Blind

Pandora

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Ich ging. Ich drehte mich einfach um, warf meine roten Locken in den Nacken und GING.
Da stand ich nun mit nassem Haar, feuchtem Auge und gepackten Koffern. Ich kann nicht sagen, daß mein Leben immer reibungslos verlaufen wäre – weiß Gott nicht. Aber ich wußte immer, wann es Zeit war zu gehen.
Genau wie jetzt.
Ich bin 36 Jahre alt, gelernte Hausfrau und Mutter. Ohne Heim und ohne Job stehe ich nun hier draußen im Regen, vor dem Haus, in dem ich mit Antonia und Martin 18 Jahre meines so langweiligen Lebens verbracht habe.
Deprimiert? Nein, deprimiert bin ich wirklich nicht. Ich bin frei, frei wie ein Vogel. Ich fühle mich, als hätte man mir nach Jahren die Gefängnistür geöffnet und meine Fußkette mit der großen Eisenkugel, die am anderen Ende befestigt war, abgenommen.
Deprimierend ist nur, daß erst einer kommen mußte, der die Türklinke betätigte, während ich all die lange Zeit nicht bemerkte, daß sie nie verschlossen war. Deprimierend ist auch, daß ich nie versucht habe, es herauszufinden. Natürlich ist mir auch nicht aufgefallen, daß die vermeintliche Eisenkugel in Wirklichkeit aus Pappe war. DAS ist deprimierend.
Ich führte das Leben einer biederen Hausfrau. Doch das war nicht immer so.
Ich lernte Martin auf der Geburtstagsparty meiner besten Freundin kennen. Ich naive 16 Jahre alt, er 22.
Es war eine verdammt schöne Zeit.
2 Jahre torkelten wir wie frisch verliebt durch unsere kleine, rosarote Welt; haßten und liebten uns, stritten und lachten. Und natürlich hatten wir auch hervorragenden Sex. Nicht daß ich irgendwelche Vergleichsmöglichkeiten hatte, denn immerhin war Martin der erste, mit dem ich das Land der sexuellen Lust erforschte. Trotzdem. Es war grandios. Wir taten es oft – nein, wir taten es ständig, eigentlich immer, an jedem erdenklichen Ort. Selbst als ich mit 18 schwanger wurde, tat das seinem Verlangen nach mir keinen Abbruch.
Obwohl ich mich noch zu jung fühlte für ein Kind, beschlossen wir trotzdem es zu bekommen. Damit auch alles seine Ordnung hat, haben wir natürlich auch kurz vor Antonias Geburt geheiratet. Aus dem Draufgänger und zärtlichen Liebhaber Martin wurde ein liebevoller Vater und aufopfernder Ehemann – so dachte ich zumindest damals. Und aus dem kleinen Mädchen, daß ich einst war, daß gerade erst begonnen hatte, die süßen Früchte des Lebens zu kosten, wurde die Person die ich jetzt bin.
Langweilig und fad. Der einst so zarte Körper wurde runder und runder. Haare wie Drahtseile, lieblos zusammen gesteckt, das sexuelle Verlangen eines Regenwurms.
Ich haßte mich, mein Leben und vor allem meinen Mann.
Während ich zu Hause saß, den Haushalt schmiß, mich um Antonias und natürlich Martins Belange kümmerte, nebenbei bei einem alten perversen Sack putzen ging (da ich ja nichts gelernt hatte), begann irgendwann mein ach so aufopferungsvoller Ehemann, der immer so viele Überstunden machte, fremd zu gehen. Selbstverständlich hab ich davon nie etwas geahnt, geschweige denn gemerkt.
Bis gestern abend. Gestern wurden mir meine Augen auf brutale Weise geöffnet.
Martin kann wie immer erst weit nach Mitternacht nach Hause. Ich war noch wach und las irgendeinen schwachsinnigen Artikel in einem noch schwachsinnigerem Magazin. Ich merkte sofort, daß irgend etwas nicht stimmte. Sicherlich war Martin schon öfters angetrunken nach Hause gekommen. Auch war es bestimmt nicht das erste Mal, daß er wie ein Vertreter für exotische Duftwässerchen roch. Ich glaube, es waren seine Augen. Ich weiß nicht, wann ich diesen Ausdruck zum letzten Mal gesehen oder wahrgenommen habe, auf jeden Fall mußte es schon eine Ewigkeit her sein. Früher sah ich dieses Feuer öfters in seinem Blick. Aber es ist schon so lange her, daß ich es nicht mehr mit Gewißheit sagen kann.
