Blau - verschollen!
Dieser Tag spie Flammen.
Lilly strich mit ihren schmutzigen Fingern über die schorfigen Lippen und blickte an sich herab. Das Kleid, das so gut ihre kleinen Brüste und schlanken Beine betont hatte (wie sie in endlosen Stunden vor dem Spiegel herausgefunden hatte) klebte an ihrem Körper, fleckig von Salzwasser, Schweiß und getrocknetem Blut. Ihre Oberarme und Schenkel waren übersäht mit Malen und der rechte Knöchel pochte aus der faustgroßen Schwellung. Es war der vierte, glaubte das Mädchen, jedenfalls, wenn es die Wechsel von sengenden Tagen und eiskalten Nachtwinden richtig gezählt hatte.
Immer seltener hob sie den Kopf über den Rand des kleinen Bootes, um nach Rettung Ausschau zu halten, irgendwo am Horizont vielleicht einen winzigen Punkt zu entdecken, der ihr noch Hoffnung machen konnte, nach diesem - sie wusste nicht, wie sie es nennen sollte - etwas, dass sie nur aus Filmen oder Nachrichten von Unglücken fremder Menschen kannte. Dieses etwas hatte vor vier Tagen alles verschlungen, ihre Familie, die Passagiere, die Hochseeyacht mitsamt dem Bootsführer und der Viermannbesatzung. Und nur sie selbst und Mr. Calahoe hatte es auf diesem Rettungsboot zurückgelassen.
Wohin Lilly auch blickte, die Welt um sie herum war Blau, nur die kleinen Wellen glucksten und änderten ständig ihre Form. Der gleißende, weiße Kreis der Sonne stand über ihnen, so als brenne jemand mit einer riesigen Lupe ein Loch in das diesige Himmelsdach, wie in ein Stück Papier. Lilly sehnte sich die Kühle des Abends herbei und schluchzte auf.
Sie krümmte sich und versuchte so gut es ging hinter dem Rand des Bootes Schatten zu finden und überlegte, ob es wohl besser wäre ihren aufgeschürften Knöchel in das Wasser zu halten, um die Schwellung zu kühlen. Doch der Bootsrand war zu hoch und das Sitzen darauf zu anstrengend. Sie kauerte sich noch enger an die Holzplanken und legte das pinke Täschchen, das ihr als einziges geblieben war über das Gesicht.
Er drang in sie ein. Sie bemerkte ihn zuerst in ihrem Hals und daran dass es schmerzte, wenn sie ihre Zunge bewegte. Doch jetzt spürte sie ihn tiefer in ihrem Inneren, in ihrer brennenden Lunge und im Kopf. Der Tod hatte einen Helfer, den Durst - nie hätte sie gedacht, dass man es im Kopf spürte, wenn man verdurstete. Sie würde hier sterben, einschlafen und sterben und nichts mehr spüren. Seltsamerweise musste sie bei dem Gedanken lächeln.
Lilly tastete nach der Colalightflasche in der Tasche und versuchte am Geräusch die Menge der restlichen Flüssigkeit zu schätzen. Ja es war noch da. Nicht mehr viel, aber es war noch etwas da. Sie hatte versucht so gut es ging sparsam zu sein. Ein Schluck jetzt, nur ein kleiner Schluck. Sie drehte vorsichtig am Verschluss und erinnerte sich an das Gefühl, wie das Nass ihre festgeklebte Zunge löste.
Mr. Calahoe am anderen Ende des Holzbootes murmelte vor sich hin, doch sie machte sich nicht mehr die Mühe aufzublicken. Jede Bewegung kostete zu viel Kraft. Seit zwei Tagen sprachen sie nicht mehr viel miteinander. Sei es, weil sie zu schwach waren oder, weil es nichts mehr zu besprechen gab. Er blieb ein Fremder, einer, von vielen flüchtigen Bekanntschaften ihrer Eltern. Ein Fremder jedoch, der sie letzte Nacht beobachtet hatte, wie sie den Slip abgestreift, das Kleid hochgeschoben und ungeschickt versuchte hatte über den Rand zu pinkeln. Das Kleid wurde dabei schrecklich nass. Noch immer wurde ihr ganz fahl im Magen, wenn sie an Calahoes im Mondlicht weiß schimmernden Augen dachte.
Seitdem sprach sie nicht mehr mit ihm, und jetzt gab es sowieso nur noch das Schaukeln und Plätschern und die Glut auf ihrer Haut.
