Bist Du diese Stadt?

selene

Mitglied
BIST DU DIESE STADT?

Ich stehe hier am Fenster in einer fremden Stadt und schaue auf die Straße, sehe die Menschen und frage mich ob meine Gedanken es wert sind aufgeschrieben zu werden .... ja sie sind es wert, denn es sind meine Gedanken, es sind wichtige Gedanken...endlich sind es wichtige Gedanken, sie waren es schon immer, aber jetzt sind sie auch mir so wichtig, daß ich es endlich für wert befinde, sie zu denken, sie zu schreiben. Ich drücke meine Zigarette aus, drehe mich um und gehe zurück in mein Zimmer und beginne zu schreiben. Endlich.
Ich stehe hier am Fenster in einer fremden Stadt, eine Stadt, die ich eigentlich nicht kenne, aber liebe, eine Stadt, in die ich geworfen wurde, in der ich nun lebe, leben muß, leben will, und vor allem eine Stadt, die mir mein Herz gebrochen hat.
Sie hat mir mein Herz gebrochen und sie tut es jeden Tag wieder und ich habe ihr das verziehen und ich verzeihe jeden Tag aufs Neue. Ich liebe diese Stadt.

In manchen Momenten, ertrage ich ihren Anblick nicht und manche Orte würde ich am liebsten auslöschen....manchmal hasse ich sie...und dann weiß ich aber auch im selben Moment wie sehr ich sie liebe, nein ich kann sie nicht hassen....
Jeder Stein, jeder Baum, jede Ecke....alles....die Häuser, die Gärten, die Brücken, der Fluß ....einfach alles erinnert mich an die glückliche Zeit.
Ich habe diese Stadt lieben gelernt, als ich hierherkam...ich habe sie von Tag zu Tag mehr geliebt....und dann -mit ihm- traf sie mich mitten ins Herz und es war um mich geschehen, es gab kein zurück mehr, es gab einfach kein zurück mehr. Jeder Tag, jeder Moment, jeder Ort wurde plötzlich so besonders.... sie sind es geblieben...sie werden es immer sein...sie werden mein ewiger Schmerz sein.....
Diese Stadt – sie ist meine größte Liebe und sie ist mein größter Schmerz.

Kannst Du Dich noch daran erinnern, als wir spazierengegangen sind...oben am Weißen Hirsch bei Dir....Fragen, die ihren Empfänger nie erreichen werden....ich kann mich noch daran erinnern....ich habe Dir damals zwei Holzdelphine geschenkt....ich habe gesagt...Delphine bleiben ihr ganzes Leben lang zusammen....sie standen seitdem auf Deinem Tisch...ob sie dort immer noch stehen? Ich weiß es nicht.
Deine Entscheidung war richtig.
Meine Entscheidung war richtig.
Du bist nicht mein Delphin, aber ich bin Deiner.

Und einmal, weißt Du noch?....weißt Du noch.....dieser Aussichtspunkt, es war einer der ersten Orte, die Du mir damals gezeigt hast. Rockauer Aussichtspunkt...man konnte von dort fast über die ganze Stadt blicken....man hat die Elbe gesehen, wie sie sich ihren Weg bahnte und wunderschön im Sonnenlicht glänzte. Oft sind wir dorthin gefahren, wenn wir unsere Touren machten, wenn wir total gestresst und erschöpft vom Lernen einfach nicht mehr konnten und losgefahren sind. Meistens bist Du gefahren und ich saß einfach überglücklich neben Dir. Heute fahre ich oft zu diesem Aussichtspunkt, alleine. Auf dem Weg dorthin malte ich mir immer aus, dass ich Dich dort treffe...aber natürlich habe ich Dich dort nie getroffen, ich stand immer eine zeitlang da und habe die Erinnerungen an mir vorbeiziehen lassen, ein paar Zigaretten geraucht und dann bin ich wieder heim.

