Blickfang (überarbeitet)

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Anonym

Gast
Blickfang

„Guck’ da nicht so hin, das geht dich nichts an!“ hätte meine Mutter gesagt. Oder: „Kümmere dich um deinen eigenen Kram!“ Das hat sie nie.

Ein Kind, kein Kind … Mein Blick verschwimmt schon wieder.
Ich versuche ihn auf das alte Fabrikgebäude zu zwingen, das mich seit Jahren fangen kann. Besonders im Frühling, wenn die Luft noch kühl und leer ist, muss ich Stunden lang auf meiner Bank sitzen und die Ruine auf der anderen Seite des Kanals betrachten. Sie wirkt so seltsam friedlich, klar.
Sie lässt es leiser werden.
Doch heute will sie meinen Blick nicht halten.

Als ich wieder zur Seite schaue, hat sich der Abstand zwischen dem Mädchen und dem Mann vergrößert. Da ist ein Kind, ich sehe es. Kein Ich, ein Kind. Ganz sicher.
Es liegen bereits gut zehn Meter zwischen ihnen, als der Mann sich kurz umdreht und der Kleinen etwas zuruft. Ich kann es nicht genau verstehen, es klingt wie: „Dann bleib’ doch hier, ich gehe weiter.“
Nur einen Augenblick später kommt ein großer Hund aus dem Graben geschossen. Ein Hund, kein Kind? Er läuft von hinten auf den Kerl zu, ich denke Vorsicht! Hund!, da streckt der Mann die Hände aus, umfasst den Kopf des Hundes. „Brav.“ Ein Hund.
Meine Hände umkrallen die Kante der Sitzfläche. Feste.

Das Tier ist fort, da steht das Mädchen wieder.
Was immer auch passiert, nach vorne schauen!
Nun dreht der Mann sich wieder um und ruft: „Ich zähle jetzt bis drei!"
Mein Blick verliert sich. Sterben.
Ein Kind, ich, Kind, ich ...
„Eins …“
Kümmere dich …
„Zwei …“
... um deinen Kram!
„Drei!“
Der Mann läuft auf die Kleine zu. Nicht ich, kein Hund. Mein Blick, ihr Blick, voll Angst und Trotz. Erwartung. Jetzt ist er da, holt aus, sie taumelt, fällt, er schlägt und tritt, der Hund, er spielt, sie schaut mich an, ich greife nach Metall, muss schützen. Leben.



Freitag, 11.06.2010
Vermisst wird ein 34-jähriger Mann, der mit seinem Hund am Kanal unterwegs war. Von beiden fehlt seit Dienstag Abend jede Spur.
 

Anonym

Gast
Blickfang

„Guck’ da nicht so hin, das geht dich nichts an!“ hätte meine Mutter gesagt. Oder: „Kümmere dich um deinen eigenen Kram!“ Das hat sie nie.

Ein Kind, kein Kind … Mein Blick verschwimmt schon wieder.
Ich versuche ihn auf das alte Fabrikgebäude zu zwingen, das mich seit Jahren fangen kann. Besonders im Frühling, wenn die Luft noch kühl und leer ist, muss ich Stunden lang auf meiner Bank sitzen und die Ruine auf der anderen Seite des Kanals betrachten. Sie wirkt so seltsam friedlich, klar.
Sie lässt es leiser werden.
Doch heute will sie meinen Blick nicht halten.

Als ich wieder zur Seite schaue, hat sich der Abstand zwischen dem Mädchen und dem Mann vergrößert. Da ist ein Kind, ich sehe es. Kein Ich, ein Kind. Ganz sicher.
Es liegen bereits gut zehn Meter zwischen ihnen, als der Mann sich kurz umdreht und der Kleinen etwas zuruft. Ich kann es nicht genau verstehen, es klingt wie: „Dann bleib’ doch hier, ich gehe weiter.“
Nur einen Augenblick später kommt ein großer Hund aus dem Graben geschossen. Ein Hund, kein Kind? Er läuft von hinten auf den Kerl zu, ich denke Vorsicht! Hund!, da streckt der Mann die Hände aus, umfasst den Kopf des Hundes. „Brav.“
Meine Hände umkrallen die Kante der Sitzfläche. Feste.