Als Lilly ihre trockene Zunge bewegte, zuckte ein Schmerz durch ihren Gaumen. Kurz öffnete sie die Augen. Mr. Calahoe setzte sich schnaufend auf. Sein Hemd war zerrissen und dreckig. Das Gesicht, besonders sein Nasenrücken und unterhalb der Augen, glänzte rot verbrannt und auf seiner Glatze platzten Hautfetzen ab. Er tastete in der Hosentasche und steckte eine Pille in den Mund. Es knirschte zwischen seinen Zähnen, als er sie grinsend zerbiss. Gott, seit Tagen trieben sie auf diesem Boot, wie ein Stück trockenes Holz und er schluckte einmal täglich seine Herzpillen. Lilly wich seinen Blicken aus. Platsch, platsch. Kleine Wellen schwappten gegen das Holz des Rettungsbootes. Sie schloss die Augen und das monotone Auf und Ab lies sie dahindämmern.
Lilly bemerkte den Schatten über ihrem Gesicht erst sehr spät. Die Helligkeit blendete sie, als sie die Augen aufriss.
„Gib mir die Flasche!“
Mr. Calahoes Stimme klang erschreckend deutlich. Er stand vor ihr, breitbeinig und schwankend. Erst jetzt fiel ihr seine enorme Größe auf. Lilly zog ihre Knie an sich und versuchte sich zu stützen. In ihrem Kopf hämmerte es.
„Denkst wohl, ich merke nicht, wie du sie versteckst?“
Er kam einen Schritt näher und ruderte mit seinen Armen, um sein Gleichgewicht zu halten.
„Nein, weg, es ist meine Flasche!“, rief sie und stopfte das Täschchen hinter ihren Rücken. Im grellen Gegenlicht erkannte sie nur das Weiße in seinen Augen.
„Zum Teufel damit, und wenn ich nicht aufpasse ist sie leer und du hast alles alleine gesoffen!“
Er streckte seine Arme aus.
„Gib sie mir!“
„Es ist nicht genug da. Wir wissen nicht, wie lange es noch dauert, bis sie uns finden.“
„Vielleicht tot ja, meinst du das?“
Mr. Calahoes Lachen überschlug sich und ging in ein Gurren über, bis er sich plötzlich verschluckte und hässlich hustete. Jetzt sah Lilly seine knallrote, aufgeplatzte Haut und die Bartstoppeln. Lillys Magen verkrampfte sich und ein Stich fuhr ihr ins Gesäß.
„Gib mir das Trinken!“
„Es ist noch zu früh!“
„Du willst es für dich alleine! Denkst wohl, ich hab nicht gesehen, wie du die Flasche versteckst!“
Er packte sie am Knöchel, sehr grob. Lilly hatte keine Zeit, Mr. Calahoes Angriff auszuweichen. Sie versuchte sich loszustrampeln, stieß jedoch gegen ihre Schwellung und verzog schmerzverzerrt das Gesicht. Mr. Calahoes Fingernägel gruben sich noch tiefer um ihr Fußgelenk. Ihr Kleid war dabei nach oben gerutscht, über ihre Schenkel. Mit offenem Mund glotzte er zwischen ihre Beine. Das Schwein starrte auf ihren Slip.
„Nein! Nicht!“
Sie schrie und strampelte ohne auf ihren geschwollenen Knöchel zu achten. Ihr Fuß schnellte mit einer verblüffend harten Entschlossenheit hervor und traf frontal seine Kniescheibe. Es machte ein sehr hässliches Geräusch. Etwas in seinem Knie musste kaputt gegangen sein. Es hörte sich an, wie das Brechen eines Holzbrettchens.
Mr. Calahoe sank schreiend in die Knie. Tränen schossen aus den Augen und sein überraschtes Gesicht schien noch dunkelroter zu werden. Er wankte und machte eine bizarre Körperdrehung, die Hand um sein Knie haltend, und schlug mit dem Gesicht auf den Holzplanken auf. Sein Wimmern hallte über das Meer und Lillys Körper durchfuhr ein Schauer.
„Verdammtes Luder, du hast es mir gebrochen, verdammtes Luder!“
Er zog sich zum Ende des Bootes, wandte sein blutverschmiertes Gesicht ab und schrie auf, wann immer er das getroffene Bein bewegen musste.