Er kam auf mich zu. Sein Gang war von leichten, kaum sichtbaren Gleichgewichtsstörungen geprägt. Sein Gesicht war nur noch wenige Millimeter von meinem entfernt. Seine Lippen öffneten sich leicht, erholte tief Luft, hielt kurz inne und sagte dann mit einem - wie ich glaubte zu hören- Unterton von Ironie in seiner Stimme zu mir:
„Baby, ich will dich ficken.“
Geschockt von diesen so nüchtern und lieblos ausgespienen Worten, drehte ich mich weg. Ich denke, daß auch sein Geruch nach billigem Fusel ein Grund dafür war. Ich dachte, er würde - wie sonst wenn ich mich von ihm abwand, was ich so viele Jahre geübt hatte- sich wortlos seiner Kleidung entledigen und sich auf seine Seite des Bettes verkriechen. Leider blieb ich damit heute abend im Unrecht
Keine Ahnung, wie lange wir dieses Spiel schon spielten. Ein Jahr? 10 Jahre? Ein Jahrhundert? Ich wußte es nicht und es war mir egal.
Plötzlich riß mich sein Schreien aus meinen Gedanken. Ja, er brüllte mich an.
Ich versuchte es zu ignorieren, wie immer, diesmal aber erfolglos. Denn er kniete sich vor die Seite unseres Bettes, die meine war, nachdem das Samuraischwert der Routine es erbarmungslos mit der Leichtigkeit einer Kreissäge in 2 unsichtbare Hälften zertrennt hatte.
Martin nahm mein in Laufe der vergangen Jahre rund gewordenes, marmorisiertes Gesicht in seine früher so zärtlich gewesenen Hände.
„Vera, ich hasse dich!“ Er spuckte mir die Worte förmlich ins Herz. Mein fragender Blick schien ihn noch wütender zu machen. „Deine Gleichgültigkeit, dein Desinteresse und deine schlecht verborgene Ablehnung machen mich krank. Seit Jahren habe ich dich nicht mehr lachen gesehen. Wann hatten wir zum letzten Mal Sex?“ Ich holte Luft und setzte gerade zu einer Antwort an „ich denke, das w......“, als mich sein Brüllen unterbrach. „Nein, Vera“ schrie er weiter. „Liebling, brüll doch nicht so. Ich bin sicher wir können ganz ruhig und sachlich darüber reden“ versuchte ich einzulenken. Ich verstand ihn nicht. Warum brüllte er so herum? Glaubte er ich sei taub? Warum war er so sauer? Vielleicht hatte er Streß in seiner Firma. Mit Sicherheit. Wer bis 1 Uhr nachts arbeitet.....
„Nein“ brüllte er wieder, ungeachtet dessen, was ich ihm vor 2 Sekunden sagte.
„Ich meine richtigen Sex, Sex der Spaß macht. Sex bei dem ich nicht das Gefühl habe, nekrophil zu sein und die Frau unter mir tot. Orgasmus. Wann hattest du deinen letzten Orgasmus? ... Natürlich, beim Sex mit mir. Sag nichts. Ich weiß, daß du es selbst nicht weißt.“ Immerhin wurde seine Stimme langsam leiser und ruhiger.
„Vera, ich weiß nicht, warum ich immer noch bei dir bin. Vielleicht weil ich noch nicht vergessen habe, wie es einmal zwischen uns war. Aber glücklich sind wir schon lange nicht mehr.“
‚Was du nicht sagst, Liebling‘ dachte ich stumm. Er hielt mein Gesicht immer noch fest in seinen Händen. Ich war mir sicher, daß seine Fingerabdrücke am nächsten Tag noch deutlich zu erkennen sei würden und daß daran selbst ein Kilogramm Schminke nichts ändern konnte.
