Bleichgesichter

Ich muss fröhlich sein, ich darf nicht mit hängenden Mundwinkeln durch die Straßen schleichen. Niemand trägt Verantwortung an meinem Leben, nur ich selbst. Niemand ist Schuld daran, dass ich mutterseelenallein in B. rumhocke, ohne Arbeit, ohne Freunde, ohne Wissen um meine Zukunft. Es macht mir nichts aus, an die Türen der Agenturen zu klopfen und mich mit schelmischen Lächeln darzubieten. Natürlich bin ich auf Ablehnungen gefasst, reundlich, aber bestimmt. Macht gar nichts, Mädchen, es gibt ja noch so viel Arbeit in dieser riesengroßen Stadt. Wenn nur die langen Wege nicht wären, sie rauben mir maßlos Zeit! Überall das Gleiche: „Wir sind leider schon besetzt.“ Natürlich, niemand wartet tagelang darauf, dass mal jemand vorbei kommt, der ein paar Texte zurecht zimmern kann. Zudem klopft es täglich an die zehn Mal.

Stell dir einfach vor, du hast es selbst so entschieden! Wo ist deine Abenteuerlust? Wo ist deine Gier nach Leben? Wo ist dein Selbstbewusstsein hin? Die Einladung in den Sender war deprimierend. Nein, eigentlich war sie lächerlich. Zunächst ließ mich mein Gesprächspartner beinahe eine halbe Stunde warten, dann lehnte er sich dick zurück und stopfte sich eine Pfeife. Nebenbei befragte er mich nach meinen Arbeitsstationen. Ich senkte meine Stimme und erzählte drauf los. Ruhig, damit er mir folgen konnte, mit Intonation, damit er sich begeisterte. Zwischendurch führte er zwei Telefonate. Es fiel mir nicht schwer, den Faden wieder aufzunehmen, klangen doch meine letzten Worte wie ein süßer Gospel nach. Als ich geendet hatte, lehnte sich der Mittsechziger über seinen leeren Schreibtisch und sagte: Erstens haben Sie keine hörfunkjournalistische Ausbildung und zweitens sind Sie für einen Quereinstieg zu alt. Ich konnte nicht lachen, obwohl es aus mir heraus wollte. Aber die nüchterne, aufgeräumte Umgebung ließ mich plötzlich erkennen, dass, selbst wenn dieser selbstgefällige Kerl mir gegenüber sich dazu herab ließe, mir Arbeit zu verschaffen, dass ich unter seiner Schwerfälligkeit gar nicht hätte arbeiten wollen. Und können auch nicht. Jede Kreativität, jede Eigenverantwortung würde im Keim erstickt werden, dessen war ich mir sicher.

Ich nahm also rasch meine Sachen und verabschiedete mich ohne Umschweife. Er sagte noch, dass er meine Unterlagen behalten wolle, Radioarbeit sei einer großen (!, das heißt starken, du Tölpel!) Fluktuation unterlegen, und man wüsste ja nie, in zwei Wochen würde vielleicht gerade so etwas wie mich gebraucht. So etwas wie mich! So etwas unqualifiziertes. Altes. Als was? Als Sondersendung? Ich hatte den Verdacht, dass er sich so eine Art geistige Selbstbefriedigung hatte verschaffen wollen und ich sagte: Verschlucken Sie sich nicht!

R. konnte mir auch nicht die Laune heben. Insgeheim machte ich ihm zum Vorwurf, mit viel zu hoher Erwartung in dieses Gespräch gegangen zu sein. Immerhin war er sich seiner Sache so sicher gewesen, hatte mir sogar eine Stelle beim Fernsehen prophezeit. Das sagte ich ihm schließlich. Dass er nur ein großes Mundwerk habe und sich nicht all zu sehr für mich stark gemacht hätte. Er war beleidigt. Natürlich war er beleidigt. Was hat er mit meinem Leben zu tun? Was kann er dafür, dass ich keine vernünftige Ausbildung habe? Welchen Vorwurf mache ich ihm? Dass ich zu alt bin? Oder der Typ mir gegenüber einfach zu selbstgefällig war? R. ist für nichts, was ich tu oder unterlasse, was ich schaffe oder verderbe, für nichts, was mir widerfährt im geringsten verantwortlich.

Ich muss es lernen, mich selbst zu befragen, mich selbst anzuzweifeln, ich bin nicht unfehlbar und ersetzbar in jedem Fall. Siehe mein Privatleben.

J. hat mir nicht den Traumzauberwald genommen, nicht meine Sicherheit, nicht meinen Job. Er hat mich nicht in eine WG gezwungen, in eine mir fremde und unwirtliche Stadt ohne Jahreszeiten. Nein, er half mir aus der Bequemlichkeit. Er eröffnete mir neue Chancen. Ohne ihn zwar, doch hätte ich mein Leben beschließen wollen so jung an Jahren, zwischen Quecken und Brennnesseln hockend und schreibend über Wald und Wiesen und unstillbare Träume? Aber was sind meine Träume? Welche Wünsche sollen sich erfüllen?

Da, wo ich bin, da will ich nicht bleiben und das Andere ist immer viel verlockender, als das Hier und Jetzt.

Die Wohnung ist so schrecklich still. Manchmal habe ich Angst, verrückt zu werden. Wenn ich alleine wohnte, würde ich mich wahrscheinlich irgendwann aufgeben. Es würde damit anfangen, dass ich morgens nicht mehr aufstehe oder nur noch im Nachthemd herum laufe. Ich würde nur zum Essenholen auf die Straße gehen und das auch nicht sehr weit, der Kaufmann ist gleich an der Ecke. Ich würde nur noch rauchen und trinken und irgendwann anfangen zu stinken. Aus meinem Fenster kann ich die Tauben beobachten. Bis das Glas eines Tages ganz blind wäre von Schmutz und getrocknetem Regen. Dann würde es immer dunkler werden in meinem Zimmer. Ich würde mich nicht mehr zurecht finden, denn das Licht ist längst abgeschaltet worden - die Stromrechnungen habe ich lange nicht bezahlt. Werde ich auch nie wieder. Denn heute sterbe ich. Genau in dem Augenblick, als mein Mann an mich denkt und mir übers Internet eine Website postet, auf der ein wunderschönes Penthouse abgebildet ist. Er schreibt dazu: „Wenn ich im Jackpot gewinne, dann schenke ich dir diese Wohnung. Da würdest du dich gut drin machen.“

Ich mache gar nichts mehr. Doch, ein Letztes. Ich sterbe.
 
A

annabelle g.

Gast
liebe katrin, schön, jemanden zu lesen, der so gut schreiben kann wie du.
den letzten absatz würde ich auseinanderziehen und den letzten satz "Ich sterbe" weglassen.

Ich mache gar nichts mehr.
Doch, ein Letztes.

schöne grüße, annabelle
 



 
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