Nur langsam entspannten sich Lillys Muskeln und sie öffnete ihre Fäuste, er würde ihr hoffentlich nicht mehr näher kommen.
Es dauerte lange bis sein Jammern weniger wurde. Lilly hatte kein Gefühl mehr für die Zeit. Ein warmer Wind strich durch ihr Haar und sie bemerkte, dass die Sonne sehr tief stand und das Meer glitzerte. Sie öffnete die Schnallen der Tasche, zog die Flasche heraus und schraubte den Deckel ab. Sie blickte ängstlich zu Mr. Calahoe, als sie trank. Süße, kostbare Flüssigkeit rann ihre Kehle hinab und dieser Augenblick währte doch so schmerzlich kurz. „Gott“, dachte sie, „wie sollte sie das nur überstehen?“
Platsch, platsch.
Calahoe drehte langsam seinen Kopf. Lilly blieb achtsam und ließ ihn nicht aus den Augen. Er blinzelte und schützte mit der Hand seine Augen vor dem flachstehenden Sonnenlicht. Sein Blick verharrte in der Ferne. Jetzt entdeckte auch sie den kleinen, schwarzen Punkt am Horizont.
„Sie kommen, sie kommen! Hier sind wir! Hiieeer...“
Lilly schrie und riss die Arme mit letzter Kraft in die Höhe. Ihr Boot schaukelte gefährlich. Lilly reckte sich auf, zerrte das Kleid über den Kopf, um es wie eine Fahne zu schwenken. Auch Calahoe hob jetzt endlich seine Arme und krächzte so laut er konnte.
Vielleicht fünfzehn Minuten, Calahoe kauerte bereits wieder eingesunken am Bootsrand, vielleicht dreißig Minuten, schrie sie sich das Leben aus dem Leib, bis Ihre Kehle unerträglich brannte und bis sie bemerkte, dass das Schiff nicht näher kam, kein winziges Stückchen näher, sondern sich wieder entfernte. Es setzte einfach seinen stinknormalen Weg fort. Bemerkte sie nicht, übersah sie.
„Nein, oh nein, bitte nicht! Hier sind wir doch, hier!“
Lilly stand nach Atem ringend und blickte verzweifelt auf das Rot der im Meer verschwindenden Kugel. Wie konnte es sein, dass sie das kleine umher treibende Boot nicht bemerkten? Der dunkle Punkt am Horizont wurde kleiner und kleiner und verschwand schließlich ganz hinter den schwarzen Wellen.
Lilly weinte und legte sich auf den Boden. Ihr wurde kalt nur in BH und Höschen und sie begann zu zittern und zog das Kleid wieder über. Eine unruhige, windige Nacht brach über sie herein. Einmal wachte sie auf und hörte Calahoes Schluchzen, dann meinte sie, dass der Wind sang. Ja, er sang. Dann schlief sie wieder ein und ein neuer, sengender Tag zog am Horizont auf. Es war der fünfte, wenn sie richtig gezählt hatte.
Klong, klong, klong.
Calahoe schlug dreimal mit seiner Gürtelschnalle gegen den Bootsrand.
Lilly wurde schlagartig aus ihrem Dämmerzustand gerissen und war jetzt hellwach.
„Gib mit die Flasche“, sagte er und sie hatte den Eindruck, dass in seiner Stimme keine List lag.
„Was wollen sie noch? Sie ist doch leer.“
„Dann kannst du sie mir ja geben. Du hast mir schon genug Unheil gebracht.“
Er deutete auf sein lahmes Knie, das er mit seinem Halstuch notdürftig verbunden hatte.
„Mach schon.“
Etwas blitzte in seinen leidenden Augen.
Sie kramte die Flasche aus ihrer Tasche heraus. Ein kleiner Rest von brauner Flüssigkeit klebte noch auf dem Flaschenboden.
Lilly überlegte kurz, schmiss sie ihm dann aber zu. Er sollte es haben. Scheppernd schlug sie auf das Holz vor seinen Füßen.
Er riss die Flasche an sich und leckte gierig die letzten Tropfen heraus.
Dann öffnete er den Knopf seiner Hose und zog seinen Hosenschlitz auf. Lilly biss sich auf die Lippen. Calahoe setzte sich auf, drehte sich seitlich, hielt die Flasche unter den Hosenschlitz und – pinkelte hinein.
Er führte stumm die Flasche an seinen Mund und trank.
Lilly starrte auf die kleine Ritze am Boden. Sie spürte Tränen in ihren Augenwinkeln und zuckte zusammen.
