Blick in den Spiegel

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Blick in den Spiegel
Die Worte seiner Freundin hallten noch in ihm nach, als Fernaut die Eingangstüre aufschloss. Wenn du selbst an der Unsterblichkeit deiner Seele zweifelst, dann kann auch ich dir nicht helfen. Er drückte den Lichtschalter im Hausflur. Die trübe Beleuchtung der nackten Birne schuf mehr Schatten, als sie verbannte. Fernaut schnaubte leise, als er den Briefkasten öffnete und beim Anblick der Werbeblätter angewidert wieder schloss.
Warum verstand sie nicht, dass er verflucht war und sich trotz seiner Schuld nur frei und lebendig fühlte, wenn er nachts als Werwolf durch die Wälder lief, nicht denken, nicht fühlen musste? Wenn er nicht ständig die erstarrten Augen seiner Frau vor sich sah, nachdem er ihr mit einem Prankenhieb die Kehle zerfetzt hatte? Er war ein Monster. Und dennoch trieb es ihn jede Nacht wieder hinaus.

Fernaut stieg die ausgetretenen Stufen zu seiner Wohnung im 4. Stock hinauf. Das Holz protestierte stöhnend unter dem Gewicht seiner Schritte. Es war kalt in der Wohnung. Durch ein geöffnetes Fenster war der Autolärm der Straße zu hören. Hatte er eine Seele? Warum sonst plagten ihn ständig Alpträume, in denen er einzig von der Leidenschaft getrieben wurde, zu jagen und zu töten – und Gefallen daran fand? Als Mensch konnte er mit seiner Schuld nicht leben, wusste nicht, wohin mit seiner Trauer. Aber schaudernd erinnerte er sich an die nächtlichen Beutezüge, wenn er hemmungslos seinem Jagdtrieb nachgab, die unbändige Energie seines Wolfkörpers spürte, die Anziehung des Mondes, die in seinem Innern Funken zu schlagen schien.
Im Schlafzimmer starrte er auf sein Spiegelbild, erhellt vom fahlen Mondlicht, das durch das Dachfenster einfiel. Was siehst du?
Der große kräftige Mann mit den schwarzen Haaren und dem grimmigen Blick unter zusammengezogenen Augenbrauen gab keine Antwort. Fernaut ging näher, bis sein Atem das Bild vernebelte.
Wer bist du?
Urplötzlich erschienen Schatten, die über die Zimmerwände und die Decke wanderten und im Spiegel verschwanden. Eiseskälte stieg in Fernaut empor, fesselte seine Füße an den Boden. Sein Verstand weigerte sich zu begreifen, was seine Augen erfassten: Sein Spiegelbild war verschwunden und aus den Schatten entstanden Umrisse, formten sich zu einem unförmigen Klumpen.
Wie in Zeitlupe bildeten sich Konturen: dünne Beine, ein ausgezehrter Rumpf, magere Arme mit langen Fingern und scharfen, gebogenen Krallen. Graues Fell bedeckte den ganzen Körper. Fernaut wollte schreien, die Augen schließen. Er konnte sich nicht bewegen, starrte auf sein Spiegelbild, das doch nicht seines war? Der Kopf nahm Gestalt an, die spitzen Ohren. Die lange schmale Schnauze war halb geöffnet und zeigte rasiermesserscharfe Reißzähne, von denen der Speichel troff. Das entsetzlichste Bild formte sich zum Schluss: der durchdringende Blick aus eiskalten, rotglühenden Augen, der wie mit nadelspitzen Dolchen auf Fernaut einstach, seine Eingeweide zu zerreissen schien. Nichts Menschliches war in diesem Blick, nur böse Raserei, kalte Fressgier, Schatten und Blut.
Ein bestialischer Verwesungsgestank durchzog mit einem Mal den Raum und Fernaut musste würgen.
Die Schnauze des Werwolfs öffnete sich noch weiter, die grauenhafte Gestalt im Spiegel schien sich zu schütteln, Fernaut starrte auf die Erscheinung und hoffte, betete, dass dies nur wieder ein Alptraum sei.
Die maßlose Angst, zu einem seelenlosen Ungeheuer zu werden, war nie so real gewesen wie in diesem Augenblick. Und dann erfüllte ein Grollen den Raum, ein tiefes, unmenschliches Knurren und der Bann schien gebrochen: Fernaut taumelte rückwärts und schrie, doch die Schatten verschluckten seine Schreie und wie an unsichtbaren machtvollen Fäden gezogen richtete er seinen Blick wieder auf die toten Augen des Monsters im Spiegel. Diese Ausgeburt der Hölle knurrte nicht mehr – sie sprach zu ihm und Fernaut verstand sie!
„Du bist, was du fürchtest!“
„Nein!!“ Fernaut packte einen kleinen metallenen Tisch und schleuderte ihn mit aller Kraft in den Spiegel.
„Verschwinde!“
Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte völlige Stille, dann zersprang der Spiegel mit ohrenbetäubendem Krachen in Millionen Splitter, die durch das Zimmer flogen. Fernaut blieb mit gesenktem Kopf schweratmend stehen. Los! Schau hin, du Feigling! Es war nur ein Alptraum!
Langsam hob er den Kopf, sein Blick erfasste den leeren Holzrahmen und die Erleichterung ließ ihn zitternd in die Knie sinken. Er konnte den Straßenlärm wieder hören.
Als er die Gewalt über seine Beine wiedererlangt hatte, stand er auf, um das Fenster zu schließen - und sah in der Spiegelung der Scheibe eine riesige, zottige Gestalt mit rotglühenden Augen auf sich zukommen.
 

flammarion

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