Ja, Du hast mir immer die ungewöhnlichen Orte gezeigt. Nicht das, was man sich normalerweise ansieht, wenn man neu in einer Stadt ist. Nicht das übliche, keine Sehenswürdigkeiten, Du hast mir ganz spezielle Plätze gezeigt. Einmal sind wir losgefahren, nie hast Du mir gesagt, wo es hingehen wird. Es war immer ein Geheimnis. Ja, da landeten wir in einem Biergarten, aber kein gewöhnlicher, abgesehen davon, dass es dort eigentlich auch keine normalen Biergärten gab, so wie ich sie kannte. Naja, aber dieser Biergarten war wirklich süß, an der Elbe fast direkt am Ufer. Man konnte an dieser Stelle sogar mit einer Fähre auf die andere Seite übersetzen. Aber das Besondere waren die Menschen, ganz interessante außergewöhnliche Menschen. Unikate. Dieser Biergarten lag an der Künstlerstraße. Du wusstest, dass ich sowas mag. Dort gab es auch das Künstlerhaus. An diesem Abend sah ich es nur von außen. Später auf den Elbhangfesten lernte ich es auch von innen kennen...wunderschön.
Wir saßen in diesem Biergarten draußen, ich hatte meinen dunkelgrünen Parker an und es war mir ein wenig kalt. Wir waren noch kein Paar und ich war so nervös, dass ich die Kälte nicht wirklich bemerkte. Irgendwann hast Du meine Hände genommen, um zu sehen, wie kalt sie sind, dann hast Du sie ein bisschen gewärmt. Deine Hände waren immer warm.
Das war auch der Abend, an dem Du noch kurz an einem abgelegenen Platz an der Elbe angehalten hast und mit mir den Sternenhimmel anschauen wolltest. Oh, ich dachte wirklich wir küssen uns dort, aber keiner hat sich getraut. Stattdessen habe ich Dir einen Sternenkreis am Himmel gezeigt. Wir haben ihn beide gesehen und später wurde er zu unserem Zeichen.
Du hast ihn an meine Zimmerdecke gemalt mit Wachsmalkreiden.
Danach haben wir ihn nie mehr am Himmel gefunden, aber damals war er dort.

Manchmal fahre ich heute in der Nacht los, wenn ich es nicht mehr ertrage, dann steige ich einfach in mein Auto und fahre los...die Strecke zu Dir, zum weißen Hirsch, die wir so oft gefahren sind. Ich mag das. Zu dieser Zeit herrscht nicht viel Verkehr, so gut wie keiner. Ich mag die Luft, manchmal der leichte Nebel, die ganze Atmosphäre. Ich fahre über das Blaue Wunder und muß jedes Mal dran denken, wie Du mir erklärt hast, durch welche Umstände die Brücke zu ihrem Namen kam. Nach der Brücke kommt dann bald diese steile Straße, die zum weißen Hirsch raufführt. Hier wohnt der Biedenkopf hast Du immer gesagt, wenn wir an dem Haus vorbeifuhren....bald bin ich oben abgelangt, selten fahre ich in Deine Straße, denn ich habe Angst, dass Du mich sehen könntest. Meistens fahre ich einfach vorbei oder parke in einer anderen Straße ein Stück weiter weg, um dann spazierenzugehen. Nur wenn es schon sehr spät ist, traue ich mich in die Nähe des Hauses, in dem Du wohnst. Ich gehe dann zu dem Jasminstrauch an der Ecke, an dem ich immer gerochen habe, wenn ich bei Dir war. Du hast mich vom Balkon aus beobachtet und mir gewunken.

...Ich weiß, dass ich diese Stadt mit anderen Erinnerungen bestücken muß. Ich muß andere Plätze kennenlernen, Schönes mit anderen Menschen erleben, nicht mit Dir. Ich muß diese Stadt für mich neu erbauen, neu beleben. Durch Dich habe ich sie kennengelernt, aber ich muß nun hier leben und damit ich das kann, muß ich sie nocheinmal kennenlernen. Kennenlernen nur für mich.
Von Tag zu Tag wird es dann leichter. Von Tag zu Tag muß ich weniger oft weinen. Ich gehe im Großen Garten spazieren, hier waren wir nie zusammen, jedenfalls nicht in dieser Ecke hier. Und während ich dort gehe, weiß ich, auch wenn ich es jetzt nicht glauben kann, aber ich weiß, irgendwann wird diese Stadt auch Plätze besitzen, die nur mir gehören.
 

Frank Zimmermann

Junior Mitglied
Wehmut

Der Text gefällt mir sehr gut, weil er von einer wehmütige Poesie durchzogen ist, die wohl jeder nachvollziehen kann, der mal unter Liebeskummer litt. Außerdem machst Du schön deutlich, wie ein Ort durch die Verknüpfung mit Erinnerungen zu einer sehr individuellen Wertigkeit gelangt.
Das "Blaue Wunder" kenne ich übrigens von einer Briefmarke.

Danke für den Beitrag!
 

selene

Mitglied
Danke für die Antwort!
Glücklicherweise ist es ein sehr alter Text von mir, und die Schreibaufgabe hat mich dazu animiert ihn wieder hervorzuholen und umzuschreiben, bzw. ein wenig mehr zu detaillieren.
Hat sehr viel Spaß gemacht das Thema!
Alles Liebe,
selene
 

klara

Mitglied
Hallo Selene,
("wer suchet, der findet"
Endlich habe ich dich gefunden.)
Deine Geschichte gefällt mir. Es sind viele Momente darin, die mir sehr bekannt vorkommen.
Ich habe bei der "Heldin" der Geschichte eine Fähigkeit heraus gelesen, die mich sehr glücklich stimmt: Sie ist lieb und bereit zu lieben. Sie ist weder verbittert noch im Jammern.
Eine ehrliche und positive Traurigkeit.
Eine etwas geknickte aber nicht verlorene Hoffnung.

Gerne gelesen.
Liebe Grüße.
 



 
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