Die Flasche schlug scheppernd vor ihren Füßen auf.
„Piss das nächste Mal da rein. Es ist das Einzige, was es ab sofort noch gibt.“
Sie rührte die Flasche nicht an. Auch nicht, als sie einen leichten Druck in ihrer Blase spürte. Einmal glaubte sie ein Dröhnen zu hören und suchte den grellen Himmel ab.
Platsch, platsch. Doch es war nichts.
Der Mond zog auf und der Wind sang wieder. Das Meer glitzerte silbern.
Lilly zog zitternd die Flasche an sich. Sie tastete in ihrem Höschen und drückte den Flaschenhals dagegen. Dann schloss sie die Augen und entleerte ihre Blase.
Der Urin schmeckte bitter, aber es war nicht so schlimm. Er rann ihre Kehle hinab und löste die trockene Zunge.
Langsam lies sie die Flasche sinken. Sie betete das Vater Unser und schlief ein, ohne es zu beenden. Am Horizont schimmerte bereits der neue Tag. War es der sechste?
Lilly wusste es nicht mehr.
Sie schlief wieder ein und wachte auf. Schlief wieder ein und Mutter beugte sich herab und küsste sie auf die Schläfen und sie roch das Rosenwasser auf ihrer Haut. Lilly wachte erschrocken auf. Es brannte und es wankte, es wurde kalt, bitter kalt und wankte und es wurde wieder dunkel. Sie konnte ihren Mund nicht mehr schließen. Sie versuchte sich zu räuspern, doch es blieb ihr in der Kehle stecken.
Platsch, platsch.
Es ratterte und donnerte. Es wankte und donnerte.
Sie blinzelte in das grelle Licht. Für Sekundenbruchteile meinte sie einen schwarzen Flügelschlag gesehen zu haben. Sie wollte hochschnellen, sich noch ein letztes mal zusammen reißen. Doch ihre Beine gehorchten nicht mehr.
Hubschrauberrotoren. Es donnerte, ja es donnerte und wankte. Ein lauter, warmer Wind stürmte über sie hinweg. Endlich! Sie spürte wie jemand sie anhob und sie lächelte, als es wieder Nacht wurde.
Dieser Tag spie Flammen.
Lilly strich mit ihren schmutzigen Fingern über die schorfigen Lippen und blickte an sich herab. Das Kleid, das so gut ihre kleinen Brüste und schlanken Beine betont hatte (wie sie in endlosen Stunden vor dem Spiegel herausgefunden hatte) klebte an ihrem Körper, fleckig von Salzwasser, Schweiß und getrocknetem Blut. Ihre Oberarme und Schenkel waren übersäht mit Malen und der rechte Knöchel pochte aus der faustgroßen Schwellung. Es war der vierte, glaubte das Mädchen, jedenfalls, wenn es die Wechsel von sengenden Tagen und eiskalten Nachtwinden richtig gezählt hatte.
Immer seltener hob sie den Kopf über den Rand des kleinen Bootes, um nach Rettung Ausschau zu halten, irgendwo am Horizont vielleicht einen winzigen Punkt zu entdecken, der ihr noch Hoffnung machen konnte, nach diesem - sie wusste nicht, wie sie es nennen sollte - etwas, dass sie nur aus Filmen oder Nachrichten von Unglücken fremder Menschen kannte. Dieses etwas hatte vor vier Tagen alles verschlungen, ihre Familie, die Passagiere, die Hochseeyacht mitsamt dem Bootsführer und der Viermannbesatzung. Und nur sie selbst und Mr. Calahoe hatte es auf diesem Rettungsboot zurückgelassen.
Wohin Lilly auch blickte, die Welt um sie herum war Blau, nur die kleinen Wellen glucksten und änderten ständig ihre Form. Der gleißende, weiße Kreis der Sonne stand über ihnen, so als brenne jemand mit einer riesigen Lupe ein Loch in das diesige Himmelsdach, wie in ein Stück Papier. Lilly sehnte sich die Kühle des Abends herbei und schluchzte auf.
Sie krümmte sich und versuchte so gut es ging hinter dem Rand des Bootes Schatten zu finden und überlegte, ob es wohl besser wäre ihren aufgeschürften Knöchel in das Wasser zu halten, um die Schwellung zu kühlen. Doch der Bootsrand war zu hoch und das Sitzen darauf zu anstrengend. Sie kauerte sich noch enger an die Holzplanken und legte das pinke Täschchen, das ihr als einziges geblieben war über das Gesicht.