„Siehst du mich überhaupt an?“ fragte er mich, als ob ihm erst jetzt auffiel, daß ich die ganze Zeit durch ihn hindurch schaute. Den Gedanken, daß es ihm vielleicht wirklich erst in diesem Moment klar wurde, verwarf ich im selben Augenblick.
„Kannst du dich noch an Sabine erinnern?“ 1000 Fragezeichen entstellten mein Gesicht. Sabine? Welche Sabine? „Wieso auch? Du bist garantiert noch nie auf den Gedanken gekommen, daß ich dich betrügen könnte, nicht wahr?“
Langsam dämmerte es in den verkorksten, abstumpfen Hirnwindungen meines Verstandes. Sabine, die kleine Blondine mit Pamela- Anderson-Format aus seiner Firma. Deshalb hatte sie mich auf der Betriebsfeier ständig so unverhohlen angegrinst. Und ich dumme Gans dachte, das läge an meiner Figur und den Kleid, daß ich trug, welches wohl bemerkt wahrscheinlich eher einem Zelt aus Seide glich.
Was er als nächstes sagen würde, war selbst für eine Frau wie mich (auch wenn ich mich schon lange nicht mehr als solche fühlte) nicht schwer zu erraten. „Drei Jahre..“ Er stockte. Schweigen.
Erstaunt stellt ich fest, daß es mich nicht überraschte. Mehr noch, es verletzte mich noch nicht einmal wirklich. Doch irgend etwas geschah in diesem Moment mit mir. Irgendein längst vergessener Schalter, der verloren durch mein Liquor* schwamm, wurde umgelegt. Ich war wie ausgewechselt, nicht mehr ich selbst.
Wie sonst war es zu erklären, daß ich folgendes sagte:
„Ok, Liebling. Ich bin froh, daß du es mir gesagt hast. Ich bewundere deine Aufrichtigkeit.“ Nun bildeten die 1000 Fragezeichen, die noch kurz zu vor mein Gesicht verzerrten, häßliche, unattraktive Narben auf Martins Gesicht. Erstaunt erlöste er mein Mondgesicht von der fordernden Umklammerung seiner Hände. Mit allem hatte er gerechnet, nur damit nicht.
Ich hingegen mußte unwillkürlich grinsen. „Nachdem wir das nun geklärt haben, können wir ja das tun, mit dem unsere Aufklärungsgespräch begonnen hat.“
Martin war sprachlos. Und ich? Ich wollte Sex. Harten, wilden, erbarmungslosen Sex.
Ich war mir nicht sicher, wie er reagieren würde. Vielleicht würde er wieder anfangen zu brüllen. Vielleicht würde er total ausrasten, auf mich einschlagen und ich würde in einem Jahr in einem völlig fremden Krankenhausbett aufwachen und mich fragen, wer ich bin. Möglicherweise würde er auch einfach nur laut loslachen. Ich war wirklich auf alles gefaßt. Jede Reaktion hatte ich erwartet. Allerdings reagierte Martin zu meinem Entsetzen überhaupt nicht. Er stand vor mir wie eine altgriechische Büste.
„Liebling, was ist los?“ fragte ich kleinlaut. Immer noch keinerlei Reaktion. Was hatte ich angerichtet? Hatte er womöglich einen Schock erlitten? Oder einen Herzinfarkt und nun nicht mehr die nötige Kraft einfach tot umzufallen? Ich mußte etwas unternehmen. Ich ging auf ihn zu und küßte ihn. Immerhin mußte ich ja irgendwas tun, versuchte ich mir selbst Mut zu machen.
Erleichtert stellte ich fest, daß er weder einen Herzinfarkt noch einen Schock hatte, denn er erwiderte meinen Kuß.
In mir flammten plötzlich tot geglaubte, längst unter dem Schutt des Alltagsfrust begrabene Gefühle auf. Ich genoß diesen Kuß und zog Martin auf das Bett. Was dann folgte bedarf keiner großen Worte. Wir liebten uns auf eine Weise, die uns Flügel verlieh. Ich fühlte mich wie 17, damals auf dem Rücksitz des alten Opel.
