Bille, ich bin ein gottverdammtes Arschloch. Das mit deiner Frau war doch nicht so gemeint, Bille.“

„Das geht dich nichts an!“ Bille drehte sich um, sein Kopfkissen war nass. Ohne sich auszuziehen, kroch er unter die Bettdecke.

Morgen früh, noch vor der Visite, musste ich Dr. Reinhold sagen, dass mit Bille etwas los war. Und es war egal, ob Bille das mitbekäme.


Das erste, was ich am Morgen sah, war Billes Feuerzeug, das aussah wie ein Shell-Tank. Es lag auf meinem Nachttisch. Bille war schon aufgestanden, seine anderen Schätze hatte er aufs Bett gelegt.

Beim Frühstück fehlte Bille am Tisch. Lustlos schlang ich mein Brötchen hinunter. Ohne Bille machte sogar das Frühstück keinen Spaß.

Der Chefarzt kam in den Frühstücksraum. Das war nichts Neues, und seine Witzchen, die er hier von sich gab, waren noch älter als die zur Visite. Wir drehten ihm den Rücken zu, mit der Obrigkeit wollten wir so wenig wie möglich zu tun haben.

„Die Gruppe trifft sich nach dem Frühstück im Aufenthaltsraum“, sagte Dr. Reinhold plötzlich.

Irgendwas war vorgefallen. Und wo war Bille?


Auch im Aufenthaltsraum sah ich Bille nicht.

„Wohin wollen Sie?“ Dr. Reinhold hielt mich zurück, ich wollte Bille suchen.

„Herrn Birnbaum holen, Herr Doktor.“

„Setzen Sie sich wieder, Herr Klausner.“

Dr. Reinhold wartete, bis sich alles beruhigt hatte. „Der Patient Hans-Joachim Birnbaum ...“, sagte er und senkte den Kopf. Es war still geworden, als hielten alle den Atem an. „Herr Birnbaum kommt nicht mehr.“ Dr. Reinhold schwieg und faltete die Hände im Schoß. „Er hat, es ist furchtbar ...“

„Was? Was hat er?“ Ich erschrak vor meiner eigenen Stimme.

„Er hat seinem Leben ein Ende gesetzt.“ Dr. Reinhold sah uns an, einen nach dem anderen. „Er hat keine Kraft mehr gehabt. Die Sorge um seine Frau, er hat ... Aufgegeben hat er.“

Bille? Seinem Leben ein Ende gesetzt? Aber gestern hat er doch
noch ... Das Feuerzeug, natürlich, das Feuerzeug auf meinem Nachttisch! Ich, ich bin Schuld! Ich verdammter Idiot ...

Ich stürzte zur Tür. Ich wusste nicht, wohin ich lief, ich jagte den Gang hinunter. Nein, das konnte nicht sein, nicht Bille! Irgendwer rief mir etwas nach.

„Scheiße!“ Ich schlug die Klotür hinter mir zu.


Ich krümme mich. Bille, Bille! Nein, das ist nicht wahr! Dr. Reinhold will mich bestrafen, er lügt, der Kerl! Er lügt, er lügt, er lügt! Ich wimmere. Ich sacke auf dem Klodeckel zusammen. Jemand packt mich am Arm, ich fühle, dass er abgeschnürt wird, dann eine Spritze.


Ich liege in einem fremden Zimmer. Sonne fällt auf den Nachttisch. Das Feuerzeug, Billes Feuerzeug. Ich begreife nichts. Warum bin ich hier, in diesem fremden Zimmer? Ja, es ist Billes Shell-Tank. Ich greife ungeschickt danach, das Feuerzeug poltert auf den Fußboden.

Die Augen fallen mir zu. Ach, ich bin erschöpft, so erschöpft. Entsetzlich erschöpft. Und so entsetzlich müde.

Bille, warum hast du mich allein gelassen, Bille?
 
T

TanjaF

Gast
Hallo,

ein bedrückendes Thema, das zum Nachdenken anregt.
Ich hatte sofort Bilder im Kopf und musste weiter lesen! Gut gemacht!

Liebe Grüße,
TanjaF
 
H

HFleiss

Gast
Danke, Tanja, für die schnelle Wortmeldung. Bedrückend schon, aber ich habe mir so viel Mühe gegeben, die Schwere herauszunehmen. Und das ist mir nicht gelungen?

Hanna
 

Inu

Mitglied
Hallo Hanna

Keine Übertreibungen, kein falsches Pathos hier. Die beschriebene Wirklichkeit ist grauenvoll genug. Dieser Text berührt mich und lässt mich schaudern. Spritzen, Ruhigstell-Pillen, Zwangs-Betreuer. So ergeht es Außenseitern, die krank sind und nicht mehr funktionieren. Aber wer hätte einen besseren Rat, wie die Gesellschaft mit ihnen umgehen soll? Das Personal solcher Kliniken besteht auch aus Menschen, die nur bis an die Grenzen ihrer Kraft belastbar sind.

Wichtig, dass Du diese Geschichte geschrieben hast. Und gut geschrieben wie alle Deine Sachen.( Bisher:))

Liebe Grüße
Inu
 
H

HFleiss

Gast
Liebe Inu, ich sehe das Grinsen am Schluss wohl. Nun ja, ich gestehe es: Ich heiße nicht Goethe.
Ja, der Text war mir sehr wichtig, und ich habe auch lange daran gearbeitet, mit Interviews und (heimlichen) Ortsbesichtigungen. Aber es gefällt mir, wenn er dir gefällt.
Danke vielmals.

Hanna
 



 
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