Er drang in sie ein. Sie bemerkte ihn zuerst in ihrem Hals und daran dass es schmerzte, wenn sie ihre Zunge bewegte. Doch jetzt spürte sie ihn tiefer in ihrem Inneren, in ihrer brennenden Lunge und im Kopf. Der Tod hatte einen Helfer, den Durst - nie hätte sie gedacht, dass man es im Kopf spürte, wenn man verdurstete. Sie würde hier sterben, einschlafen und sterben und nichts mehr spüren. Seltsamerweise musste sie bei dem Gedanken lächeln.
Lilly tastete nach der Colalightflasche in der Tasche und versuchte am Geräusch die Menge der restlichen Flüssigkeit zu schätzen. Ja es war noch da. Nicht mehr viel, aber es war noch etwas da. Sie hatte versucht so gut es ging sparsam zu sein. Ein Schluck jetzt, nur ein kleiner Schluck. Sie drehte vorsichtig am Verschluss und erinnerte sich an das Gefühl, wie das Nass ihre festgeklebte Zunge löste.
Mr. Calahoe am anderen Ende des Holzbootes murmelte vor sich hin, doch sie machte sich nicht mehr die Mühe aufzublicken. Jede Bewegung kostete zu viel Kraft. Seit zwei Tagen sprachen sie nicht mehr viel miteinander. Sei es, weil sie zu schwach waren oder, weil es nichts mehr zu besprechen gab. Er blieb ein Fremder, einer, von vielen flüchtigen Bekanntschaften ihrer Eltern. Ein Fremder jedoch, der sie letzte Nacht beobachtet hatte, wie sie den Slip abgestreift, das Kleid hochgeschoben und ungeschickt versuchte hatte über den Rand zu pinkeln. Das Kleid wurde dabei schrecklich nass. Noch immer wurde ihr ganz fahl im Magen, wenn sie an Calahoes im Mondlicht weiß schimmernden Augen dachte.
Seitdem sprach sie nicht mehr mit ihm, und jetzt gab es sowieso nur noch das Schaukeln und Plätschern und die Glut auf ihrer Haut.
Als Lilly ihre trockene Zunge bewegte, zuckte ein Schmerz durch ihren Gaumen. Kurz öffnete sie die Augen. Mr. Calahoe setzte sich schnaufend auf. Sein Hemd war zerrissen und dreckig. Das Gesicht, besonders sein Nasenrücken und unterhalb der Augen, glänzte rot verbrannt und auf seiner Glatze platzten Hautfetzen ab. Er tastete in der Hosentasche und steckte eine Pille in den Mund. Es knirschte zwischen seinen Zähnen, als er sie grinsend zerbiss. Gott, seit Tagen trieben sie auf diesem Boot, wie ein Stück trockenes Holz und er schluckte einmal täglich seine Herzpillen. Lilly wich seinen Blicken aus. Platsch, platsch. Kleine Wellen schwappten gegen das Holz des Rettungsbootes. Sie schloss die Augen und das monotone Auf und Ab lies sie dahindämmern.
Lilly bemerkte den Schatten über ihrem Gesicht erst sehr spät. Die Helligkeit blendete sie, als sie die Augen aufriss.
„Gib mir die Flasche!“
Mr. Calahoes Stimme klang erschreckend deutlich. Er stand vor ihr, breitbeinig und schwankend. Erst jetzt fiel ihr seine enorme Größe auf. Lilly zog ihre Knie an sich und versuchte sich zu stützen. In ihrem Kopf hämmerte es.
„Denkst wohl, ich merke nicht, wie du sie versteckst?“
Er kam einen Schritt näher und ruderte mit seinen Armen, um sein Gleichgewicht zu halten.
„Nein, weg, es ist meine Flasche!“, rief sie und stopfte das Täschchen hinter ihren Rücken. Im grellen Gegenlicht erkannte sie nur das Weiße in seinen Augen.
„Zum Teufel damit, und wenn ich nicht aufpasse ist sie leer und du hast alles alleine gesoffen!“
Er streckte seine Arme aus.
