Blind wie Tango.

pleistoneun

Mitglied
Heute Nacht Buenos Aires. Uniformhemden gebügelt, kleine weiße Handtücher aus dem Hotelzimmer gestohlen, den Mate-Tee in die Thermosflasche abgefüllt, Pass, Kleingeld, Blindenschleife, ach ja, Tangoschuhe eingepackt. Er würde im 'El Beso' abgeholt. Endlich wieder die blinden Augen schließen, sich anlehnen und führen lassen können. Zwei Welten, blind und verloren. Ein Tanz. Ein Tango er wäre wieder zweisam. Doch bis dahin noch viele fremde Stimmen. So viele Stimmen. Die, die man wiedererkennt, sieht man nicht. Sie sagen es mir. Ich kenne Sie. Wissen Sie noch? Nein, fremde Stimme. Sicher sehe ich ihm nur ähnlich. Wir tragen doch alle die gleiche Uniform. Er kann mein Gesicht gar nicht erkennen. Nur seine Tangopartnerin kann es. Sie sieht ihn, wie er ist. Er ist blind, kann nicht sehen, wie sie ihn sieht. Sie führt ihn. Tangostimmen erkennt man wieder. Es sind immer dieselben. Sie gleichen sich. Werden älter, aber man erkennt sie wieder. Eine große Familie. Man rückt auf der Tanzfläche zusammen. Heute Nacht wird er von ihrem Gesicht träumen, er wird es sich vorstellen, wenn er vorsichtig den Wein einschenkt oder den Apfelsaft oder die Kopfschmerztablette holt oder die Spucktüte. Und plötzlich vergisst er ihr Gesicht. Dann ist sie verschwunden. Er vergisst sie. Wer ist sie? Es fällt ihm auf der Tanzfläche wieder ein. Ihr Gesicht. Wenn er die blinden Augen schließt. Sich an ihre Tangoschulter lehnt. Sich führen lässt und wieder blind sein darf.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
boh eh,

da läuft es einem ja kalt den rücken runter. also, du beherrschst dein handwerk! ganz großes lob von
 

soleil

Mitglied
Hallo pleistoneun,

Deine Geschichte liest sehr gut. Mir gefällt die Stimmung, die Du erzeugst und die klare, schnörkellose Sprache.

Viele Grüße
Soleil
 



 
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