Blinder Passagier

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joecec

Mitglied
Blinder Passagier


Es herrschte rege Betriebsamkeit auf dem Rollfeld in Karatschi. Zahid war einer von sechs Millionen, auf das Jahr gerechnet, aber davon wusste er nichts. Er hockte zwischen den Koffern und sah dem Mann mit den Streifen auf den Schultern des strahlend weißen Hemdes zu, wie er auf das riesige Flugzeug blickte und scheinbar verstand, was er da betrachtete. Der Mann nickte einem anderen zu, der neben einem Schlauch stand, dann stieg er in die Maschine.

Zahid wusste nicht, wann ein guter Moment war, konnte aber auch nicht länger warten. Er rannte so schnell er konnte und musste nicht einmal in die Knie gehen, zwischen den großen Reifen. Nachdem der Schlauch entfernt war, machte Zahid sich daran, an dem glatten Stahl mit den wenigen Haltemöglichkeiten emporzuklettern. Ein paar Mal hing er nur mit den Fingern an einer Art Griff oder mit der Hand einige Bolzen umklammernd da und glaubte, gleich loslassen zu müssen, weil es in Armen, Händen und Fingern schmerzte wie beim Färben der Hosen, für die sein Distrikt bekannt war.

Der Schweiß tropfte ihm von der Stirn, als er endlich in seinem Versteck saß. Hier war mehr Platz, als er erwartet hatte. Da hätte seine Schwester auch noch hineingepasst. Jetzt war es zu spät, sie zu holen, aber er würde den Eltern schreiben, wie leicht es war, in ein besseres Leben zu klettern. Ach, viel besser als das, würde er ihnen Geld schicken, damit sie allesamt im Flugzeug sitzen und sich Orangi Town von oben ansehen konnten, wie es kleiner wurde und schließlich verschwand. Für immer.

Die Reifen begannen, erst zögerlich, dann immer schneller, über den Asphalt zu reiben, als wollten sie Zahid zwingen, die Hände von den umklammerten Vorsprüngen zu lösen, um seine Ohren zu bedecken. Er schrie gegen den Lärm an und gegen die Furcht, die seine Brust umklammerte, kaum dass die Reifen den Kontakt zur Erde verloren hatten. Es wurde dunkel, nachdem sich das stählerne Ungetüm vor den Ausgang gelegt und die Klappen sich geschlossen hatten. Zahid wusste nicht, wie lange es nach Europa dauerte. Er wusste auch nicht, wie lange er schon dahockte, zitternd, nicht aus Furcht, nur der Kälte wegen.

Er wäre jetzt gerne beim Großvater gewesen, oben in Chitral, wo er herkam. „Geht nur“, hatte der Großvater gesagt, „es gibt kein größeres Loch als Orangie Town auf der Welt.“ Er war auf seinem Hof geblieben, meinte, mit den Taliban werde er schon fertig, die seien nicht halb so schlimm wie der Abschaum in den Slums, aus denen noch nie jemand zurückgekehrt sei. Zahid würde auch nicht zurückkehren, aber er würde auch nicht darin sterben. Schon gar nicht an der Farbe, den ätzenden Bleichmitteln und dem stinkenden Wasser, in dem seine Mutter die Kleider der Familie wusch. Er wollte wieder in die Schule. Sein Hals war trocken und seine Hände steif.

In Istanbul machte die Maschine einen Zwischenstopp. Das Bündel, welches über das Rollfeld kullerte, entpuppte sich als eines mit Armen und Beinen, wenn auch nicht sehr langen. Man konnte es daran hochheben und mit geringem Aufwand in einem Sack verpackt nach Pakistan schicken. Blinde Passagiere waren keine Flüchtlinge und Pakistan ein sicheres Herkunftsland, also tauchte Zahid in keiner Statistik auf, die irgendwen interessiert hätte. Seine Familie musste für die Überführung und die Beerdigung aufkommen. Der Kredit für beides nagte einige Jahre am Auskommen seiner Eltern und der Schwester. Wenn Zahid das gewusst hätte, wäre er vielleicht geblieben.

Von Istanbul nach Köln brauchte die Maschine gute drei Stunden. Es gab Gin Tonic und ein mittelmäßiges Abendessen. Die Passagiere applaudierten dem Piloten und ein bisschen auch den Errungenschaften der Zivilisation, die all das hervorgebracht hatte.
 
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Rehcambrok

Gast
Guten Appetit, allen sozialen Christen in Bayern! >Klasse<
 

Blumenberg

Mitglied
Hallo Joyce,

mir hat deine, wie ich finde, recht unprätentiös erzählte Geschichte gut gefallen. Bei so einem Thema passiert es häufig, dass ein Autor zu sehr ins Moralisierende oder Reißerische verfällt. Den Eindruck habe ich bei deinem Text nicht, gut so! So entsteht trotz der Kürze eine eindrückliche Geschichte, die einen zum Nachdenken anregt.

Eine Kleinigkeiten ist mir noch aufgefallen:

An einer Stelle heißt es:

Ach, viel besser als das, würde er ihnen Geld schicken, damit sie allesamt im Flugzeug sitzen
zwei Absätze weiter unten:

Er wollte wieder in die Schule.
Beide Motive scheinen einander ein wenig zu widersprechen. Außerdem taucht das Motiv Schule und Bildung nur an dieser einen Stelle recht unvermittelt auf und spielt ansonsten keine Rolle. Da du deinen blinden Passagier als weitgehend bildungslos charakterisierst, könntest du darüber nachdenken den Satz zu streichen.

Beste Grüße

Blumenberg
 

joecec

Mitglied
Hallo Blumenberg, mit dem Streichen dürftest du recht haben. Die Geschichte war ein Wettbewerbsbeitrqg und auf 600 Wörter begrenzt. In einer längeren Version wäre da sicher was gegangen.

Danke fürs Lesen und Kommentieren. Euch beiden!
 



 
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