„Gib sie mir!“
„Es ist nicht genug da. Wir wissen nicht, wie lange es noch dauert, bis sie uns finden.“
„Vielleicht tot ja, meinst du das?“
Mr. Calahoes Lachen überschlug sich und ging in ein Gurren über, bis er sich plötzlich verschluckte und hässlich hustete. Jetzt sah Lilly seine knallrote, aufgeplatzte Haut und die Bartstoppeln. Lillys Magen verkrampfte sich und ein Stich fuhr ihr ins Gesäß.
„Gib mir das Trinken!“
„Es ist noch zu früh!“
„Du willst es für dich alleine! Denkst wohl, ich hab nicht gesehen, wie du die Flasche versteckst!“
Er packte sie am Knöchel, sehr grob. Lilly hatte keine Zeit, Mr. Calahoes Angriff auszuweichen. Sie versuchte sich loszustrampeln, stieß jedoch gegen ihre Schwellung und verzog schmerzverzerrt das Gesicht. Mr. Calahoes Fingernägel gruben sich noch tiefer um ihr Fußgelenk. Ihr Kleid war dabei nach oben gerutscht, über ihre Schenkel. Mit offenem Mund glotzte er zwischen ihre Beine. Das Schwein starrte auf ihren Slip.
„Nein! Nicht!“
Sie schrie und strampelte ohne auf ihren geschwollenen Knöchel zu achten. Ihr Fuß schnellte mit einer verblüffend harten Entschlossenheit hervor und traf frontal seine Kniescheibe. Es machte ein sehr hässliches Geräusch. Etwas in seinem Knie musste kaputt gegangen sein. Es hörte sich an, wie das Brechen eines Holzbrettchens.
Mr. Calahoe sank schreiend in die Knie. Tränen schossen aus den Augen und sein überraschtes Gesicht schien noch dunkelroter zu werden. Er wankte und machte eine bizarre Körperdrehung, die Hand um sein Knie haltend, und schlug mit dem Gesicht auf den Holzplanken auf. Sein Wimmern hallte über das Meer und Lillys Körper durchfuhr ein Schauer.
„Verdammtes Luder, du hast es mir gebrochen, verdammtes Luder!“
Er zog sich zum Ende des Bootes, wandte sein blutverschmiertes Gesicht ab und schrie auf, wann immer er das getroffene Bein bewegen musste.
Nur langsam entspannten sich Lillys Muskeln und sie öffnete ihre Fäuste, er würde ihr hoffentlich nicht mehr näher kommen.
Es dauerte lange bis sein Jammern weniger wurde. Lilly hatte kein Gefühl mehr für die Zeit. Ein warmer Wind strich durch ihr Haar und sie bemerkte, dass die Sonne sehr tief stand und das Meer glitzerte. Sie öffnete die Schnallen der Tasche, zog die Flasche heraus und schraubte den Deckel ab. Sie blickte ängstlich zu Mr. Calahoe, als sie trank. Süße, kostbare Flüssigkeit rann ihre Kehle hinab und dieser Augenblick währte doch so schmerzlich kurz. „Gott“, dachte sie, „wie sollte sie das nur überstehen?“
Platsch, platsch.
Calahoe drehte langsam seinen Kopf. Lilly blieb achtsam und ließ ihn nicht aus den Augen. Er blinzelte und schützte mit der Hand seine Augen vor dem flachstehenden Sonnenlicht. Sein Blick verharrte in der Ferne. Jetzt entdeckte auch sie den kleinen, schwarzen Punkt am Horizont.
„Sie kommen, sie kommen! Hier sind wir! Hiieeer...“
Lilly schrie und riss die Arme mit letzter Kraft in die Höhe. Ihr Boot schaukelte gefährlich. Lilly reckte sich auf, zerrte das Kleid über den Kopf, um es wie eine Fahne zu schwenken. Auch Calahoe hob jetzt endlich seine Arme und krächzte so laut er konnte.
Vielleicht fünfzehn Minuten, Calahoe kauerte bereits wieder eingesunken am Bootsrand, vielleicht dreißig Minuten, schrie sie sich das Leben aus dem Leib, bis Ihre Kehle unerträglich brannte und bis sie bemerkte, dass das Schiff nicht näher kam, kein winziges Stückchen näher, sondern sich wieder entfernte. Es setzte einfach seinen stinknormalen Weg fort. Bemerkte sie nicht, übersah sie.
„Nein, oh nein, bitte nicht! Hier sind wir doch, hier!“
Lilly stand nach Atem ringend und blickte verzweifelt auf das Rot der im Meer verschwindenden Kugel. Wie konnte es sein, dass sie das kleine umher treibende Boot nicht bemerkten? Der dunkle Punkt am Horizont wurde kleiner und kleiner und verschwand schließlich ganz hinter den schwarzen Wellen.