Wenn Martin mich jetzt fragen würde, wann ich meinen letzten Orgasmus hatte, würde die Antwort mit
Leichtigkeit aus mir heraus sprudeln. Nur bei der Frage, wie viele es in diesem heißen Akt der Ekstase waren, müßte ich passen. 4 postkoitale Zigaretten später schliefen wir Arm in Arm ein. Ich fühlte mich wie eine Sexgöttin.


Als ich vorsichtig die Augen öffnete, um herauszufinden, ob die letzte Nacht nur eine Mißbildung verworrenerer Träume war, hatte die Sonne bereits einen Schleier aus gleißendem Licht über den Raum gelegt. Martin lag nicht mehr neben mir. Dafür stand er in der Mitte des Schlafzimmers – mit einem Tablett in der Hand und einer Rose im Mund. Ich lachte.
Wir nahmen gemeinsam das liebevoll von Martin zubereitete Frühstück im Bett zu uns und redet über alte Zeiten. Plötzlich sprudelte es einfach aus ihm heraus: „ Vera, ich bin so glücklich, so froh, dich endlich wieder zu haben. Ich habe eben mit Sabine telefoniert und ihr gesagt, daß es aus ist. Vera, Liebling..“ dabei nahm er wieder mein Gesicht in seine Hände, aber diesmal so zärtlich, daß es mir eine Gänsehaut bescherte.
„Vera, ich möchte dich nie wieder verlieren. Und es tut mir so leid. Ich liebe dich!“ Sanft berührten seine Lippen meinen Hals. Doch so schön, wie diese Nacht auch war, wie gerne ich glauben würde, daß wieder alles so wird, wie es einmal war, so wußte ich auch, daß es – selbst wenn es wirklich so käme- nicht von Dauer sein würde.. Nichts ist für die Ewigkeit – außer der Tod. Genau deswegen mußte ich das tun, was ich mir in den Kopf gesetzt hatte. Mein Entschluß war gefaßt, auch wenn noch längst nicht alle Zweifel ausgemerzt waren. Endlich würde ich das tun, wovor ich seit dem Bestand meiner Ehe solche Angst hatte. Ich würde anfangen, zu leben; das tun, was ich schon lange hätte tun sollen; was für mich am besten wäre. Endlich ist Dornröschen aufgewacht und bereit, aus ihrer Kiste zu steigen. Die Frage ist nur, wie ich es ihm möglichst schonend beibringen sollte.
„Martin,...“ begann ich unsicher. „Ich kann nicht. Glaub mir, es war eine wundervolle Nacht. Sie hat mir die Augen geöffnet und ich liebe dich. Aber ich muß es tun. Ich muß gehen. Vielleicht haben wir so irgendwann eine zweite Chance. Es tut mir leid. Sei mir bitte nicht böse.“ Sprachlos und verwirrt ließ ich Martin im Bett zurück, allein gelassen mit den Scherben unserer Ehe.
Ich ging ins Bad und duschte mindestens eine halbe Stunde. ‚Tue ich das Richtige? Vielleicht würde doch alles anders werden?‘ bohrte sich die Unsicherheit vermischt mit einer Prise Selbstzweifel in meinen Kopf. „Nein“ sagte ich mir laut. Ich bin nicht mehr naive 16, sondern 36 Jahre. Ich muß endlich aufstehen, bevor ich so fett wie eine indonesische Elefantenkuh bin und mein Gehirn vor lauter Fettsucht nicht mehr klar denken kann. Ich mußte diesen Schritt jetzt gehen, um nicht für den Rest meines Lebens in meinem selbstaufgebauten Gefängnis vor mich hin zu vegetieren.
Wortlos packte ich mein wichtigstes Hab und Gut zusammen. Ich verabschiedete mich von Antonia, die alt genug war, um zu verstehen, daß ich das Richtige tat und die sowieso mehr Zeit bei ihrem Freund verbrachte als bei uns. Martin stand den Tränen nahe in der Tür, versuchte etwas zu sagen, doch seine Stimme versagte. Er brauchte nichts zu sagen. Ein inniger Abschiedskuß nahm ihm jene unausgesprochenen Sätze, während seine Tränen meine Wangen hinunter glitten.
Ich ging. Ich drehte mich einfach um, warf meine roten Locken in den Nacken und GING.




* Liquor = Gehirnflüssigkeit


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