Das Tier ist fort, da steht das Mädchen wieder.
Was immer auch passiert, nach vorne schauen!
Nun dreht der Mann sich wieder um und ruft: „Ich zähle jetzt bis drei!"
Mein Blick verliert sich. Sterben.
Ein Kind, ich, Kind, ich ...
„Eins …“
Kümmere dich …
„Zwei …“
... um deinen Kram!
„Drei!“
Der Mann läuft auf die Kleine zu. Nicht ich, kein Hund. Mein Blick, ihr Blick, voll Angst und Trotz. Erwartung. Jetzt ist er da, holt aus, sie taumelt, fällt, er schlägt und tritt, der Hund, er spielt, sie schaut mich an, ich greife nach Metall, muss schützen. Leben.



Freitag, 11.06.2010
Vermisst wird ein 34-jähriger Mann, der mit seinem Hund am Kanal unterwegs war. Von beiden fehlt seit Dienstag Abend jede Spur.
 

Anonym

Gast
Blickfang

„Guck’ da nicht so hin, das geht dich nichts an!“ hätte meine Mutter gesagt. Oder: „Kümmere dich um deinen eigenen Kram!“ Das hat sie nie.

Ein Kind, kein Kind … Mein Blick verschwimmt schon wieder.
Ich versuche ihn auf das alte Fabrikgebäude zu zwingen, das mich seit Jahren fangen kann. Besonders im Frühling, wenn die Luft noch kühl und leer ist, muss ich Stunden lang auf meiner Bank sitzen und die Ruine auf der anderen Seite des Kanals betrachten. Sie wirkt so seltsam friedlich, klar.
Sie lässt es leiser werden.
Doch heute will sie meinen Blick nicht halten.

Als ich wieder zur Seite schaue, hat sich der Abstand zwischen dem Mädchen und dem Mann vergrößert. Da ist ein Kind, ich sehe es. Kein Ich, ein Kind. Ganz sicher.
Es liegen bereits gut zehn Meter zwischen den beiden, als der Mann sich kurz umdreht und der Kleinen etwas zuruft. Ich kann es nicht genau verstehen, es klingt wie: „Dann bleib’ doch hier, ich gehe weiter.“
Nur einen Augenblick später kommt ein großer Hund aus dem Graben geschossen. Ein Hund, kein Kind? Er läuft von hinten auf den Kerl zu, ich denke Vorsicht! Hund!, da streckt der Mann die Hände aus, umfasst den Kopf des Tieres. „Brav.“
Meine Hände umkrallen die Kante der Sitzfläche. Feste.

Der Hund ist fort, da steht das Mädchen wieder.
Was immer auch passiert, nach vorne schauen!
Nun dreht der Mann sich wieder um und ruft: „Ich zähle jetzt bis drei!"
Mein Blick verliert sich. Sterben.
Ein Kind, ich, Kind, ich ...
„Eins …“
Kümmere dich …
„Zwei …“
... um deinen Kram!
„Drei!“
Der Mann läuft auf die Kleine zu. Nicht ich, kein Hund. Mein Blick, ihr Blick, voll Angst und Trotz. Erwartung. Jetzt ist er da, holt aus, sie taumelt, fällt, er schlägt und tritt, der Hund, er spielt, sie schaut mich an, ich greife nach Metall, muss schützen. Leben.



Freitag, 11.06.2010
Vermisst wird ein 34-jähriger Mann, der mit seinem Hund am Kanal unterwegs war. Von beiden fehlt seit Dienstag Abend jede Spur.
 
Hallo Anonymous,

eben erst habe ich deinen Text hier entdeckt und mit Spannung gelesen. So gern hätte ich ihn mit dem alten verglichen, doch er ist ja leider gelöscht. Dies kommt jedenfalls sehr geheimnisvoll rüber, irgendwie nicht so hart wie vorher. Trotzdem hat die Geschichte nichts von der unheilvollen Spannung verloren. Mir gefällt, dass du geschrieben hast: der Hund spielt. Das gibt der gefährlichen Situation etwas Groteskes.

Ganz lieben Gruß,
Estrella
 

Anonym

Gast
Hallo Estrella,

vielen Dank für Deine erneute Rückmeldung. Du schreibst, der Text sei weicher geworden. Kannst Du sagen, woran Du das festmachst? Ich dachte, er sei so zumindest etwas klarer.

Danke und viele Grüße

A.
 
Ja, er ist klarer. Ich hätte so gern den ersten Text noch mal gelesen, damit ich vergleichen kann. Dann könnte ich dir sagen, was ich meine. Es ist einfach noch das Gefühl von der ersten Geschichte bei mir da, ich kann es jedoch so nicht benennen.

Lieben Gruß,
Estrella
 



 
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