Lilly weinte und legte sich auf den Boden. Ihr wurde kalt nur in BH und Höschen und sie begann zu zittern und zog das Kleid wieder über. Eine unruhige, windige Nacht brach über sie herein. Einmal wachte sie auf und hörte Calahoes Schluchzen, dann meinte sie, dass der Wind sang. Ja, er sang. Dann schlief sie wieder ein und ein neuer, sengender Tag zog am Horizont auf. Es war der fünfte, wenn sie richtig gezählt hatte.
Klong, klong, klong.
Calahoe schlug dreimal mit seiner Gürtelschnalle gegen den Bootsrand.
Lilly wurde schlagartig aus ihrem Dämmerzustand gerissen und war jetzt hellwach.
„Gib mit die Flasche“, sagte er und sie hatte den Eindruck, dass in seiner Stimme keine List lag.
„Was wollen sie noch? Sie ist doch leer.“
„Dann kannst du sie mir ja geben. Du hast mir schon genug Unheil gebracht.“
Er deutete auf sein lahmes Knie, das er mit seinem Halstuch notdürftig verbunden hatte.
„Mach schon.“
Etwas blitzte in seinen leidenden Augen.
Sie kramte die Flasche aus ihrer Tasche heraus. Ein kleiner Rest von brauner Flüssigkeit klebte noch auf dem Flaschenboden.
Lilly überlegte kurz, schmiss sie ihm dann aber zu. Er sollte es haben. Scheppernd schlug sie auf das Holz vor seinen Füßen.
Er riss die Flasche an sich und leckte gierig die letzten Tropfen heraus.
Dann öffnete er den Knopf seiner Hose und zog seinen Hosenschlitz auf. Lilly biss sich auf die Lippen. Calahoe setzte sich auf, drehte sich seitlich, hielt die Flasche unter den Hosenschlitz und – pinkelte hinein.
Er führte stumm die Flasche an seinen Mund und trank.
Lilly starrte auf die kleine Ritze am Boden. Sie spürte Tränen in ihren Augenwinkeln und zuckte zusammen.
Die Flasche schlug scheppernd vor ihren Füßen auf.
„Piss das nächste Mal da rein. Es ist das Einzige, was es ab sofort noch gibt.“
Sie rührte die Flasche nicht an. Auch nicht, als sie einen leichten Druck in ihrer Blase spürte. Einmal glaubte sie ein Dröhnen zu hören und suchte den grellen Himmel ab.
Platsch, platsch. Doch es war nichts.
Der Mond zog auf und der Wind sang wieder. Das Meer glitzerte silbern.
Lilly zog zitternd die Flasche an sich. Sie tastete in ihrem Höschen und drückte den Flaschenhals dagegen. Dann schloss sie die Augen und entleerte ihre Blase.
Der Urin schmeckte bitter, aber es war nicht so schlimm. Er rann ihre Kehle hinab und löste die trockene Zunge.
Langsam lies sie die Flasche sinken. Sie betete das Vater Unser und schlief ein, ohne es zu beenden. Am Horizont schimmerte bereits der neue Tag. War es der sechste?
Lilly wusste es nicht mehr.
Sie schlief wieder ein und wachte auf. Schlief wieder ein und Mutter beugte sich herab und küsste sie auf die Schläfen und sie roch das Rosenwasser auf ihrer Haut. Lilly wachte erschrocken auf. Es brannte und es wankte, es wurde kalt, bitter kalt und wankte und es wurde wieder dunkel. Sie konnte ihren Mund nicht mehr schließen. Sie versuchte sich zu räuspern, doch es blieb ihr in der Kehle stecken.
Platsch, platsch.
Es ratterte und donnerte. Es wankte und donnerte.
Sie blinzelte in das grelle Licht. Für Sekundenbruchteile meinte sie einen schwarzen Flügelschlag gesehen zu haben. Sie wollte hochschnellen, sich noch ein letztes mal zusammen reißen. Doch ihre Beine gehorchten nicht mehr.
Hubschrauberrotoren. Es donnerte, ja es donnerte und wankte. Ein lauter, warmer Wind stürmte über sie hinweg. Endlich! Sie spürte wie jemand sie anhob und sie lächelte, als es wieder Nacht wurde.